Aktuelle
Themen

Aktuelle
Themen

Geht so sächsisch? – Hoffentlich nicht mehr lange

„Bautzen – wir müssen reden!“ – Am Freitag, 8. Februar 2019, strömten über 800 Menschen in die Maria-und-Martha-Kirche in Bautzen, um miteinander zu reden, zumindest um anzuhören, was diejenigen, die sich an der Diskussion beteiligt haben, zu sagen hatten. Auf Youtube kann sich jeder die Veranstaltung ansehen: https://www.youtube.com/watch?v=msjYev0ulN8. Eingeleitet wurde der Abend durch zwei kurze Voten: eines von Annalena Schmidt, einer engagierten Neubürgerin und Bloggerin, die mit ihren Beiträgen das gesellschaftliche Leben in Bautzen kritisch kommentiert; und ein Votum des Bauunternehmers Jörg Drews (Hentschke Bau), der aufgrund seiner florierenden Firma (700 Beschäftigte) in der Stadtgesellschaft eine starke Stellung einnimmt und mit der AfD und anderen rechten Gruppierungen sympathisiert. Während Annalena Schmidt sachlich ihr Demokratieverständnis und die Chancen und Grenzen des Dialogs mit Rechtsnationalisten darlegt, betont Jörg Drews, dass er ein „wirklicher Bautzener“ ist, welche Verdienste er sich als Unternehmer für die Stadt Bautzen erworben hat, und outet sich schließlich als „besorgter Bürger“. Wenig überraschend, dass der an sich fahrige, eitle Beitrag von Drews bejubelt wird.

Das eigentlich Aufschlussreiche an diesem Abend waren dann weniger die einzelnen Wortbeiträge als vielmehr das Verhalten eines großen Teils des Publikums in der Kirche. Die waren offensichtlich in der Absicht in die Kirche geströmt, um aus der Veranstaltung ein Tribunal über eine Bürgerin zu machen, die ihrer Meinung nach in Bautzen nichts zu suchen hat. Da wurde jeder Beitrag, mit dem Annalena Schmidt verunglimpft wurde (das gipfelte in dem Anwurf „Wer sind Sie? Gehen Sie wieder!“ und in der Frage, mit welchem Recht Frau Schmidt, die erst seit knapp vier Jahren in Bautzen lebe, für den Stadtrat kandidiere) mit frenetischem Beifall bedacht. Einen traurigen Höhepunkt erreichte die Veranstaltung schon in Minute 15. Annalena Schmidt betont auf dem Hintergrund einer Kontroverse zwischen Landrat Michael Harig (CDU) und OBM Alexander Ahrens (SPD) über die Teilnahme an der umstrittenen Verleihung des Bautzener Friedenspreises an den CDU-Politiker Willy Wimmer, dass in unserem Land Meinungsfreiheit herrsche. Um das zu unterstreichen, zitiert sie Artikel 5 Abs. 1 des Grundgesetzes: „Jeder hat das Recht, seine Meinung in Wort, Schrift und Bild frei zu äußern und zu verbreiten und sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert zu unterrichten. Die Pressefreiheit und die Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film werden gewährleistet. Eine Zensur findet nicht statt.“ Wie reagieren große Teile des Publikums? Höhnisches Gelächter und tumultartige Buhrufen. Das Zitat eines Grundrechtsartikels wird von Hunderten Menschen in einer Kirche mit brachialer Ablehnung bedacht.

An dieser kurzen Szene wird das eigentliche Problem Sachsens überdeutlich: Die über Jahrzehnte in allen gesellschaftlichen Bereichen vernachlässigte politische und Demokratiebildung hat zum Ergebnis, dass viel zu viele Bürger/innen überhaupt kein Verhältnis zu den Grundrechtsartikeln des Grundgesetzes, zur parlamentarischen Demokratie, zum Rechtsstaat und zur Meinungs- und Pressefreiheit haben. Das ist auch die Ursache dafür, dass immer dann, wenn das heutige „System“, sprich: die freiheitliche Demokratie, mit DDR-Verhältnissen gleichgesetzt wird, dies mit viel Beifall bedacht wird. Ebenso findet der, der behauptet, in Deutschland werde die Presse zensiert, ganz viel Zustimmung. So geschehen bei der Verleihung des Bautzener Friedenspreises am 30. Januar 2019 (siehe https://www.youtube.com/watch?v=x9CmTVjllMw). Psychologisch gesehen spielt sich etwas sehr Typisches ab: Man versucht die entwertete Vergangenheit zu retten/zu rehabilitieren, indem man die gegenwärtigen Verhältnisse diskreditiert. Doch dadurch zerstört man beides.

