Morgen ist der 9. November. Mit diesem Tag verbinden sich viele Daten der Geschichte Deutschlands (Ermordung Robert Blum 1848, Ausrufung der Republik durch Philipp Scheidemann 1918, Hitler-Ludendorff-Putsch 1923, Zerstörung des Mendelssohn-Denkmals in Leipzig 1936, Fall der Mauer 1989). Doch das Datum, das wie kein anderes die deutsche Geschichte bis heute bestimmen und nach wie vor als absoluter Tiefpunkt der gesellschaftspolitischen Entwicklung Deutschlands gelten muss, sollte gerade in diesem Jahr im Mittelpunkt des Gedenkens stehen: die Reichspogromnacht 1938, die gewaltsame Zerstörung der jüdischen Gotteshäuser, jüdischer Geschäfte und Wohnhäuser und die Demütigung und Ermordung vieler jüdischer Bürgerinnen und Bürger. Dies alles geschah nicht im Verborgenen, sondern unter den Augen aller damals in Deutschland lebenden Menschen, genährt durch eine über Jahrhunderte gewachsene Judenfeindlichkeit. Das, was sich vor 85 Jahren ereignete, war aber nicht der Höhepunkt des nationalsozialistischen Terrors. Es war der Beginn der systematischen Vernichtung jüdischen Lebens in Europa bis 1945.
Auch 85 Jahre nach dem Schrecken der Reichspogromnacht ist es ein MUSS für jede:n Bürger:in Deutschlands gleich welcher Herkunft, religiösen und weltanschaulichen Überzeugung und gleich welchen Alters, am 9. November 2023 innezuhalten, an den Gedenkfeiern teilzunehmen, mit Nachbar:innen und Kolleg:innen darüber zu sprechen:
- Was müssen wir heute tun, um jeder Form von Judenfeindlichkeit und Antisemitismus entgegenzutreten und zu überwinden?
- Was müssen wir tun, um die Errungenschaften zu wahren, die wir der jüdisch-humanistischen Botschaft verdanken: Friedfertigkeit, Erhaltung des schwachen und gekränkten Lebens, Notwendigkeit der Diskussion und des Kompromisses (Carl Amery)?
- Was kann jede:r Bürger:in dazu beitragen, dass Jüdinnen und Juden ihren Glauben offen leben und sich angstfrei in unserer Gesellschaft bewegen können?
Folgende Veranstaltungen finden am 9. November 2023 in Leipzig statt:
10.00 Uhr
Putzen der Stolpersteine für die Familie Frankenthal
Dittrichring 13
mit Stadtpräsident a.D. Friedrich Magirius, Frank Kimmerle (Erich-Zeigner-Haus e.V.), Dr. Torsten Loschke (Stadt Leipzig, Pfarrer i.R. Christian Wolff
11.00 Uhr
Gedenken an der Synagogengedenkstätte
Gottschedstraße
mit Oberbürgermeister Burkhard Jung, Küf Kaufmann (Israelitische Religionsgemeinde, Deborah Lipstadt (Sonderbeauftragte der USA für die Überwachung und Bekämpfung von Antisemitismus), Caroline Lewkowitz (Erich-Zeigner-Haus e.V.)
17.00 Uhr
Gedenken am Mahnmal am Partheufer
gegenüber dem Zooeingang
„Wo ist dein Bruder“
anschließend Kerzenweg zur Thomaskirche
18.00 Uhr
Gottesdienst in der Thomaskirche
zum Gedenken an die Reichspogromnacht am 9. November 1938
Thomaskirchhof 19
Rabbinerin Jasmin Andriani, Gastpredigerin
Simone Berger-Lober, Vorsitzende der Jüdisch-Christlichen Arbeitsgemeinschaft, Liturgie
Assistenzorganist Ivo Mrvelj
Anja Pöche, Sopran
Leipziger Synagogalchor
Leitung: Philipp Goldmann
anschließend Kerzenweg zur Lichtsäule bei Apels Garten und weiter zur Gedenkstätte in der Gottschedstraße.
2 Antworten
Vielleicht wäre ein Beitrag, die Sonderrolle des Christentums und des Judentums in Deutschland aufzugeben und einen rein säkularen Staat zu gründen. Die Ressentiments gegen die Privilegien dieser beiden Religionsgruppen sind ja zum Teil verständlich (gerade im ziemlich ungläubigen Ostdeutschland). Man darf nicht so weit gehen, wie in Frankreich, wo Kopftücher verboten werden, aber die USA machen es besser: man ist allseits tolerant, und Religion ist Privatsache. Außerdem wäre es wahrscheinlich gut, damit aufzuhören, die Shoah zum identitätsstiftenden Element in Deutschland zu machen. Kenntnis der Geschichte ist sehr wichtig, aber vergangenes Leiden (oder frühere Täterschaft) kann kein Wertekompass sein – das Grundgesetz enthält alle essenziellen Elemente für eine freiheitliche Gesellschaft. Weitere Überhöhung brauchen wir nicht, denke ich – und Sonderpflichten für Menschen arabischer Herkunft (wie Steinmeier sie fordert) schon gar nicht.
Zustimmung, Herr Wolff, zu Ihrer Einleitung und Hochachtung bezogen auf die geplanten Gedenkveranstaltungen. Ich hoffe und wünsche der Stadt Leipzig, daß diese Veranstaltungen ohne Gegendemonstration und ohne Gewalt ablaufen können.
Andreas Schwerdtfeger