Dass es so weit gekommen ist, ist auch das Ergebnis einer Politik, die in den ersten 20 Jahren nach der Friedlichen Revolution gerade in Sachsen den Aufbruch zur Demokratie hat verkümmern lassen, den Rechtsextremismus verdrängt und allein dadurch gefördert und salonfähig gemacht hat. Gleichzeitig wurde den Menschen suggeriert: Wir sorgen für Euch. Ihr braucht euch nicht um Opposition oder Meinungsstreit oder politische Beteiligung zu kümmern. Das stört und ist nur lästig. Die CDU und „König“ Kurt Biedenkopf werden alles richten. Diese Selbstherrlichkeit ist nun krachend gescheitert. In den vergangenen 10 Jahren ist überdeutlich geworden, dass auch Sachsen sich als Teil Europas verstehen muss, dass Vielfalt wächst, dass die sozialen Probleme nach Lösungen schreien, dass der ländliche Raum der demokratischen Erneuerung bedarf. Mehr noch: In Bautzen wurde am vergangenen Freitag klar, dass es für alle angestauten Probleme nur einen Lösungsweg gibt: dass wir in einen streitigen Neuaneignungsprozess der Demokratie eintreten – aber in den Rahmenbedingungen unserer Verfassung, des Grundgesetzes. Wo dies geschieht, werden die Rechtsnationalisten nicht mehr viel beizutragen und zu sagen haben, weil ziemlich alles, was sie von sich geben, den Grundwerten der Verfassung widerspricht und vor allem nichts beiträgt zu einem gerechten Zusammenleben. So werden diejenigen, die alles Fremde ausschalten wollen und deren Nationalismus sich mit einem krankhaften Lokalchauvinismus paart, langsam verstummen. Insofern könnte die viele Menschen schockierende Veranstaltung in Bautzen einen durchaus hoffnungsvollen Wendepunkt markieren.

19 Antworten

  1. Danke, lieber Christian, für Deine Empörung wider dem Blog-Antipode.
    Ich würde es im Falle, beträfe es Dich oder andere seriöse Blog-Beteiligte, nicht anders tun.
    Aber sei getrost:
    ein Mensch, der sich verbal derartig vergreift, offenbart letztlich eine konkrete Geistesverfassung, mit der man schwerlich „Staat“ machen kann.
    Gott sei Dank weiß ich um menschliche Größen, mit denen es längst gut tut zu kommunizieren.
    Alles andere zählt nicht! Mit lockerer Fröhlichkeit Dir herzliche Grüße – Dein Jo

    PS
    am 23.Februar 2019 wird es eine Demonstration in Dresden-Loschwitz geben zum existentiellen Dauer-Thema: Flüchtlinge / Für die Seenotrettung. Veranstalter sind die Initiative Weltoffenes Loschwitz (Dresden) und die Mission Lifeline. Es wird u.a. darauf hingewiesen, dass die Dresdner Seenotrettungsinitiative Mission Lifeline und Lifeline-Kapitän Claus-Peter Reisch 2019 den Lew-Kopelew-Preis für Friedens- und Menschenrechte erhalten.
    Es sei hiermit nebenbei bemerkt, dass diese Kundgebung ggf. für AS eine empfohlenere Bildungsreise sein könnte, als sich im Hauptquartier der NATO zu tummeln, ganz abgesehen davon, wie nötig es immer wieder erscheint, doch mal die Nase in den Osten dieser Bundesrepublik zu stecken. Eine solche niveauerhöhende Bildungsreise lohnt allemal! Vorausgesetzt, man lässt sich darauf ein…

  2. Lese ich da einen verzweifelten Aufschrei nach Einhaltung der Knigge-Regeln? Erkenne ich vielleicht sogar eine gewisse Doppelmoral? Es tut mir sehr leid, daß Sie Bauchschmerzen haben, lieber Herr Wolff. Und glauben Sie mir: Mein Friedensangebot an Jedermann in diesem blog gilt, aber es bedeutet eben, daß auch mir gegenüber von jeglichen persönlichen Anfeindungen abgesehen werden und stattdessen auf Argumente eingegangen werden muß, was Sie ja in Ihrer Anwort erneut nicht tun. Die Regeln des Barons von Queensberry gelten entweder für alle oder gar nicht – das gehört wohl auch zur „Kulturberatung“.
    Ich grüße Sie kampfes- oder kompromißbereit sehr herzlich,
    Andreas Schwerdtfeger

  3. Wie Sie doch, lieber Herr Wolff – ganz abgesehen von unserem eher albernen Papagei – immer am Thema vorbei argumentieren! Die Frage, die Sie mit Ihrem Ausflug in die Sicherheitspolitik im vorherigen Beitrag aufgeworfen hatten im Zusammenhang mit der INF-Problematik, war, wie man Frieden herstellt. Mein Argument ist, daß man dies nicht mit der Bergpredigt (so schön sie ist) sondern nur mit projizierbarer Macht machen kann, sei diese diplomatisch, wirtschaftlich oder militärisch – und daß es wohl meistens so sein wird, daß man eine Kombination aus allem braucht. Daß die Politik aus Mangel an klaren strategischen Zielen oder aus Mangel an innenpolitischer Überzeugungs- oder Durchsetzungskraft diesen Mittelmix falsch dosiert oder nicht überzeugend einsetzt, ist dann erst eine zweite Frage. Und während man über diese Letztere glänzend streiten kann, unterliegt die erstere eigentlich keinem Zweifel. Gerade die Wende der 1989/90er Jahre zeigt dies überzeugend, denn auch Gorbatschow hätte ohne den Hintergrund der amerikanischen und NATO-Macht (wirtschaftlich und militärisch) sein Imperium wohl nicht so leicht aufgegeben-
    Und ein zweites ist auch klar: Wer denjenigen, die realistischerweise eben zur Lösung globaler Probleme grundsätzlich auch militärische Mittel als Voraussetzung für nötig halten, Kriegstreiberei oder Freude am Krieg oder sonst eine grundsätzliche Gewaltbereitschaft unterstellt, ist entweder dumm oder böswillig (es steht außer Frage, welcher der beiden letzten Beiträge in welche Kategorie fällt).
    Ich grüße Sie (und natürlich auch meinen Papagei, dem ich danke, daß er ohne mich zu zitieren schon gar nicht mehr kann),
    Andreas Schwerdtfeger

    1. Nur unter Bauchschmerzen schalte ich diesen Kommentar frei – letztmalig. „alberner Papagei“ – das ist absolut unter der Gürtellinie. Geht gar nicht und erfordert eine Entschuldigung. Christian Wolff

  4. „Was mir an Bildungsreise in die Lausitz fehlt, fehlt Ihnen an Bildungsreise zur NATO – Ihr Niveau sollte höher sein. Argumentieren wir doch lieber!
    Ich grüße Sie,
    Andreas Schwerdtfeger“
    Lieber Christian:
    um das Bildungsniveau der Ostdeutschen und auch Deines zu qualifizieren, wird eine Bildungsreise zur NATO empfohlen, um am Ende argumentationsreifer zu sein – großartig diese Idee.
    Abgesehen von der Arroganz und Selbstherrlichkeit des Adressaten erhebt sich die Frage, was das soll. Wir haben 1989 Frieden geschaffen ohne Waffen, Pfarrer in der ehemaligen DDR schafften es, den Konziliaren Prozess nach Dresden zu holen, Ökumenische Versammlungen in Leipzig und Dresden in St. Thomas, St. Nicolai und der Dresdner Kreuzkirche haben lange vor und dann eben im Herbst 1989 ohne Gewalt ein militärisch hochgerüstetes SED-Regime abdanken lassen. Und der Warschauer Pakt verlor dann auch irgendwann recht rasch jedwede Bedeutung, wobei übrigens dieser und jener NVA-Offizier, der Jahre zuvor den Bonner Ultra und das gesamte Westmilitär mit russischen Panzern hinwegfegen wollte, dann plötzlich ganz friedlich in der Bundeswehr seine neue geistige Heimat fand…).
    Also Niveauerhöhung durch einen Ausflug zur NATO – eine sehr bemerkenswerte Idee, was meinst Du ??
    Ich grüße Dich – Dein Jo.Flade

    1. Lieber Jochen, wenn schon Ausflug, dann dorthin, wo die NATO ihre Einsätze hat, um vor Ort zu sehen, was dort zerstört wird und was erhalten bleibt – um vor Ort zu prüfen, wie denn mit Krieg Frieden geschaffen werden kann und wie die Bilanz aussieht: Verhältnis von Einsatz (Milliarden an Rüstung) und Ertrag. Und dann reden wir weiter. Allein im Blick auf Afghanistan müsste es jedem, der bis jetzt militärische Interventionspolitik befürwortet, dämmern, dass darauf kein Segen liegt. Beste Grüße Dein Christian

  5. … und „gerechte Teilhabe an Bildung, Einkommen, Arbeit“, lieber Herr Wolff, ist zunächst und in erster Linie die Verantwortung des Einzelnen, wie sie ja auch von den vielen Leistungsträgern in unserem Lande wahrgenommen wird. Der Staat hat dafür VORAUSSETZUNGEN zu schaffen; es ist dagegen nicht seine Aufgabe, diese Voraussetzungen gleich durch weitgestreute Gießkannenleistungen unnötig zu machen und zu ersetzen.
    Und natürlich sind die populistischen Linken in unserem Lande ebenso gefährlich wie die populistischen Rechten: Ob sie den Staat und die Demokratie nun durch Nationalismus isolieren oder durch Sozialismus aushöhlen und in die Insolvenz treiben, ist wohl ziemlich egal – und die rechte und linke Gewalt in unserem Lande (mal hier, mal dort etwas mehr) hält sich ja auch die Waage.
    Und schließlich: Was mir an Bildungsreise in die Lausitz fehlt, fehlt Ihnen an Bildungsreise zur NATO – Ihr Niveau sollte höher sein. Argumentieren wir doch lieber!
    Ich grüße Sie,
    Andreas Schwerdtfeger

  6. Ich wohne nun nicht mehr in Sachsen und habe mir auch nur die erste halbe Stunde der Diskussion angeschaut. Was sich mir zuerst erschloss: Auch wenn Frau Schmidt in vielem ganz richtig liegt, so ist doch ihre Sprache nicht die, die in Bautzen gesprochen wird, sie spricht die Sprache der Kultur-, Kommunikations- und Sozialwissenschaftler, auf diese Sprache warten aber die wenigsten in Bautzen und auch nicht in den beiden Dörfern hier in Thüringen in denen ich lebe und arbeite. Meine Beobachtung bei der letzten Bundestagswahl, das heißt bei der Auswertung der Wahlkreisergebnisse (da kommt man ganz nah an die Situation in jedem Dorf) ist, dass überall dort, wo Handwerker, Bauern und andere im Dorf verwurzelte Leute über ein stabiles moralisches Fundament verfügen, wo volkskirchliche Strukturen mit aufgeklärtem Denken sich verbinden, hatten AfD und Linkspartei nicht diesen starken Stand, den wir befürchteten. Es haben eben viele Leute das Wahlrecht, die eine einfache Sprache bevorzugen, und das müssen wir aushalten. Das ist übrigens schon lange so, hat sich aber früher in starker Wahlverweigerung geäußert.

  7. Wie schön, lieber Herr Wolff, daß wir hier in gleich mehreren Aussagen übereinstimmen:
    – Sie bemängeln zu Recht das hämische Lachen nach dem Zitat durch Frau Schmidt des Art 5 GG – hier auf Ihrem blog gibt es einen, der sich bei jeder Meinungsäußerung Andersdenkender nur „vor Lachen ausschüttet“ und wir kritisieren ihn also beide (auch wenn die Demokratie das locker aushalten kann);
    – Frau Schmidt und auch der Moderator fordern bereits in ihren Eingangsstatements, daß sachlich und argumentativ diskutiert werden solle und daß andere Meinungen legitim seien. Sie bestätigen das zwar nicht ausdrücklich, aber der Tenor Ihres Beitrages unterstützt das ja. Also doch Knigge – wenn es jemand anders als ich fordert – wie schön (denn diese kniggehafte Toleranz ist Bedingung für unsere Demokratie);
    – Sie haben Recht, daß die Aussage, unsere Medien seien zensiert, Unsinn ist. Das allerdings widerspricht nicht meiner Aussage, daß unsere Medien aus eigener Initiative unglaublich manipulativ sind, daß sie leider ein Interesse an Sensationalisierung, Hysterisierung und Personalisierung haben und insofern häufig – nicht immer – demokratieschädigend wirken. Aber dies ist ein Problem, das die Demokratie um ihrer selbst willen aushalten muß.
    Was nun Biedenkopf angeht, so sollten Sie anerkennen – was Sie ja sicherlich auch tun –, daß er und die CDU in drei aufeinander folgenden Wahlen deutlich mehr als 50% erzielten und daß die CDU auch nach Biedenkopf und unter sehr viel diversifizierteren Umständen stets deutliche Mehrheiten in Sachsen erzielte. Das ist also wohl das, was die Wähler wollten. Daß Sie dann kritisieren, daß „ … (g)leichzeitig … den Menschen suggeriert (wurde): Wir sorgen für Euch. Ihr braucht euch nicht um Opposition oder Meinungsstreit oder politische Beteiligung zu kümmern. Das stört und ist nur lästig“, ist wahrhaft lustig, wo es doch – siehe jetzt auch wieder den neuen Schwung der SPD – das sozialistische Kernmotto ist, den Menschen im Sozialstaat bis zur Unkenntlichkeit zu entmündigen. Die CDU hat Sachsen auf den heutigen Stand eines modernen Bundeslandes mit hohem Potential gebracht; sie hat – wie es überall in der Republik auch nicht anders ist – die Bildung einer rechten Flankenpartei nicht verhindern können, was wir gemeinsamen bedauern. Es kommt im kommenden Wahlkampf eigentlich darauf an, daß SPD und CDU GEMEINSAM diese Partei ebenso wie die populistische LINKE bekämpfen mit ihren unrealistischen Verdummungsthesen auf beiden Seiten – stattdessen werden sie sich wohl gegenseitig als Gegner ausmachen – und so beide verlieren.
    Es ist ja das augenblickliche Dilemma der SPD und der „Die Linke“: Sie bewegen sich immer noch im Klassenkampf zwischen Kapitalismus und Sozialismus, der – zumindest in Deutschland und weitgehend im Westen – längst zugunsten des allgemeinen Wohlstands entschieden ist (was nicht heißt, daß es Ausnahmen gibt). Die heutige Auseinandersetzung findet statt – die augenblicklichen Wahlergebnisse spiegeln es wider – zwischen Kapitalismus und Klima, wobei der Kapitalismus die Mittel erwirtschaften muß, die das Klima kostet. Hierzu braucht man Leistungsträger und nicht Sozialstaatsabhängige, hierzu braucht man Investitionen anstatt konsumptiver Maßnahmen und hierzu braucht man finanzielle Spielräume und nicht Schulden. Und der Wettbewerb zwischen Kapitalismus und Klima wiederum ist der Grund für die Notwendigkeit vernünftiger und sachlich vertretbarer Kompromisse zugunsten, aber eben auch zu Lasten beider Ziele. Es ist immer sehr spaßig, wenn diegleichen Leute, die unentwegt neue Sozialstaatsmaßnahmen für die riesige Armutsarmee in Deutschland erfinden und als „der Gerechtigkeit geschuldet“ verkaufen, gleichzeitig die Strom- und Mobilitätspreise hochtreiben; wenn sie die zunehmende Zahl an „Tafeln“ bedauern und gleichzeitig behaupten, der Kunde sei schon bereit, „etwas mehr zu zahlen“, wenn die Kost ökologisch sei; etc. Da können leider sowohl die Rechten wie die Linken nur allzu gut ansetzen.
    Bautzen ist eine schöne Stadt, ebenso wie Dresden, an das man heute besonders denkt. Man kann den Bürgern nur zurufen, daß bei allem Ärger über die Populisten beider Seiten – noch ist die LINKE in Sachsen ja stärker als die AfD – Sachlichkeit und Toleranz, Zuhören und Mäßigung, Anerkennung anderer Meinungen (die sich aber nicht in tumbem Lachen sondern in klugen Worten äußern), Knigge in der Form und Konsensbemühen in der Sache langfristig siegen werden.
    Mit freundlichem Gruß,
    Andreas Schwerdtfeger

    1. Lieber Herr Schwerdtfeger, ich empfehle Ihnen eine politische Bildungsreise nach Sachsen, insbesondere ins Osterzgebirge und in die Lausitz. Vor allem aber empfehle ich Ihnen, doch etwas genauer zu lesen: Mit keinem Wort habe ich bestritten, dass die CDU unter Kurt Biedenkopf von der Mehrheit der Wähler/innen demokratisch gewählt wurde und dass sich Sachsen in dieser Zeit wirtschaftlich stark entwickelt hat. Das ändert aber nichts daran, dass in dieser Zeit die politische und Demokratiebildung sträflichst vernachlässigt wurde, der aufkommende Rechtsextremismus verharmlost und die Biedenkopf und die CDU absolutistische Züge angenommen haben. Auch ist es völlig abwegig, die LINKE und die rechtsnationalistische AfD auf eine Stufe zu stellen. Damit wird der massive Rechtsextremismus in Sachsen (und anderswo) nur verharmlost. Ebenso werden nur die Klischees der 60er/70er Jahre bedient, wenn Sie die sozialen Initiativen der SPD als „Klassenkampf zwischen Kapitalismus und Sozialismus“ bezeichnen. Es geht um sozialen Zusammenhalt in unserer Gesellschaft. Zu dieser gehören alle Menschen, die hier leben. Also: das Thema ist nicht Ausgrenzung, sondern Beteiligung – und zwar gerechte Teilhabe an Bildung, Einkommen, Arbeit. Beste Grüße Christian Wolff

  8. Lieber Herr Wolff,
    als gebürtiger Bautzener hat mich dieser Abend natürlich auch sehr interessiert. Paradigmatisch fand ich die Rede der Reiseleiterin („Jetzt rede ich“), die bedingt durch ihren Beruf ein wenig in der Welt herum kommt und dabei merkt, dass die Leute auf Bautzen gar nicht gut zu sprechen sind. In ihrem gekränkten sächsischen Stolz meint sie, in Frau Schmidt die Schuldige gefunden zu haben und macht sie zum Sündenbock. Es wird noch eine Weile dauern, bis sie merkt, dass sie und viele andere eine klare Haltung gegen rechtsextreme Ideologien einnehmen müssen, damit der Ruf von Sachsen wieder ihren Wünschen entspricht. Ein Problembewusstsein als erster Schritt ist aber nun schon vorhanden. Das Eindrucksvolle daran, die Rückmeldungen über Bautzen kommen nicht von angeblich manipulierten Leuten, sondern von den Kunden, von denen sie lebt. Deren Auffassungen kann sie nicht ignorieren.
    Hilfreich war in diesem Zusammenhang der Tipp von einem Herrn Schneider in der zweiten Hälfte der Veranstaltung, der allen Bautzenern riet, einmal für ein halbes Jahr aus Sachsen raus zu gehen, um die Dinge mit einer veränderten Weise sehen und anzupacken zu können. Ich hoffe, dass sich die geplanten weiteren Veranstaltungen in diese Richtung entwickeln. Lehrreich und wirksam ist das Format dank Internetverfügbarkeit auf jeden Fall, eine gute Form, Menschen Demokratie nahe zu bringen.

  9. Meiner Erfahrung nach sind die rechten „Rattenfänger“ doch sehr an Stammtischen und in Bauwagen erfolgreich, weil dort oft das entsprechen grob uninformierte Klientel dafür sitzt. Wenn man bedenkt, daß hier ein sog. Baulöwe die „große Wahrheit“ verkündet, dann weiß man, wo er vorwiegend Werbung für seinen Auftritt gemacht haben könnte. Vielleicht haben seine Angestellten und Geschäftspartner sogar frei oder eine andere „Belohnung“ für ihr Erscheinen und entsprechendes Verhalten bekommen. Zumindest liegt der Verdacht sehr nahe. Also war es am Ende doch sicher eine Inszenierung, die evtl. von langer Hand vorbereitet den Eindruck vermitteln sollte, wie unheimlich groß diese Gruppe der „besorgten Bürger“ doch sei. Das selbe hat man krampfhaft auch nach den Ereignissen zuletzt in Chemnitz versucht darzustellen. Zum Glück ist es diesen Kräften nur sehr bedingt gelungen. Ich will hoffen, daß es jetzt eine schwungvolle Gegenbewegung im Bautzener Raum geben wird, ähnlich wie in Chemnitz, die zeigt, daß diese gen Mittelalter orientierten Verirrten eben NICHT in der Mehrzahl sind. Chemnitz eben NICHT grau oder braun, sonder bunt. Und die so denken, das sind MEHR.

  10. Bitte beachten Sie, dass die Menschen hierzulande 52 Jahre Diktatur erlebt haben. Es dauert eben noch eine Weile, bis sie die dabei erworbenen Denkmuster abgelegt haben werden.

    1. Sehr geehrter Herr Plätsch, die beiden Diktaturen auf Mitteldeutschem Boden dauerten exakt 56 Jahre. Die sogenannte „Entazifizierung“ verlief, aus heutiger Sicht, in der Bundesrepublik erflogreicher, trotz einiger „Mängel“ in den Anfangsjahren, die den „Grundstock für die ’68-Bewegung legten.

  11. „Wie reagieren große Teile des Publikums? Höhnisches Gelächter und tumultartige Buhrufen. Das Zitat eines Grundrechtsartikels wird von Hunderten Menschen in einer Kirche mit brachialer Ablehnung bedacht.“
    ______________________________________________________________________

    So können Sie als im Umgang mit Menschen geübter Rhetoriker das Bautzner Publikum gar nicht mißverstanden haben! Dahinter steckt Demagogie, Herr Wolff! Die Leute lehnten keineswegs die Ziele des Grundgesetzes ab, sondern sie empfanden das Zitat als ihre Verhöhung, weil sie der idiotischen, gleichwohl festen Auffassung waren, dass die Herrschenden die Medien zensierten („Lügenpresse“).

    1. Wer meint, dass in Deutschland die Presse durch die Regierung zensiert wird, hat ein mehr als gebrochenes Verhältnis zur Meinungs- und Pressefreiheit. Insofern erklärt bzw. bedingt das eine das andere. Das festzustellen, hat mit Demagogie wenig zu tun. Christian Wolff

    2. Sehr geehrter Herr Plätzsch, was macht Sie so sicher, das das „Bautzener Publikum“, um welches es hier geht, das Grundgesetz in seinem Bücherfundus, oder gar gelesen hat? Mir klingen noch die Slogans von ’89 und ihre Wandlungen im Ohr. Die letzte Version war doch der Ruf nach der D-Mark!

      1. @Rolf Rennert, „Kommt die D-Mark, bleiben wir, kommt sie nicht, geh’n wir zu ihr!“, klingt mir auch noch in den Ohren. Der „DM-Nationalismus“ (Jürgen Habermas) ist Geschichte. Was ist für die (Ost-)Deutschen heute identitätsstiftend? Das Grundgesetz ist jedenfalls ein hervorragendes Angebot.

        1. Das mit dem Grundgesetz sehe ich auch so. Nur ob die „besorgten Bürger“ bereit und in der Lage sind, daraus die entsprechenden Konsequenzen zu ziehen? Daran habe ich großen Zweifel.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert