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„Die Basis bröckelt leise“ – Anmerkungen zu den Kirchenaustritten

Eigentlich hätte eine Schockwelle zumindest durch die Kirchen gehen müssen, als vor wenigen Tagen die neuesten Zahlen zur Mitgliedschaft in der evangelischen und katholischen Kirche veröffentlicht wurden: 2019 haben 273.000 Menschen die katholische und 270.000 Menschen die evangelische Kirche verlassen, zusammen über eine halbe Millionen Menschen. Damit gehören nur noch knapp über 50 Prozent der Bevölkerung einer christlichen Kirche an. Wenn man die Zahlen der letzten drei Jahrzehnte vergleicht, so hat es seit 2014 einen rasanten Zuwachs an Kirchenaustritten gegeben, der 2019 einen Höchststand erreicht hat: über 100.000 Menschen mehr als 2018 haben den beiden großen Kirchen den Rücken zugedreht. Das darf niemanden in den Kirchen ruhig schlafen lassen – und doch ist es kein wirkliches Thema. „Die Basis bröckelt leise“ – stellte schon 2017 Matthias Drobinski in der Süddeutschen Zeitung fest. Es scheint sich zu bestätigen, was in der Coronakrise spürbar ist: Kirche spielt derzeit kaum eine Rolle und erscheint vielen Menschen entbehrlich.

Kein Wunder, dass in den Kirchen Ratlosigkeit um sich greift. Darum wiederholen sich auch die jährlichen Stellungnahmen zur Mitgliedschaftsentwicklung: Jeder Austritt schmerzt … die Kirche wird darauf reagieren … sie wird zunächst genau analysieren … Kirche muss sich verändern … . Doch Entscheidendes wird sich zunächst nicht tun, schon gar nicht in der Ausbildung der Pfarrer/innen – außer dass man vieles den auch durch die Coronakrise eingeschränkten finanziellen Möglichkeiten anpasst, was im Klartext bedeutet: Sparen ohne Zukunftsperspektive.

Dabei wäre schon viel geholfen, wenn wir einer Tatsache nüchtern ins Auge sehen: Viele Menschen haben sich von Religion abgewendet und vermissen nichts, wenn für sie die biblische Glaubenstradition genauso unbekannt ist wie Homers Sagen. Der Prozess der Säkularisierung, also die Entfremdung von den Glaubensgrundlagen der Kirchen, von religiösen Vorgaben und Bevormundung ist weit vorangeschritten und hat wenig damit zu tun, wie Kirche heute agiert. Das irdische Leben in Mitteleuropa bietet inzwischen alles an Unterhaltung, Kultur, Entwicklungsmöglichkeiten, dass eine transzendentale Herkunftserklärung überflüssig erscheint. Die Möglichkeiten, das eigene Leben dann beenden zu können, wenn es durch Krankheit, Schicksalsschläge, Alter schwierig zu werden droht, werden auch immer greifbarer und sind zuletzt höchstrichterlich eröffnet worden. Das bedeutet: Eine Kirche, ein Glaube als Lückenbüßer für viele Probleme des Lebens erübrigt sich immer mehr. Die vorangeschrittene Individualisierung tut ihr Übriges. Der Mensch hat sich selbst und braucht weder einen Gott noch eine Jenseitsperspektive. Der Philosoph Wilhelm Schmid stellte eine entscheidende Frage: „Moderne heißt, sich absichtsvoll befreien von Religion, Tradition und Konvention. Das sind die Instrumente, die definieren, wie man zu leben hat. Nur etwas war von vornherein nicht bedacht worden: Was machen wir dann?“ (DIE ZEIT Nr. 52 vom 23.12.2015).  Auf diese Frage muss Kirche eine Antwort geben können und damit verdeutlichen, warum es sinnvoll ist, ihr anzugehören.

Doch ist gerade in den Coronakrise eine Schwäche der Kirche offen zutage getreten, die auch viel mit der Austrittsbewegung zu tun hat: Kirche vermochte es viel zu wenig, die Pandemie, die bei vielen Menschen Sicherheiten wegbrechen ließ, durch ihre Botschaft zu deuten, Konsequenzen für zukünftiges Leben aufzuzeigen und entsprechende Angebote zu machen, damit umzugehen. Das führte dazu, dass sich Menschen auch von der Institution allein gelassen fühlten, von der sie in Krisenzeiten Halt, Zuwendung, Festigkeit erwarten. Da zeigte sich, dass Kirche viel zu wenig ihre gesellschaftspolitische Verantwortung eigenständig wahrzunehmen und gleichzeitig Orientierung aus dem Glauben heraus zu geben in der Lage ist. Es zeigte sich auch, dass Kirche sich nach wie vor schwer damit tut, Glaubensinhalte in einer Sprache zu kommunizieren, die die Menschen verstehen, ohne dass Glaubensinhalte entleert werden. Die Kirche hat nicht geschwiegen, aber sie hat offensichtlich nicht die richtigen Worte gefunden und sich so ins Abseits manövriert.

Nun wird in den aktuellen Medienartikeln, die sich mit dem dramatischen Mitgliederverlust der Kirchen beschäftigen, immer wieder empfohlen, dass Kirche sich einer neuen Sprache bedienen müsse. Evelyn Finger schreibt in der aktuellen Ausgabe der Wochenzeitung DIE ZEIT: „Man redet salbungsvoll über die Köpfe der Leute hinweg und wundert sich, dass sie davonlaufen.“ Malte Lehming fordert im „Der Tagesspiegel“ die „Entwicklung einer einfachen Sprache“ und darüber hinaus „Konzentration aufs Wesentliche, … Traditionsentschlackung, Stärkung der großen Ökumene, grenzüberschreitende Verkündigung“. Wenn ich es richtig sehe, wird Kirche aber nur dann bestehen können, wenn sie beides vermag:

  • ihre reiche Glaubenstradition pflegen, wertschätzen und so praktizieren, als wäre sie ganz neu;
  • die Grundanliegen des Glaubens so kommunizieren, dass dies auch von denen verstanden werden kann, die schon längst nicht mehr in der Kirche zuhause sind.

Beides stellt höchste Anforderungen an das Personal der Kirche, insbesondere die Pfarrer/innen und an ihre Ausbildung. Solange aber die Kommunikation des Glaubens im öffentlichen, säkularen, gesellschaftspolitischen Bereich – und da stehen ja die Gotteshäuser – kaum eine Rolle spielt, brauchen wir uns nicht zu wundern, dass die Verkäuferin von Rewe, sollte sie sich einmal in einen Gottesdienst verirren, nichts versteht und sich gelangweilt abwendet. Zwei persönliche Erlebnisse mögen das illustrieren:

  • Als ich vor 46 Jahren einem Jurastudenten und einer Germanistin – beide ohne große Bindung an die Kirche – meine erste Predigt vorgelesen habe, sagten sie unabhängig voneinander: Das bist du nicht, der da redet. Wir kennen dich aus dem Hörsaal 13 (da fanden die Teach-ins der Uni Heidelberg statt) ganz anders. Das war für mich ein heilsamer Warnschuss. Sie erwarteten von der Predigt keine politische Rede, aber sie wollten erreicht werden in einer Sprache, die sie verstehen.
  • Während meine im Februar verstorbene Frau auf der Palliativstation des katholischen St. Elisabethkrankenhauses lag, besuchte ich die evangelische Andacht „Wort und Musik“ in der Kapelle. Ein Vikar ließ vom CD-Player Tanzmusik aus dem 17. Jahrhundert abspielen. Sehr passend, dachte ich. Doch er beherrscht die Technik nicht – weder beim Ein- noch beim Ausschalten. Alle Andacht war dahin – aber sie wurde in alle Krankenzimmer übertragen. Seine kurze Ansprache beginnt der Vikar mit der Frage: „Sind Sie gerne im Krankenhaus?“, um dann auszuführen, dass er gerne hier ist, weil hier Fragen aufgeworfen werden, die man sich sonst nicht stelle. Geht es um ihn oder geht es ihm um die Kranken und ihre Angehörigen, fragte ich mich. Dann spricht er relativ unvermittelt über Ewigkeit, ohne aber diesen Begriff so zu erklären, dass der Dreher von BMW, der mit einer Nierenkolik auf der Station liegt, damit etwas anfangen kann. Der Vikar, am Anfang seiner Berufstätigkeit, spricht so, dass ich den Eindruck habe: Er ist schon am Ende, völlig gefangen in sich selbst und einer binnenkirchlichen Welt ohne Fenster nach außen.

Natürlich: Patentrezepte, die Austrittsbewegung zu stoppen, hat niemand. Aber wir müssen uns konzentrieren auf eine menschennahe Kommunikation des Glaubens insbesondere auch in den Bereichen, die die Kirche selbst unterhält: Kitas, Schulen, diakonische Einrichtungen, Ausbildungsstätte. Wir müssen sprachfähig werden – nicht indem wir uns anbiedern, aber indem wir die Gewissheiten des Glaubens kraftvoll in den jeweiligen gesellschaftlichen Bezügen „grenzüberschreitend“ verkünden und die Überzeugungen des Glaubens leben und so beim Wesentlichen bleiben. Vor allem aber muss in den Kirchen die Unruhe lauter werden, wenn die Basis weiter leise bröckelt.

41 Antworten

  1. Lieber Bruder Wolff,

    im Großen und Ganzen kann ich den Ausführungen zustimmen. Anders sehe ich aber, dass es sich hier um ein sprachliches Problem handeln soll. „Sprache“ erscheint letztlich als etwas Äußerliches. Ursache für mangelnde Authentizität oder Unverständlichkeit ist meines Erachtens aber nicht die Sprache. Statt einer Sprachkrise erlebe ich eine massive Glaubenskrise bei vielen Mitarbeitenden auf allen Organisationsebenen der Kirche.

    Die häufig gehörte Behauptung, man könne „heutzutage“ bestimmte religiöse Begriffe nicht mehr anführen, ergibt sich nach meinem Verdacht daher, dass sich viele TheologInnen diese Begriffe selbst nicht mehr erschließen können. Das aber ist Voraussetzung dafür, dass religiöse Sprache überhaupt authentisch und verständlich sein kann – und auch die Sprache der Bibel und der GlaubenszeugInnen verstanden wird! Die eigene Sprachunfähigkeit kommt von einer Unfähigkeit, Sprache zu verstehen. Die Unfähigkeit, die Sprache des Glaubens zu verstehen, führt zu einer Krise des Glaubens, der doch öffentlich vertreten werden soll, angefragt wird, bezeugt werden soll.

    Natürlich ist es unverfänglicher, sprachliche Defizite zu benennen. Sprache ist schließlich objektives Handwerkszeug. Glaube hingegen erscheint „heutzutage“ als etwas ganz Persönlich-Intimes, was in Ruhe gelassen werden soll. Doch wie wenig wissen und begreifen die Menschen von dem Gott, von dem sie sagen, dass sie an ihn glauben, ihm ihr Leben anvertrauen. Und wie objektiv-sachlich hat sich Gott der Welt doch offenbart, dass niemand mehr ins Unverständlich-Ungefähre schwadronieren muss, um von ihm zu sprechen. Und wie begeistert müssten Christenmenschen doch sein, wenn sie von dem erzählen, worauf ihr ganzes Leben beruht!?

    1. Lieber Bruder Piotrowski, Sie haben völlig Recht: die Krise der Kirche ist kein Sprachproblem. Sie wird allerhöchstens darin sichtbar, wie Kirche redet. Ansonsten sehe ich es genauso wie Sie: Wenn wir selbst nicht von Gott, von unserem Glauben so reden, dass Menschen dies nachvollziehen und verstehen können – und dazu gehört nicht nur das gesprochene Wort, sondern auch das gelebte Leben, dann dürfen wir uns nicht wundern, dass Menschen sich kopfschüttelnd abwenden. Also ist es wichtig, dass wir fundamental und elementar von unserem Glauben reden, ohne fundamentalistisch und banal zu werden. Beste Grüße Christian Wolff

  2. „Kirche vermochte es viel zu wenig, die Pandemie, die bei vielen Menschen Sicherheiten wegbrechen ließ, durch ihre Botschaft zu deuten, Konsequenzen aufzuzeigen und entsprechende Angebote zu machen, damit umzugehen.“
    Man kann das vielleicht auch so deuten, dass da ein Geschäftsmodell weggebrochen ist. Jahrhunderte lang war es Aufgabe der Kirchen dem gemeinen Volk zu erklären, dass solche und andere Katastrophen wahlweise eine Strafe Gottes oder Prüfung Satans ist oder oder der Mensch sich selbst durch den Abfall von Gott selbst eingebrockt hat. Aber die Naturwissenschaften haben heute das Erklärungsmodell Gott in vielen Bereichen überflüssig gemacht. Und das erklärt auch die Erkenntnis des Autors, dass „Der Prozess der Säkularisierung, also die Entfremdung von den Glaubensgrundlagen der Kirchen, von religiösen Vorgaben und Bevormundung ist weit vorangeschritten und hat wenig damit zu tun, wie Kirche heute agiert.“.

    Was ihnen heute nur noch übrig bleibt, ist Gottvertrauen zu predigen. Aber auch das zieht nicht mehr wirklich.

    Was sollen die denn sagen? Gott ist super-allmächtig; aber glaubt mal nicht, dass man das auch merkt? Gerade die Coronapandemie schürt die Erkenntnis, die selbst Kirchenvertretern schwant, dass die Welt ohne Gott dieselbe ist wie eine Welt mit.
    Viele Theologen sprechen verständlich; aber Gott wird auch bei Katastrophen vom großen Teil der Bevölkerung nicht mehr benötigt. Eine Erkenntnis, die selbst Herr Bätzing, seines Zeichens DBK-Vorsitzender, in seiner Pfingstpredigt 2020 festgestellt hat: „Wirklich beunruhigt bin ich, wenn Krankenseelsorger, von denen wir annehmen, sie seien in dieser Zeit der vielen existentiellen Nöte besonders gefordert, von sich selber sagen, sie seien aufgrund mangelnder Nachfrage doch eben nicht „systemrelevant“ – nicht, weil wir nicht präsent sein wollen, sondern weil wir von vielen in der säkularen Welt offensichtlich nicht mehr als relevant wahrgenommen werden.“

    Man kann den Kirchen also nicht eine falsche Sprache vorwerfen. Sie sind schlicht und einfach für viele nur überflüssig geworden und vielleicht schon immer gewesen, was sich auch aus der Feststellung des Autors „Der Prozess der Säkularisierung, also die Entfremdung von den Glaubensgrundlagen der Kirchen, von religiösen Vorgaben und Bevormundung…“ vermuten lässt. Sie schafft es einfach nicht, mit „Auf diese Frage muss Kirche eine Antwort geben können und damit verdeutlichen, warum es sinnvoll ist, ihr anzugehören.“ die Leute zu binden, weil es – „Eine Kirche, ein Glaube als Lückenbüßer für Viele Probleme des Lebens erübrigt sich immer mehr“ – mittlerweile genug Alternativen gibt und früher vielleicht auch schon gab, die nur aufgrund „…von religiösen Vorgaben und Bevormundung…“ künstlich kurz gehalten wurden.

    Eine ganz neue Erfahrung für die Kirchen, die Jahrhunderte lang nicht unbedingt durch Vermittlung eines Seelenheils, sondern nur durch Verordnung als Staatsreligion von der Obrigkeit ihre gesellschaftliche Stellung erreichen konnten. In der heutigen Gesellschaft kann man dagegen „Religionsfreiheit“ auch nach der eigentlichen Bedeutung des Begriffs, Freiheit von Religion, auch ohne Angst vor sozialer Ächtung und schlimmeres leben; es hat sich allgemein die Ansicht durchgesetzt, dass Religion Privatsache ist. Heute stell man sich die Frage, glaube ich das wirklich – und kann, im Gegensatz zu früher, ungestraft auch Konsequenzen daraus ziehen.

    Es ist falsch zu sagen, die Kirchen bedienen sich einer falschen Sprache oder haben keine Antwort bzw. Deutung. An Beliebigkeit oder als Wohlstandserscheinung ist der Bedeutungsverlust auch nicht erklärbar. Auch mangelnde Dialog- und Reformfähigkeit kann man zumindest der evangelischen Kirche nicht vorwerfen. Ganz im Gegenteil, da steht die katholische trotz ihrer starren Hierarchie, kompletter Reform- und Dialogunwilligkeit sogar etwas besser da.
    Letztendlich sind das auch nur reflexartig Vorwürfe, um die heutige Situation zu erklären.

    Kirchen sind mittlerweile einfach nur nur noch Anbieter einer von vielen – nicht selten von Kirchenvertretern als Patchwork- oder Bastelreligion diffamierten – Antworten. Wenn ich ganz transzendensfrei für mich glaube, nur das hier und jetzt ist das, was existiert und zählt und es gibt kein danach, dann ist das, auch wenn Kirchenleute das vehement abstreiten, aber auch eine genauso gültige Antwort und Wahrheit.
    „Nur etwas war von vornherein nicht bedacht worden: Was machen wir dann?“ zeugt von einer abschreckenden Überheblichkeit, dass nur der eigene Weg der richtige ist (und schon wieder sind wir bei der religiösen Bevormundung…)

    „Die Welt da draußen hört die Theologen nicht mehr. Das war vielleicht mal anders, als die Kirche noch eine wichtige, gesellschaftliche Größe war und die Theologie neben Medizin und Jura die wichtigste Fakultät. Man kann bedauern, dass das nicht mehr so ist und dass nur noch populärwissenschaftliche Stimmen wie Margot Käsmann wirklich eine Wirkung in der Öffentlichkeit haben. Aber so zu tun, als sei man immer noch von gleicher Bedeutung wie im 19. Jahrhundert, zeugt von Naivität und auch davon, dass man sich nur noch in seinen eigenen Kreisen bewegt und die Augen davor verschließt, wie wenig Gehör die Theologie eigentlich noch findet.“ (gefunden auf https://www.theologiestudierende.de/2014/01/20/moment-mal-herab-von-euren-hohen-roessern )

  3. AW zu Christian Wolff 6. Juli 2020 – 14:22
    Vielen Dank für die Antwort, Herr Kollege. Es ging in Ihrem Beitrag um die leise bröckelnde Basis. Da ich Gesprächspartner vieler Menschen bin, die „abgebröckelt“ sind, weil sie in kirchlichen Zusammenhängen traumatisiert wurden, passte mein Beitrag. Er wurde nur – typischerweise – lieber nicht aufgegriffen. Die Kollegen ducken sich halt weg.
    Übrigens: Ich war nicht Leiter der Akademie, sondern einer der damals noch vielen Tagungsleiter. Warum das heute so wenige sind, wäre ein dem „Bröckeln“ verwandtes Thema: „Glanz und Elend kirchlicher Akademiearbeit“. Doch ich will Sie nicht nerven und schon wieder über die Stränge schlagen. Sie waren ja schon wie die „Kommentatoren (ich zähle mich selbst dazu) mit diesem Thema, also dem von der Kirche zu verantwortenden sexuellen Missbrauch, bisher nicht konfrontiert worden“. Wie kommt das bloß?

        1. Über ein anderes Ergebnis hätte ich mich gefreut.
          „Behüt dich Gott, es wär so schön gewesen. Behüt dich Gott, es hat nicht sollen sein.“
          Werden Sie sich nun auch um die Schattenseiten kirchlicher Existenz kümmern?: Kindesmisshandlungen vielfältiger übelster Art in den Heimen, dazu Kindesmissbrauch, – deren Verleugnung, Bestreitung, Vertuschung, Relativierung, Aufschub von Kompensationsleistungen. Ich verschone Sie mit vielen Links zu Dateien, die Sie wohl doch nicht aufrufen werden. Die stören nur.

  4. Ich habe mich zufällig hierher verirrt und bin das Gegenteil vom „evangelisch theologischen Fachpersonal“, nämlich ursprünglich katholisch erzogen und inzwischen (auch durch Leipzig?) stark der Kirche entfremdet. Da ich mich in letzter Zeit aber wieder stärker mit Glauben beschäftige und dachte, dass es vielleicht gerade interessant sein könnte, eine Außenseiterperspektive zu lesen, hier einige Punkte, die mir in letzter Zeit durch den Kopf gehen.
    Während mir als junger Mensch (in katholischer Umgebung) tatsächlich die Existenz Gottes und die grundsätzliche Richtigkeit des Evangeliums als unumstößlich erschienen, habe ich mich mich sehr an der „Katholischkeit“ meiner Kirche gestört – an der Hierarchie, an der Altmodischkeit, an der Festgelegtheit und der (für mich, noch dazu als Frau) begrenzten Möglichkeit der Diskussion und Mitsprache.
    Heute, Mitte Dreißig, zweifle ich dagegen weit mehr an der grundsätzlichen Richtigkeit des christlichen Glaubens und der Existenz des einen Gottes. Was mir aber zunehmend in meinem Leben fehlt, sind heilige Rituale, spirituelle Erfahrungen und Gemeinschaftserlebnisse. Ich vermisse (und dies ist nun natürlich nicht unbedingt protestantisch 😉 ) opulente Fronleichnamsprozessionen, Mitternachtsmetten zu Weihnachten, aufstehen vor Sonnenaufgang um zur Osternachtsmesse zu gehen und beim ersten Morgenlicht das Feuer der Osterkerze nach Hause zu tragen um dann mit der Familie gesegnete Speisen zu frühstücken. Ich finde es nun ein Unding, dass ich (nach 13 Jahren katholischem Religionsunterricht, Kommunion und Firmung) so gut wie nichts über die verschiedenen Strömungen innerhalb der katholischen Kirche weiß oder die Ausrichtungen der verschiedenen Orden kenne. Ich weiß nicht, worüber Theologen diskutieren, ich bin neidisch auf jüdische Freunde, wo Diskussion und verschiedene Interpretation zum Alltag gehören und nicht nur den „Profis“ überlassen ist.
    Dieses Jahr habe ich auch zum ersten Mal den Ramadan aus nächster Nähe miterlebt und in diesem Erleben auch bemerkt, wieviel sinnvoller und auch verändernder mir dieses „richtige“ Fasten im Vergleich zum „verkopften“ Fasten der christlichen Kirchen in Deutschland erscheint. Tatsächlich macht (Essens-)Fasten nicht nur Verzichten auf Luxus aus, sondern schafft auch einen Bruch mit den normalen Gewohnheiten, schafft Zeit, die man sonst mit Essensplanung, Essen, Kaffeetrinken füllt und dann zu Meditation oder Gebet nutzen kann (und soll). Auch ist es ein echtes Gemeinschaftserleben, wenn alle das Gleiche fasten, und nicht einer Zigaretten und der nächste Instagram und der dritte Alkohol. Durch Recherche stellte ich fest, dass die katholische Kirche immer noch offiziell ein ähnliches Fasten empfiehlt (nur eine Mahlzeit täglich, keine reinen „Genussmittel“) – gehört hatte ich in meinem Leben noch nie davon, es war immer nur von „übertragenen“ Fasten die Rede.
    Ich weiß nicht, ob jemand der Anwesenden schon einmal in Asien war, in nicht monotheistisch geprägten Weltteilen. Was ich besonders finde: die niedrige Hemmschwelle, einen buddhistischen Tempel oder einen Shinto-Schrein zu besuchen und zu beten. Und auch, Rituale, wie Gebete, Reinigunsrituale, Meditation, in seinen Alltag zu integrieren. Ohne dafür formell einer Kirche beizutreten oder sich für „eine Seite“ entscheiden zu müssen. Das fehlt im Moment in der Kirche in Deutschland. Teilweise liegt es natürlich am inhärenten Wahrheitsmonopols-Anspruch des Monotheismus – ich denke aber trotzdem, Kirchen müssten in ihren Ritualen offener sein, auch für Atheisten, für verirrte Touristen, für Ausgetretene, für alle.
    Gleichzeitig sollten die Rituale, die Traditionen aber nicht vernachlässigt werden. Gerade im Ritual manifestiert sich das „übersinnliche“ Erlebnis, das das spirituelle Bedürfnis befriedigt.
    Ich möchte lieber öfter von Mensch zu Mensch mit Gläubigen ins Gespräch kommen können, mit Ordensschwestern und -brüdern, mit Menschen, die trotz und mit all ihrer Zweifel an Gott und an die Kirche glauben. Die mich inspirieren könnten. Und wenn diese Menschen sich gegenseitig widersprechen, wenn manche mit den Entscheidungen der Bischöfe nicht leben können, wenn manche auch Teile der Bibel nicht glauben können und sich fragen, wie das wohl gemeint sein könnte… um so besser! Ich kann all das auch nicht und ich denke, es wäre unwahrscheinlich wichtig, dass man als Kirchenmitglied lernt, dass jeder Mensch zweifelt, wo und wie man seine Zweifel äußern kann und sich darin ernst genommen fühlt und dass zweifeln nicht automatisch in einem Kirchenaustritt enden muss.
    Wer verschiedene Kirchen gegeneinander stellt, muss sich nicht wundern, dass Menschen sich keinem der offiziellen Angebote 100% zugehörig fühlen und dadurch allen abwenden. Man muss das Spektrum, die Vielfalt, innerhalb der Kirche betonen, um zu zeigen, dass die Kirche ein Zuhause bieten kann auch jenen, die andere Meinungen haben oder an Inhalten zweifeln.

    Soweit meine Gedanken in letzter Zeit.
    Viele Grüße!

  5. Guten Abend,
    ich stieß zufällig auf Herrn Wolffs Blog und was ich zum Thema Kirchenaustritte lese, lässt mich lächeln, lässt mich als Nichttheologe lächeln, weil ich Kirche als Kirchenopfer erlebte und erneut bescheinigt bekomme, was ich seit einem Jahrzehnt weiss: Die Vogel Strauß-Haltung ist die Haltung von 90% der Theologen, wenn sie mit dem Thema Missbrauch durch Kirchenbedienstete geht. Ich nehme Sie da nicht aus, Herr Wolff,
    Sie untermauern meine Meinung dadurch, dass Sie Ihren Kollegen Dierk Schäfer fragen,
    was er mit seinen Links bezweckt. Statt so zu fragen, hätten Sie einfach den Links
    folgen und sich sachkundig machen sollen.

    Ich lebe in Leipzig, ich kann Ihnen, und Ihren Kollegen hier im Blog, etwas über die
    wirklichen Austrittsgründe sagen, denn weil ich den Menschen nicht als Theologe begegne, reden sie offen.
    erfahre ich das, was

  6. Zum Thema gäbe es sehr viel zu sagen. Hier nur soviel:
    Wenn Menschen aus der Kirche austreten, ist sie offensichtlich für die Bewältigung des täglichen Lebens nicht mehr wichtig und andere Institutionen, wie z.B. der Fanblock beim Fussballverein, hilfreicher und wichtiger. Studien belegen zudem auch, dass Fangesänge quasi religiösen Charakter haben können. Zudem glaube ich nicht, dass die Menschen areligiöser geworden sind, nur der Gegenstand ihrer Verehrung (Anbetung) hat sich geändert. Das kann man nun gut finden oder nicht, es erklärt aber einige der Austritte.
    Wichtig scheint mir daher die Antworten auf die Frage zu sein, was Kirche zur Lebensbewältigung beiträgt.

  7. Es ist großartig, wieviel Reaktion auf den Beitrag „Kirchenmitgliedschaft“ eingehen. Das zeigt, wie enorm wichtig, ja ganz zentral das Thema ist, ganz unabhängig von den gegenwärtigen konkrekten Austritten. Man sollte das Thema weiter intensiv verfolgen. Herr Wolff sollte es forcieren, vielleicht auch alle Beiträge (verlängert) in einem Buch veröffentlichen.- Unabhängig davon stört mich bei fast allen Antworten dann doch, dass die meisten „wie das Kaninchen vor der Schlange“ auf die deprimierenden Austrittszahlen starren, als ob es in unserem Glauben um den „Erhalt der real existierenden verfassten Kirche“ ginge. Ich bin ja mal Pastor geworden, nicht weil ich an die Kirche „glaube“ (wie auch immer sie sei, sie ist nur armseliger Katalysator, ein Instrument, auf dem die Musik gespielt wird, nicht die Musik selbst), sondern weil ich an Gott/Chrsitus glaube und dies weitervermitteln (damit nicht „missionieren“, aber laut weitersagen) wollte. Auch wenn die real existierende verfasste Kirche unterginge, wir nur noch ein armseliges freikirchliches Restpöstchen wären, würde doch Gott/Christus nicht untergehen. Chritus setzt sich durch auch ohne Kiirche (Frage nebenbei: Hat Jesus, vgl. Matthäus 16, wirklich eine Kirche gewollt, zum mindesten die Kirche, die wir haben? Ich denke Nein) Was wir Kirchenleute immer noch nicht gelernt haben (verdrängt haben, als unwichtig abtun), ist neben der „Mitliederpflege“ die „NICHT-Mitgliedferpflege“, also die sorgfältige Aufnerksamkeit und Akzeptanz und Fürsorge für die „frommen Ausgetretenen“. Ich sagte in Beitrag zwei bereits: In einer Untersuchung anno 1995 in HH sagen 40% der Ausgetretenen, sie hielten Glaube und Gott für sinnlos, aber ca. 60% , sie würden sich nur am Gebaren der Kirche (Geld usw.) stören, würden aber weiterhin an Gott/Chritus glauben, ja sich als Christen verstehen. Wir dürften uns also nicht nur um die noch treuen Kirchenmitglieder kümmern, damit sie uns ja nicht davon laufen, sondern müssen auch die „untreu gewordenen, frommen Ausgetretenen“ würdigen und ihnen sorgsam und aufmerksam nachgehen. Da ist viel Potential, das wir leider gar nicht beachten. Es gibt eine große „‚Kirche‘ auch AUßERHALB von Kirche“, also Frömmigkeit und Glaube der Ausgetretenen (oder von Menschen, die wie in der Ex-DDR gar nie in der Kirche drin waren). Bitte also, wirklich bitte bei allem gezielten Nachdenken nicht nur an die Insider (Austrittsgefährdete) denken, sondern mit viel Wohlwollen auf viele fromme und blitzgescheite gläubige Ausgetetene achten. Nicht die Kirche in ihrer jetzigen Form zwanghaft zu erhalten, sondern das Intersse für Christus/Gott wach halten, nur das darf unser Ziel sein. Noch mal zugespitzt: „Ich glaube nicht an die Kirche, ich glaube an Christus (genauer: an die allumfassende (Bonhoeffer) meist unsichtbare bleibende Kirche Jesu Christi, nicht eine zufällige sichtbare verfasste Landeskirche)“. Und Christus wird sich auch ohne oder gar gegen die Kirche durchsetzen. Ja, das wird er.
    Axel Denecke

  8. Also – ich bin begeistert. Die vielen sehr differenzierten Rückmeldungen (auch wenn ich nicht allen zustimmen, z.B. der These von Herrn Wolff, Kirche müsse immer mssionarisch auftreten. Wenn ich das nicht will, bedeutet das doch nicht, dass ich nicht überzeugend und mit Verve zu reden versuche. Natürlich will ich andere überzeugen, aber ich will sie nicht gezielt und bewusst missionieren ) zeigen doch, wie wichtig dieses Thema ist, dass Herr Wolff hier angerissen hat. Hier geht es wirklich um das Fundament unserer ganzen Arbeit (nicht unbedingt der verfassten sichtbaren Kirche, sondern der – wie man theologisch sagt – unsichtbaren allumfassenden (siehe Bonhoeffer) Kirche Christi (Entschuldigung für diesen innertheologischen Einschub). Ich erinnere noch einmal dringend daran, nicht wie das Kanichen in panischer Angst vor der Schlange nur auf die vielen Kirchenaustritte starren (dies wehledig beklagen oder anderes), sondern offensiv, ja und durchaus auch optimistisch auf alle, die aus welchen Gründnen auch immer ausgetreten sind (oder nie dazu gehörten, siehe Ex-DDR) zugehen. Es geht – das sage ich als alter Kirchenfunktionär – NICHT um den Erhalt der real verfassten Kirche, sondern um die Weitergabe der Botschaft Christi (benefarge. hat Jesus überhaupt eine „Kirche“ gewollt?, siehe Mt 16, auf keinen Fall aber verfasste Volkskirche!), in UND außerhalb der Kirche in gleicher Weise wahrgenommen wird. Ich erinnere noch einmal (schon mal vorher gesagt): 40% der Leute (anno 1995 in HH bei einer Umfrage) treten wg. Kirchensteuer aus oder weil Ihnen Glauben nix sagt, 60 % wg. Ärger über das Gebaren der verfassten Kirche und legen Wert darauf, dass sie weiter gläubige Christen sind. (Man kann darum zugespitzt sagen: Nicht der persönliche Glaube stirbt ab, die verfasste Kirche stirbt ab. Nu und?) Das ist ein ermutigendes Zeichen. Wir müssen uns – wie ich anderenorts sagte – um die „‚Kirche‘ außerhalb von Kirche“ kümmerm, also um die ca. 60%, die Kirche enttäuscht verlassen haben, aber am Glauben festhalten wollen. Ohne uns vereinsamen sie. Wir lassen sie aber meist leider allein, weil wir indirekt „beleidigt“ sind, dass sie davon gelaufen sind. Die Zukunft unserer Kirche ist nicht unbedingt der Erhalt der verfassten Kirche, sondern das Wachhalten und aufmerksame Beantworten der Frage nach Gott/Christus und die gaubwürdige, menschendienliche Antwort darauf, ohne damit gleich missionieren zu wollen, damit die schnell wieder zurück in den „Schoß der (verfassten) Kirche“ kommen. – Fazit und insgesamt: Das ganze Thema ist sehr virulent und sehr umfassend. Ich empfehle Herrn wolff einen weiteren Diskurs dazu und evtl. eine Veröffentlichung (und dabei Vertiefung) aller bisheriger Reaktionen.
    Axel Denecke (nun bereits zum vierten Mal)

  9. Haben Sie ausdrücklich DANK, Sehr geehrter Herr Hüneburg, für Ihren Beitrag – damit ist geradezu alles auf den klaren Punkt gebracht!!
    Vor allem Ihr letzter Absatz trifft aus meiner ureigensten Gemeinde-Erfahrung vollends zu: Individuelles Engagement vor Ort, an und mit der Basis. Und eben, weil die KIRCHE bedenklich und unaufhaltsam schwächelt, seit Jahren energisch gestellte Fragen und gerade momentan unbeantwortet lässt, gibt es Kirch-Gemeinden, die sich stark engagieren, aufrecht gehen und sich mit Jammern und Abwendungsgedanken nicht gemein machen. Auch die ewigen, destruktiv wirkenden Strukturdebatten lähmen einerseits, andererseits werden diese durch Initiativen beiseite geschoben, weil sie lähmen und Abwendung provozieren!
    In unserer Kirchgemeinde (fast 1000 Kirchgemeinde-Mitglieder) steht seit Monaten (mit Beginn Corona) die Kirche für JEDEN offen, es gibt täglich in der Woche Andachten, KV-Mitglieder, die Pfarrerin, die Pfarrer, der „Jugendseelsorger“, Musiker unterschiedlichsten Colours, gestallten eben diese Andachten für eine reichliche halbe Stunde ab dem 18.oo-Uhr-Abendgeläut und wir erreichen damit eben auch Auswärtige, die den Dresdner Elbhang besuchen.
    Die Reaktionen sind großartig und viele atmen im lichtdurchfluteten Kirchenraum tief durch, fühlen sich angenommen und können, bei Bedarf, anschließend mit den Anderen in ein spontanes Gespräch einsteigen. Wunderbare Begegnungen, die sich womöglich nicht wiederholen, aber da passiert etwas! Distanzen heben sich auf, die Gesichtsmaske ist kein Hindernis.
    Und großartig, dass dieses Gebetsangebot seit Monaten möglich ist, sich nach wie vor erhält und selbst über die Sommer-/Ferienzeiten durch persönlichen Einsatz vieler angeboten werden kann. Als nebenberuflicher Organist erlebe ich Menschen, die es einfach nur als wunderbar annehmen und empfinden, für eine gewisse Zeit, wann auch immer, den Kirchenraum in sich aufnehmen zu können (erstaunlich, wie viele die Stille, eine Textlesung, eine Orgelmusik als etwas unglaublich Beruhigendes, Anregendes und Friedvolles empfinden – in dieser lauten, oberflächlichen Zeit spürbar wohltuend.
    „Klopfet an, so wird euch aufgetan!“ – KIRCHE ist schon viel zu lange vor allem innerlich verschlossen und abwesend – Gott sei Dank findet wie auch von Ihnen beschrieben Offene Kirche in Stadtteilen und Ortsgemeinden statt, man muss es nur wollen und TUN!!
    Schönen Sonntag – Jo.Flade

  10. Als erstes:
    Ich hoffe, die Institution Kirche (hier konkret die Ev.-Luth.)läse neben dem Grundsatzbeitrag Chr. Wolffs alle darauf folgenden Kommentierungen. Sie widerspiegeln die komplexe Problematik, die auch A. Schwerdtfeger u.a. partiell sehr zutreffend aufzeigt und für ein breiteres Podium durchaus Thema wäre, zumal gegenwärtig hoch aktuell und an der Zeit, darüber endlich ins Gespräch zu kommen (ich würde mir ohnehin solch öffentliche Podien wünschen, erst recht zum Casus: Kirche / Gesellschaft / Demokratie / Kapitalismus / Politik).
    Was mir bei Ihnen, Herr lieber Schwerdtfeger, sehr interessant aufkam, war Ihre dezidierte Fragestellung im letzten Satz, die wahrhaftig einiges in sich verbirgt: (Zitat) „Unsere Gesellschaft aber versinkt im Durchschnitt – und im Durchschnitt sind weder Kirche noch Glaube noch sonstige hehre Maßstäbe gefragt. Aber ist nicht Demokratie Durchschnitt?
    Sie werfen hier ein offensichtliches Kardinalproblem auf, mit dem Sie allerdings mit Ihrer Nichtbeantwortung indirekt die dann dringende Fragestellung provozieren: Welche Gesellschaftsordnung ist nicht Durchschnitt ?
    Aus der weitreichenden Welt-Geschichte wissen wir über die Möglichkeiten und Grenzen jedweder Art Gesellschaft – und alle sind auf mannigfache Weise untergegangen, um erst dann neue entstehen lassen zu können (Kausalität). Alle Weltreiche gingen unter: Assyrien, Byzanz, Babylon, diverse asiatische Dynastien, Rom, Griechenland, Russland, Frankreich, Deutschland…usw..Und was kam dann ? Durchschnitt ?
    Wahhaftig – Sie haben mit dieser Ihrer Überlegung ein riesiges Problem benannt und ich frage mich: was käme nach unserer Durchschnitts-Demokratie ? Der Durchschnitt in DEU ist kaum noch zu übersehen (auch Sie beschreiben es ja hinlänglich in Ihren Kommentaren), es entsteht nun also nur die sich aufdrängende Frage (s.o.) – was dann in Folge?
    Ich gebe zu, dass mich aufgrund momentan politisch nicht sehr erfreulicher Entwicklungen einige Sorgen umtreiben (Entwicklung wäre ja per se positiv, aber das ist es eben leider nicht!).
    Kommen wir auf Kirche zurück, dann meine ich – und Wolff geht seit Jahren mit anderen wachen und pastoralen Kolleginnen/Kollegen genau den Weg der Aufforderung zur Problemlösung – müsste endlich, endlich Kirche aufwachen und sich dem von Ihnen völlig richtig resümierten Durchschnitt entgegenzustellen z.B. mit den Begriffen Humanität, Ethik, Moral, die es gilt in Erinnerung zu rufen, nicht nur thematisiert in Predigten oder Kanzelreden oder in Universtäten oder im Religionsunterricht in den Schulen, sondern dazu animieren könnten/sollten, auch im säkularisierten Gesellschaftsbereich darüber nachzudenken.
    Zuletzt noch eine kleine Intervention zu dem von Ihnen wiederholt benutzten Begriff Korpsgeist. Sie nehme es mir bitte nicht übel, aber da werden in mir Assoziationen geweckt, die weniger gut sind.
    „Esprit de corps“ meint etwas durchaus positives, allerdings per definitionem eine zunächst neutrale, dann jedoch eine in sich abgeschlossene, sicher auch emotionalisierte Gemeinschaft gleichen Standes (so jedenfalls meine Wahrnehmung und Kenntnis). Burschenschaften personifizieren den Korpsgeist – was da so passiert, muss ich Ihnen sicher nicht erklären.

    Ich bin erfreut und dankbar, dass Chr. Wolff mit seinem Blog sehr wichtiges initiiert hat, nämlich den Diskurs!
    Gutes Wochenende mit nicht zu heftiger Hitze – Jo.Flade

  11. Lieber Christian,
    eine Krise kommt selten allein.
    Ohne die „Coronakrise“ würden wir wohl weiter über die massenhaften Austritte aus den beiden noch großen Kirchen orakeln, aber nun haben selbst durch Erziehung und Tradition eng an diese Institutionen gebundene Menschen erlebt: Die Kirchen sind (nur) Spiegel der Gesellschaft. Der einzige Unterschied ist, trotz der zunehmenden Verwerfungen in unserer Gesellschaft kann ich aus dieser nicht austreten, aus der Kirche aber schon.
    Es ist eben nicht allein die antiquierte Sprache, die die Kirche bzw. ihre Botschaft unverständlich oder nicht verstehbar macht (sonst würden z.B. die Bach´schen Kantaten und Lieder von Paul Gerhardt sich nicht einer so hohen Beliebtheit erfreuen), es sind die leeren, will sagen Geist- losen Worte und das fehlende Handeln, die befremdlich nicht nur auf Außenstehende wirken:
    In der für alle sichtbaren Abteilungen unseres gesellschaftlichen Lebens, wo Diakonie und Caritas im Wesentlichen nichts anderes verrichten, als DRK, Arbeiterwohlfahrt, Volkssolidarität und zunehmend immer mehr profitorientierte Unternehmen es auch tun, wird es den Kirchen schon lange vorgehalten, dass die kirchlichen Träger nicht anders sind. So war es aus meiner Sicht auch kein Zufall, dass z.B. die Hospizbewegung von den Kirchen erst entdeckt wurde, als sie nicht mehr zu übersehen war. Als Geschäftsführer des Hospizes Villa Auguste in Leipzig musste ich erleben, dass von Sterbenden gerufene PfarrerInnen nicht ins Hospiz kamen. In diesem Teil meines Arbeitslebens habe ich immer wieder die Erfahrung gemacht, dass die allermeisten Menschen spirituelle Bedürfnisse haben, religiösen Beistand wünschen.
    Wie oft müssen Menschen in Krisensituationen, am Ende ihres Lebens, in Krankenhäusern, bei Beerdigungen die wortreiche Sprachlosigkeit der kirchlichen Spezialisten erleben. Wo bleiben die glaubwürdigen Zwischenrufe für eine Veränderung des Zusammenlebens in unserer Gesellschaft, für die die Kirchen auch einstehen?
    Und nun Corona! Am Anfang war das Wort…
    In der deutschen Sprache gibt es (sicher beabsichtigt) die Worte „Glauben“ und „Wissen“. Umgangssprachlich wird bei der Verwendung der Worte oft kein Unterschied gemacht. In der Kirche auch nicht mehr. Es scheint die Kirchen wolle vom Glauben nichts mehr wissen. Der Wissenschaft (von deren Vertreter viele selbst einräumen, über die aktuelle Situation wenig zu wissen) wurde bedingungslos Vorrang gegeben, Seele und die Ganzheitlichkeit des Menschen können warten, bis alles vorbei ist. Im vorauseilenden Gehorsam wurde für die Kirchen Unverzichtbares aufgegeben: Das Spenden der Sakramente Taufe und Abendmahl (Krankensalbung). Die Sakramente, die den Kirchen angeblich so heilig und wichtig sind, so wichtig, dass der kleine Unterschied in der Dogmatik um die Sakramente das Zusammenkommen der Kirchen sprich die Oekumene verhindert! Wer soll das noch verstehen?
    Mit dem Schließen der Kirchen und vor allem dem Einstellen des Ausspendens der Sakramente verkümmerte auch die Seelsorge an den Alten und Kranken, wurden psychisch Belastete in tiefer Isolation alleingelassen. Das Ganze bekam noch eine theologische Dimension und wurde Barmherzigkeit, Schutz von Leben genannt.
    Die Sprachlosigkeit der Kirchen im Bezug auf die Grenzbereiche des Lebens fällt selbst Menschen auf, die nicht kirchlich sozialisiert sind. Hier braucht es nicht allein eine neue Sprache, hier braucht es Glauben.
    Und so gehe ich davon aus, dass der ungebremste freie Fall der Kirchenaustritte auch in diesem Jahre sich fortsetzen wird.
    Das Gute zum Schluss. Es gibt, Gott sei Dank, vielerorts Gemeinden mit regem Leben, emsige, kreative und überzeugende Pfarrerinnen und Pfarrer, Gemeindepädagoginnen und Pädagogen, viele, viele Ehrenamtliche, Einrichtungen von Diakonie und Caritas, die mehr tun, als das, was sie von den Kostenträgern erstattet bekommen, christliche Schulen, in denen engagiert geistiges und geistliches Rüstzeug zur Verfügung gestellt wird. Aber das entspricht nicht dem Gesamtbild der Kirchen. Es braucht Glaube, Liebe, Hoffnung, gut ausgebildete Menschen, die diese in die Gesellschaft tragen.
    Stefan Hüneburg

  12. Lieber Herr Wolff, ein wichtiges Thema, das Sie da kompetent anschneiden und zu dem Sie auch viele konstruktive Lösungs-Vorschläge angeregt haben, vor allem die von Axel Denecke, Eberhard Merz und Andreas Schwerdtfeger. Wenn ich als ziemlich „unfrommer Nicht-Ausgetretener“ dazu noch was sagen will , dann nur kurz folgendes:
    1. In einem weiteren Reformationsschritt sollte sich die ev. Kirche m. E. konstruktiv mit den neuesten naturwissenschaftlichen Erkenntnissen, vor allem der Evolutionslehre, auseinander setzen und z. B. das Glaubensbekenntnis von altertümlichen Aussagen wie der Jungfrauengeburt Jesu und der körperlichen Auferstehung frei machen.
    2. Die Kirche muss unbedingt überparteilich bleiben.
    3. Die Kirche muss ihre Mitglieder wieder mehr zum Tatchristentum als zum Wortchristentum anleiten. Ein Beispiel, das mich zuversichtlich stimmt, ist diese WhatsApp-Nachricht, die meine Tochter (Mutter von vier Kindern, die als Krankengymnastin vor allem alte Menschen betreut) dieser Tage bekam und die auch viele andere Menschen verdienen, die vorbildlich ihren christlich motivierten Dienst am Nächsten leisten:
    „Liebe. X.,
    die schwere Zeit für Y in der Corona Krise und sein Tod liegen jetzt schon 2 Monate zurück. Mir fällt es immer noch schwer daran zu denken, wie sehr er unter der Isolation und Einsamkeit gelitten hat.
    Sie waren in seinen letzten Wochen und Tagen so bemüht, ihm etwas Erleichterung zu verschaffen. Doch seine Kraft reichte nicht mehr.
    Ich möchte Ihnen für die liebevolle Zuwendung ganz herzlich danken. Y ist jedes Mal glücklich und zufrieden gewesen nach Ihrer wohltuenden Behandlung. Gerade in der schlimmen CoronaPhase, als die Pfleger durch völlige Überforderung keine Zeit für gute Betreuung hatten, war das ein kleiner Lichtblick. !DANKE!
    Ihnen wünsche ich weiterhin Freude und Erfolg und vor allem bleiben Sie zuversichtlich.
    Ihre Z“
    In dieser Hoffnung herzliche Grüße Ihr Hans v. Heydebreck

  13. Ich lebe in NRW und gehöre zu einer Kirchengemeinde in Duisburg-Rheinhausen. Einer ihrer Pfarrer (mittlerweile im Ruhestand) brachte vor Jahren mit Blick auf z. B. unser „Gottesdienstprofil“ einen einfachen, aber mich durchaus überzeugenden Vergleich: wir haben innerhalb de ARD in NRW den WDR mit 5 Programmen: Eins live, WDR 2, WDR 3 (Klassiksender), WDR 4 (mehr U-Musik-Sender) und WDR 5 (überwiegend Wortbeiträgesender). Der Pfarrer meinte, dass unsere ev. Gottesdienste überwiegend WDR 3 (mein geliebter Bach) und WDR 5 („Kirche des Wortes“ ;-)) -Publikum „bedienen“. Die anderen Sender mit ihren Zielgruppen kommen im Protestantismus eher selten vor. – Allerdings schon 20 Jahre her war ich mal als Referent zum Thema „Sucht“ in eine Go-Special-Gottesdienst einer Frankfurter (Main) Gemeinde eingeladen. Es war ein heißer Sommertag und ich dachte, das wird vom Publikum her überschaubar sein. Vom der theologischen Ausrichtung her ist diese Richtung nicht so meins. Aber ich war erstaunt. Der Gottesdienst fand nicht in der alten 300-Plätze-Kirche (Denkmal) statt (da zu klein), sondern in der benachbarten Stadthalle mit 800 Plätzen. Und das um 15.00 Uhr und um 17.15 Uhr. Und beides voll, Wie gesagt, theologisch nicht so meins, aber von der Vorbereitung und Präsentation her sehr gut. Ich fragte dann die „Verantwortlichen“ nach den anderen Gottesdiensten. Da war man „stilistisch“ sehr stringent: 1 x mtl GoSpecial, 1 x mtl Predigtgottesdienst mit Kantate (WDR 3), 1 x mtl. Jugendgottesdienst und 1 x mtl. Familiengottesdienst. Und alle Gottesdienste waren derzeit gut besucht. Auch der Kantatengottesdienst machte die Kirche immer „voll“. Ich glaube, wir überfordern uns, wenn wir mit einem Gottesdienstformat „synstilistisch“ alle zusammenführen wollen. Schon die Evangelien waren für unterschiedliche Zielgruppen/Miieus geschrieben. Das sollten wir als Kirche auch für unsere Arbeit bedenken und in den Gemeinden sehr viel stärker auf die soziologische Zusammensetzung achten und vielleicht auch Milieuanalyse „betreiben“. Ich als Theologe und Religionspädagoge mit Ordination zum Prädikanten „liebe“ den klassischen Predigtgottesdienst (gern politisch) mit Bach-Chorälen und Paul-Gerhardt-Texten. Anderen „gibt“ das aber wenig bis nichts. Wir müssen da wohl „multikultureller“ werden – in einem Geist.Im Sinne von „Ein WDR – Fünf Programme“
    Das sind Gedanken, die mich schon länger bewegen.
    Norbert Sinofzik

  14. Es sind interessante Fragen aufgeworfen:
    – Muß man zwischen Kirche (Organisation) und Glaube (Inhalt) unterscheiden? Ich glaube ja, denn vielen paßt die Organisation wenig; der Inhalt dagegen ist durchaus Lebensgrundlage. Hinzu kommt – aber das hatten wir schon – das Unverständnis der „Kirche“, also der Amtsträger, dafür, daß sie Leitung in Glaubenssachen und Ethikfragen bieten müssen, Anleitung und Bevormundung in politischen Fragen aber eben nicht. Was wurde hier neulich richtig festgestellt: „Ich trete ja auch keiner Partei bei, deren politische Überzeugungen ich nicht teile“.
    – Welche Rolle spielt das Geld? In sowieso schon sehr materialistischen Zeiten kommen Krisenlagen wie die jetzige ungünstig hinzu. Sparen ist angesagt – ein Problem, das ja auch Gewerkschaften kennen. Die zwangsweise Einbehaltung eines Teiles des Lohnes erinnert an die öffentlich-rechtlichen Fernsehanstalten, die als einzige in unserem Lande „Zwangs-pay-TV“ sind, aber von sich selbst immer als „frei empfangbare Sender“ reden (ich bin wohlgemerkt dafür, aber Ehrlichkeit wäre trotzdem angebracht). Kirche ist eben nicht „frei empfangbar“, Glaube schon (wenn auch vielleicht in jeweils sehr persönlicher „Färbung“).
    – Die „vorangeschrittene Individualisierung“(Wolff) ist ein weiterer Grund. Kirche (mehr noch als Glaube, so scheint mir) ist Gemeinschaft; Glaube ist umfassende Bildung des Menschen in Charakter und Haltung und damit über gemeinsame Riten hinaus sehr persönlich. Unsere Gesellschaft aber propagiert das Individuum (über der Gemeinschaft) und die Ablehnung der Bildung als umfassendes und unteilbares Ganzes zugunsten von Einzelzielen und Einzelinteressen und ohne Rücksicht auf die Zusammenhänge und Verknüpfungen und unter Vernachlässigung der Gemeinschaft.
    – unsere ganze „Lebenskultur“ heutzutage ist auf das Jetzt ausgerichtet, auf das Hier und Heute. Transzendentales hat da sowieso schlechte Karten. Die verbindenden Linien aus der Vergangenheit (Geschichte und Tradition) in die Zukunft (maßvolle aber mutige Weiterentwicklung und Anpassung der Schwerpunkte) ist durch Radikalität in beiden Richtungen (Umdeutung der Geschichte nach heutigen Maßstäben)(Überbetonung einzelner Ziele zuungunsten anderer) gekennzeichnet. Die „How dare you“-Philosophie, intolerant und einseitig, nimmt überhand. Eine Gesellschaft, in der sich jeder benachteiligt fühlt, weil seine Ziele nicht dominant sind, ist eben nicht wirklich christlich, auch nicht wirklich gemeinschaftlich.
    – Und schließlich, in der Tat, Sprache und der ewige Gegensatz zwischen Festigkeit und Anpassung. Die katholische Kirche bleibt fest – Sakramente, Frauen, Riten – und akzeptiert, daß die jungen Leute zwar zuhauf zum Papste hineilen, aber in Wirklichkeit ihn nicht hören, weil veraltet. Die evangelische Kirche – freiheitlich, auf individuelle Verantwortung bauend – verfällt in die Beliebigkeit und den Opportunismus, weil sie Angst vor Regeln (= Verantwortung) hat, und akzeptiert, daß die jungen Leute sie eben als beliebig verstehen und auffassen: heute so, morgen anders.
    Führen – oder anders ausgedrückt: Anleiten ohne Einengung, Richtung und Ziel geben ohne Wege auszuschliessen, zusammenhalten und vereinen ohne Vielfalt einzuengen, motivieren und voranbringen ohne Initiative abzuwürgen, Autorität mit neugieriger Großzügigkeit verbinden ohne Weitschweifigkeit zuzulassen, Korpsgeist entwickeln ohne elitäre Überheblichkeit zu begründen – ist eine Wanderung auf schmalem Grad, die sowohl überzeugende Ziele als auch überzeugende Persönlichkeiten braucht. Ziele zu setzen, die andere Ziele als gleichberechtigt anerkennen und mit den eigenen verknüpfen (anstatt sie aggressiv auszuschließen) ist heutzutage – leider – ebenso schwierig und selten wie Persönlichkeiten nach vorne zu bringen, die mit Augenmaß und Festigkeit das Wichtige bei Gewährung großen Denk- und Handlungsspielraums im Blick behalten und dadurch überzeugen und Gefolgschaft ermöglichen. Unsere Gesellschaft aber versinkt im Durchschnitt – und im Durchschnitt sind weder Kirche noch Glaube noch sonstige hehre Maßstäbe gefragt. Aber ist nicht Demokratie Durchschnitt?
    Mit herzlichem Gruß,
    Andreas Schwerdtfeger

  15. Ich bin mir nicht sicher, ob es zweckmäßig ist, als garantierter Nichtheologe mich hier zu Wort zu melden. Ich tu es aber trotzdem, weil mich die Fragestellung interessiert und umtreibt. Also:

    Was mir fehlt, ist die Überlegung, dass es den Menschen (bei uns) so gut geht wie noch nie. Sie haben keinerlei Not. (fast alle). Deshalb brauchen sie keine Religion, an die sie sich wenden können, weil es ihnen schlecht geht, weil sie oder wenn sie Hilfe brauchen. Also, was soll die Kirche? Sie kostet nur.

    Interessant wäre m.E. eine Untersuchung, wie viele Menschen – obwohl sie (resp. der Verstorbene) der Kirche schon längst den Rücken zugewandt haben, um die Kirchensteuer zu sparen – in einem Trauerfall zum Pfarrer gehen, weil man das so macht, weil man nicht zugeben will, dass man keine Kirchensteuer mehr zahlt oder weil man dann letztlich vielleicht doch denkt, dass es in jedem Fall nicht schaden kann, mit einem Segen beerdigt (oder getraut??) zu werden.

    Axel Denecke bringt das in seinem Response ganz prima auf den Punkt: Zum Glauben brauche ich keine Kirche – jedenfalls nicht die derzeitige, deren Mitglied ich sein soll.

    Auch Thomas Linke hat gewisslich recht, wenn er sagt, dass es in ganz vielen Lebensbereichen Sondersprachen gibt, für die sich die Menschen interessieren, weil sie diese brauchen oder weil sie diese interessant finden. Für die Sprache der Kirche gilt das nicht oder zumindest weniger. Zudem das ja auch noch was kostet.

    1. Ein paar Anmerkungen:
      1. Mit dem Wohlstand verlieren sich die Fundamente des Lebens im Nebel des Selbstverständlichen. Das ist sicher ein Problem. Aber auch wenn es den Menschen materiell gut geht, müssen wir uns immer wieder über Grundwerte verständigen. Wenn aber die Herleitung der Grundwerte nicht mehr klar ist oder viele Menschen nicht wissen, worauf sie zurückgreifen können, wird es schwierig. Hier hat Kirche eine große Verantwortung wahrzunehmen.
      2. Was die Trauer angeht ist es noch viel dramatischer, als Sie annehmen: In Deutschland lassen sich 25 % der Kirchenmitglieder nicht mehr kirchlich bestatten. In Großstädten (von Leipzig weiß ich es ganz genau) sind es über 50 %. D.h. wir haben den Kontakt zu ganz vielen Menschen verloren und auch unsere seelsorgerische Kompetenz. Die Zeiten, dass Menschen nur deswegen in der Kirche bleiben, weil sie eine kirchliche Bestattung möchten, sind mE längst vorbei.
      3. Im Gegensatz/Ergänzung zu Axel Dennecke bin ich schon der Meinung, dass Kirche missionarisch auftreten muss – nach dem Motto: nur wer überzeugt ist, kann überzeugen. Wir sind da zu defensiv. Ich selbst habe da die Faustregel: Wir müssen fundamental und elementar über den Glauben sprechen/für ihn werben, ohne fundamentalistisch oder banal zu werden.

  16. Nachtrag: Jenseits der Eiszeit des Geldes wäre auch die Unterscheidung zwischen Ossi und Wessi obsolet, weil sich Barmherzigkeit und Solidarität einander nicht ausschließen.

    1. Offiziell wurde in der DDR die Solidarität großgeschrieben. Wie heißt es in der Internationale?

      Es rettet uns kein höh’res Wesen,
      kein Gott, kein Kaiser noch Tribun

      Hinzu kam die Vergötterung bestimmter Wissenschaften (sicher nicht die der Psychologie) durch die Kommunisten, die sogar den Lauf der Geschichte durch ihren „Wissenschaftlichen Kommunismus“ glaubten gestalten zu können. Ich erinnere mich noch wie ein Lehrer in vollem Ernst uns Kindern im Jahr 1961 sagte, Gagarin habe bei seinem Weltraumflug keinen Gott gesehen. Wer an ihn glaubte, wurde als dumm verspottet, nicht nur von den Lehrern, auch von den meisten anderen Kindern. Wer will schon – nicht nur als Kind – als dumm gelten? Schon in den 12 Jahren Nazi-Barbarei waren die Gläubigen dem Druck der Nihilisten ausgesetzt. Hinzu kamen 40 Jahre kommunistische Unkultur.

      1. Wenn wir uns darin einig wären, Auswege aus der Eiszeit des Geldes suchen zu wollen, dann können Sie meinen zweiten Halbsatz doch als Plädoyer für die Toleranz auffassen. Wenn es den Stein der Weisen nicht gibt, möge doch jeder im Sinne von Lessings Ringparabel nach seinem Stein leben.
        Menschen mit Stein haben Ziele, dennoch können sie irren. Ohne Stein irren sie vereinzelt und ohne Ziel umher – das Geld wird zum Ziel, Kirchen und Parteien werden entbehrlich.
        Das Menschenrecht können Menschen nur gemeinsam erkämpfen. Spielt es aber eine Rolle, ob der Mensch für die Bewahrung der Schöpfung eintritt oder dafür, als boni partre die Erde den Kindern in einem besseren Zustand zurückzugeben?

  17. Ist es nicht so, dass das Geld an die Stelle Gottes getreten ist und wir deshalb nur noch die Wahl zwischen einem die Transzendenz verachtenden Liberalismus und verschiedenen die Immanenz verachtenden Fundamentalismen haben ?

  18. Bei mi ist das Interesse geweckt. Deswegen (bitte Verzeihung!) mein 3. Kommentar in stenopgrafischer Kurzform. 1. Einverstanden, Herr Wolff: im „Osten“ liegt das Problem noch etwas anders als im „Westen“. Ich bin (leider?) kein Ossi. Doch sind die alle a-religiös, auch wenn für sie Kirche ein Frendowrt ist? 2. Zur Sache (Kurzform): a. Kirchenaustritt heißt nicht automatisch Negation des Glaubens oder Negation Christi, oft sogar im Gegenteil (vgl. Hamburger Untersuchung, Kommentar 2 von mir). b. Es gibt (verkürzt gesagt) „sehr fromme Ausgetretene“ und „sehr unfromme Nicht-Ausgetretene“. c. Wir müssen BEIDE ernst nehmen und um sie werben. d. „Fromme Ausgetretene“ dürfen nicht missionarisch in die Kirche zurück genötigt werden, sondern müssen in ihrer Entscheidung respektiert und akzeptiert werden. e. Wir müssen eine ortsgemeindebezogene „Sympathie-Mitgliedschaft“ selbst ausgewählter Gemeinden (z.B. eben Thomas/Leipzig) schaffen, die dem jeweils eigenen „Glaubensstandard“ entsprechen, so das man auch ohne offiziell (Volks)Kirchenmitglied zu sein, ad hoc einer Gemeinde angehören kann (Also statt anonymer Kirchenmitgliedschaft eigenständig gewählte sehr persönliche Gemeindemitgliedschaft). f. Es muss eine „Mitgliedschaft auf Zeit und an Ort“ geben („Schnuppermitgliedschaft“ von einigen genannt). g. Und am Ende vor allem: Glaube und Christus gehen nicht unter, wenn Kirche untergehen sollte und ALLE austreten. Gelassenheit ist hier das Gebot und Verzicht (Relativierung) auf Fixierung auf verfasste Kirche. — Das alle ist aber ganz grob gesgat, denn es ist ein ganz, ganz weites Feld.
    Axel Denecke ( zum Dritten mal)

  19. Hallo, miteinander,
    wenn ich den Artikel und die Kommentare lese, denke ich an das Singen der ängstlichen Kinder im Walde. Ich sehe bei niemandem einen Weg, der aus dem Wald hinausführt. Die Problemanzeigen stimmen zwar, doch wir stecken im Dickicht.
    Unser Institut untersuchte in den 70er Jahren die erste große Austrittswelle von 68-70. Das taten wir noch under cover: Die Befragten – und auch die Interviewer – sollten nicht erkennen können, dass es um Kirchenaustritt geht. Der galt damals noch als befremdlich. Heute nicht mehr – und das ist der große Unterschied. Heute ist Kirchenmitgliedschaft erklärungs¬bedürf¬tig.
    Ich engagiere mich für die Opfer in kirchlichen Einrichtungen. Man nimmt mir ab, dass ich nicht zur „Behördenkirche“ gehöre. Doch wenn ich mir anschaue, wie Kirchenleitungen auf diese Problematik reagieren ( https://dierkschaefer.wordpress.com/2020/05/05/die-kirche-braucht-hilfe-um-wieder-ehrlich-zu-werden/ ), wenn ich sehe, wie meine Kollegen sich wegducken, dann frage ich mich auch, warum ich in diesem Verein bin. Doch schon: Ich verstehe mich als Pfarrer für gerade diese Menschen.
    Dazu kommt, dass eine Kirche, „die solche Juristen hat, keine Feinde braucht“: https://dierkschaefer.wordpress.com/2019/12/14/eine-kirche-die-solche-juristen-hat-braucht-keine-feinde/ .
    Auch ein Blick in die Mitgliedschaftsumfrage der EKD stimmt nicht zuversichtlich. https://dierkschaefer.wordpress.com/2014/03/12/eine-zeitdiagnose-die-mitgliedschaftsumfrage-der-ekd/
    Der Mainstreanmeinung zum Recht auf Sterbehilfe wurde immerhin im Pfarrerblatt kompetent widersprochen – das kam von einem Theologieprofessor – noch dazu emeritiert, nicht von einem der Bischöfe oder gar von der EKD. https://www.pfarrerverband.de/pfarrerblatt/archiv?tx_pvpfarrerblatt_pi1%5Baction%5D=show&tx_pvpfarrerblatt_pi1%5Bcontroller%5D=Item&tx_pvpfarrerblatt_pi1%5Bitem%5D=4992&cHash=b7b3ef3bbd8480648c70c0821daf673b
    Diese Kirche kann man wirklich nur „mit gebrochenen Herzen“ lieben.
    Was übrigens hätte man zu Corona theologisch-seelsorglich sagen können? Mir fällt dazu nichts ein.

    1. Mein Kommentar war auch als Test gedacht und hat leider meinen Erfahrungen entsprochen: Beim Thema Misshandlungen und Missbrauch in kirchlichen Einrichtungen versagen nicht nur die Kirchenleitungen, sondern auch die Kollegen, sie ducken sich weg. Bloß nicht reagieren. War da überhaupt was? Drastisch gesagt: Da hat jemand gefurzt und man überdeckt die Peinlichkeit durch Geschwätz. Ich finde das peinlich. Offensichtlich braucht nicht nur die Kirche, sondern auch die Kollegenschaft einen Anstoß von außen. https://dierkschaefer.wordpress.com/2020/05/05/die-kirche-braucht-hilfe-um-wieder-ehrlich-zu-werden/

      1. Schon ein bisschen merkwürdig: Da lässt jemand einen Versuchsballon steigen (Test) und weiß offensichtlich das Ergebnis schon vorher: Wenn jemand u.a. auf das Thema sexueller Missbrauch in kirchlichen Einrichtungen nicht eingeht, ist damit alles, was er sonst äußert, „Geschwätz“. Man kann sich streiten, was nun peinlicher ist: eine solche Diskussionsweise oder das bewusste Aussparen eines Teilaspektes des diskutierten Themas. Dass auf den Aspekt „Missbrauch“ kaum ein anderer Kommentator eingegangen ist, liegt vielleicht auch daran, dass für die Kommentatoren (ich zähle mich selbst dazu) mit diesem Thema, also dem von der Kirche zu verantwortenden sexuellen Missbrauch, bisher nicht konfrontiert worden ist, und dass der Kommentar von Dierk Schäfer reich bestückt ist mit Links zu eigenen Artikeln. Letzteres wirft dann schon die Frage auf, worum es ihm eigentlich geht. Keine Frage: Das Thema „Missbrauch“ spielt bei den Kirchenaustritten eine Rolle – aus meiner Sicht in der evangelischen Kirche aber nicht eine entscheidende. Doch darüber kann man trefflich streiten. Hinzu kommt, dass wir gesellschaftlich mit einem weiteren Missbrauchsthema konfrontiert sind: Kinderpornografie und Kindesmissbrauch im Netz. Das allerdings nimmt Dimensionen an, die eigenständig betrachtet und diskutiert werden müssen. Christian Wolff

        1. Nun, immerhin eine Antwort, lieber Kollege.
          Mein Kommentar war AUCH als Test gedacht. Die Hoffnung stirbt wohl zuletzt. Meine lebt noch (ein bißchen). Darum wende ich mich auch zuweilen an kirchliche Adressen. Wenn Sie meine Links befremden (?), will ich gern nachlegen. Vor mittlerweile 10 Jahren veröffentlichte ich:
          Die Kirchen und die Heimkinderdebatte, Scham und Schande, Deutsches Pfarrerblatt – Heft: 5/2010 , https://www.pfarrerverband.de/pfarrerblatt/archiv?tx_pvpfarrerblatt_pi1%5Baction%5D=show&tx_pvpfarrerblatt_pi1%5Bcontroller%5D=Item&tx_pvpfarrerblatt_pi1%5Bitem%5D=2812&cHash=c4b8ff246ada75f62f33c0149af7be98
          Das war noch vor dem Missbrauchs-Tsunami. Unsere evangelischen Kirchen waren mit ihren Einrichtungen ökumenisch gut vertreten. Ich bekam aber von unserer Seite keinerlei Reaktion.
          Als ich mit einem Kollegen darüber sprach, meinte der, da sei doch wohl überwiegend die katholische Kirche betroffen. Absolut nicht.
          Auch beim Missbrauch sind wir nicht außen vor. Wer das Thema verfolgt, weiß das. Ich rezensiere gerade eine Veröffentlichung über eine evangelische Einrichtung. Sie taugt zur Festschrift (war auch zum Firmenjubiläum), hat aber den Missbrauch nicht gesehen, die Akten gaben das merkwürdigerweise wohl nicht her. Diese Einrichtung taucht mehrfach und schon recht früh in meinem Blog auf. Mein erster Satz zu der ansonsten brav und gründlich erarbeiteten Studie (kirchen- wie sozialgeschichtlich sehr interessant) wird ein Zitat nicht aus der Studie sein: „Ich war von 1963 bis 1964 „nur“ 10 Monate im Knabenpuff der warmen Brüder (mir springt wieder Hass ins Gehirn, dieses Drecksäue sind heute noch so drauf wie damals).“ Der Mann ist kein Einzelfall. Er nennt Namen. Die Autoren haben in einer Vielzahl ähnlicher Studien die Misshandlungen an den Heimkindern getreulich vermerkt. Ich frage mich – werde sie fragen – ob Missbrauch in geballter Form ihnen zu peinlich war.

          Sie haben Recht: „Das Thema „Missbrauch“ spielt bei den Kirchenaustritten eine Rolle – aus meiner Sicht in der evangelischen Kirche aber nicht eine entscheidende.“ Ehemalige misshandelte Heimkinder oder missbrauchte fallen statistisch nicht sonderlich in Gewicht. Wenn das ein Grund ist, wegzuschauen, dann brauchen wir nicht weiter zu kommunizieren. Falls Sie doch hinschauen wollen: Auf Wunsch von Helmut Jacob habe ich Jahr für Jahr einen Weihnachtsgruß für seine Gruppe verfasst. Ich hatte ihn gewarnt: Bei einem Weihnachtsgruß schreibe ich als Pfarrer! Ob Sie mehr über Helmut Jacob lesen mögen, weiß ich nicht: Dieser Christ bekam, obwohl ausgetreten, eine ordentliche, ihm angemessene Trauerfeier in der Kirche seiner Diakonie-Einrichtung
          https://dierkschaefer.wordpress.com/2017/10/18/helmut-jacob-ist-tot-ein-nachruf/
          https://dierkschaefer.wordpress.com/2017/11/28/ein-nachruf-waere-angemessen-gewesen-doch-die-groesse-zur-demut-hatten-sie-nicht/

          Sie schreiben: „Hinzu kommt, dass wir gesellschaftlich mit einem weiteren Missbrauchsthema konfrontiert sind: Kinderpornografie und Kindesmissbrauch im Netz.“ Das ist ein wichtiges Thema, finden Sie auch in meinem Blog. Da scheinen unsere Kirchen fein raus zu sein. Doch wir wissen beide nicht, wie viele Pfarrer unter den 30.000 Verdächtigen/Konsumenten sind.
          Doch bald kommt der nächste Tsunami: organisierte klerikale Pädokriminalität mit Buchführung und Kassierung des Hurenlohns für bereitgestellte Kinder durch einen Nonnenorden. Doch das trifft nur unsere Glaubensbrüder vom anderen Gesangbuch.

          Warum geht uns das alles etwas an? Wir haben es mit einer Tat- und Verantwortungskette zu tun. Am Beginn stehen die Täter, für die kann die Kirche nur bedingt etwas. Dann kommt die Leugnungs- und Abwehrfront. Das sind nicht nur die kirchlichen Einrichtungen, der Staat hat mitgezogen. Jetzt sind wir in der Phase der Verzögerung von Zahlungen: Jeder Tote spart uns Geld. Unsere Kirchen und ihre Einrichtungen sind in die Fußstapfen der Täter geschlüpft.

          Sie waren bisher nicht konfrontiert mit dem Thema? Nun endlich sind Sie es. Ich bin gespannt auf Ihre Reaktion.

          Was meinen Sie übrigens, wenn Sie sagen: „Letzteres wirft dann schon die Frage auf, worum es ihm eigentlich geht“? Die Frage scheint mir verräterisch. Was insinuieren Sie damit? Wenn Sie das geklärt haben, will ich gern darauf antworten.

          1. Lieber Herr Schäfer, in Ihrer Zeit als Akademieleiter in Bad Boll werden Sie sicher Menschen begegnet sein, die – obwohl das Thema ein anderes war, ihr Spezialthema anbrachten, das sie für das eigentlich wichtige, entscheidende gehalten haben. Also Beispiel: Sie haben einen Vortrag/Tagung zum Thema Missbrauch in der Kirche und jemand meldet sich aber und sagt immer wieder: das eigentliche Versagen der Kirche besteht darin, das sie sich als Teil des kapitalistischen Wirtschaftssystems versteht. Wenn dann kein Mitdiskutant darauf näher eingeht, sieht sich dieser „jemand“ darin bestätigt, dass keiner bereit ist, sich mit dem eigentlichen Problem auseinanderzusetzen und deswegen ist dann alles, was in der Diskussion zur Sprache kommt „Geschwätz“. Genau so habe ich Ihren Kommentar empfunden: den von mir verantworteten Blog zu nutzen, um Ihr Thema zu setzen. Das ist durchaus legitim. Nur müssen Sie dann ertragen, dass nicht jeder darauf anspringt. Mag sein, dass ich Ihnen damit Unrecht tue und vor allem dem unbestritten wichtigen Thema Missbrauch in der Kirche und seine Aufarbeitung nicht genüge. Ich verkenne auch keineswegs, dass Sie offensichtlich an diesem Thema sehr nah dran sind und anderen einen neuen, klaren Blick vermitteln wollen und vor allem können. Aber aus der Tatsache, dass nicht jeder auf Ihr Thema anspringt, zu schließen, dass Sie nach wie vor der einsame Rufer in der Wüste bleiben, den das umtreibt, und darum alles andere „Geschwätz“ ist, ist in meinen Augen unredlich, zumindest wenig überzeugend. Mit freundlichen Grüßen Christian Wolff

  20. Ich glaube, wir reden etwas aneinander vorbei. Es geht mir weniger (nein, eigentlich gar nicht) um die Nichtwertschätzung der verbleibenden Kirchenmitglieder (also die gebotene sorgfältige Mitgliederpflege). Ich unterscheide bei denen auch nicht zwischen echten und unechten Christen, unterstelle wie Sie zunächst echten Glauben. Es geht mir um die Wertschätzung der nun einmal real Ausgetretenen (sorgfältige Nichtmitgliederpflege). Nach verlässlichen repräsentativen Untersuchungen (in HH) treten ca. 40 % aus, weil „Glauben und Kirche“ nicht ihr Ding sind, aber 60%, weil „Glaube“ ihnen durchaus wichtig ist, die „Kirche“ aber ihren Glauben nicht überzeugend repräsentiert und sie leider enttäuscht, ihr deswegen den Rücken kehren und ein „Privat-Christentum“ frönen. Wir müssen uns daher besonders auch (natürlich nicht nur) um die Ausgetretenen kümmern (ohne sie missionarisch zum Wiedereintritt zu nötigen), die sich definitiv als „Christen“ bekennen. Sich darüberhinaus wie selbstverständlich auch um die zu kümmern, die noch dabei sind und Kirche treu finanzieren, ist selbstverständlich. Die Alternative ist nicht: Ernstnehmen der Menschen in ODER außerhalb von Kirche, sondern Ernstnehmen des Glaubens in UND außerhalb der Kirche. – Aber dies Thema ist im Grunde zu diffizil, um es kurz auf diese Weise abzuhandeln
    A.Denecke

    1. Danke für die Klarstellung. Da kann ich nur zustimmen. In Ostdeutschland kommt allerdings noch ein Problem hinzu: Hier ist die meisten Menschen, die nicht der Kirche angehören, nicht ausgetreten. Sie haben nie dazu gehört und bewegen sich im religiösen Niemandsland. Aber das heißt nicht, dass sie keine religiösen Bedürfnisse haben (siehe Kommentar Katharina Hitschfeld). Christian Wolff

  21. Lieber Christian, wo die Institution Kirche hinführt, wenn die Kirchenaustritte so weitergehen, kann und will ich mir nicht wirklich vorstellen. Aber nicht nur manchmal frage ich mich, was hält mich, Mitglied der Kirche zu bleiben. Sechs mal im Jahr stecke ich den Gemeindebrief in die Briefkästen der offensichtlich schrumpfenden Zahl von Gemeindegliedern in meiner Wohngegend. Einmal davon mit einem Brief, der zur Zahlung von Kirchgeld auffordert, ein weiteres Mal mit einer Mahnung/Zahlungserinnerung. Für einige Mitglieder ist das hoffentlich nicht die einzige Begegnung mit der Gemeinde, zu der sie gehören.
    In der Zeit des Lockdowns habe ich von der Kirche nichts außer Wehklagen über zurückgehende Steuer- und Spendeneinnahmen gehört. Die Chance, in einer Krise Menschen zu erreichen, die orientierungslos sind, hat die Kirche aus meiner Sicht verpasst.

  22. Lieber Christian, was möchte ich dir in Umgang mit deinem Artikel sagen? Die Aussage, die Menschen vermissen nichts, wenn für sie die biblische Glaubenstradition genauso unbekannt sei wie Homers Sagen kann man natürlich beantworten mit: der Mensch kann nur das vermissen, was er kennt und ihm abhanden gekommen ist. Davon kann – zumindest vordergründig – in einer extrem säkularisierten Welt, in der Glauben bereits seit Generationen nichts Gelebtes oder Erfahrbares ist, keine Rede sein. Und trotzdem meine ich, dass dies zu guten Teilen eben nur vordergründig ist. Die allenthalben zu sehende Suche nach Etwas – eben nicht gut Beschreibbaren – zeigt doch vorhandene Leerstellen im Denken, Fühlen, Wahrnehmen vieler Menschen. Das Andocken bei eher esoterischen Sinnanbietern, der Erfolg der Selbstoptimierung verkaufenden und ein Massenpublikum fesselnden Coaching-Gurus weist doch darauf hin, dass etwas vermisst wird, für das man unter Umständen gar keine Worte mehr hat. Eben weil man es nicht kennt. Vielleicht auch weil die Sprache dafür fehlt.
    Ein spannender Dialog könnte entstehen, wenn Kirche nicht nur in den ökomenischen Dialog geht, sondern diesen auch mit einer Klientel sucht, die unter Umständen mit ihren Sorgen, Nöten, Sinnsuchen recht allein gelassen ist. Hier sehe ich einen missing link.

  23. Sie kommunizieren hier ein ganz, ganz wichtiges Thema, das mich als nun fast 82-jähriger alter Theologe seit über 50 Jharen schon quält und zu dem ich an alle möglichen Kirchenleitungen vergeblich Eingaben und Resolutionen geschrieben habe. Doch ihre „Lösungsvorschläge“ können mich nicht überzeugen. 1. Sie sind wie fast alle Kirchenprofis zu sehr auf offizielle „Kirchenmitglieder“ fixiert (wie das berühmte Kaninchen vor der Schlange) und beklagen die vielen Austritte. „Kirchen“austritt ist jedoch nicht automatisch Zeichen von „Glaubens“ferne, sondern nur von Unzufriedenheit mit der verfassten realen Kirche. Es gibt viele fest Glaubende auch außerhalb der offiziellen Kirche. Volkskirche (sofern man noch davon reden kann) ist NICHT der Glaubensmaßstab. 2. Wir müssen endlich die „Kirche“, besser: den Glauben außerhalb von offizieller Kirche a. wahrnehnmen b. ernst nehmen c. davon lernen. 3. Die Zukunft des christl. Glaubens in unserer Gesellschaft ist NICHT abhängig von offizieller Kirchenmitgliedschaft. 4. Existentielle Glaubensfragen werden heute nicht weniger, sondern nehmen zu. Es gibt keine „religiöse Verelendung“ der Menschen, im Gegenteil. – Dies alles nur ganz kurz hier. Ich erhoffe weitere differenzierte Diskussion.
    Axel Denecke

    1. Seit ich Pfarrer bin, habe ich mir angewöhnt nicht zu unterscheiden zwischen den „wirklichen“ Christen und den sog. Karteileichen. Für mich ist jedes Kirchenmitglied zunächst einmal ein/e überzeugte/r Christ/in. Er/Sie muss mich vom Gegenteil überzeugen. Das bedeutet: Wir müssen unseren Mitgliedern mit der gleichen Wertschätzung und Dankbarkeit gegenübertreten wie allen anderen Menschen auch. Ein Grund für die Kirchenaustritte ist auch, dass wir die schlichte Mitgliederpflege vernachlässigt haben. Dieses Defizit sollten wir uns nicht damit schönreden, dass wir uns jetzt auf die Glaubenden außerhalb der Kirche stürzen. Aber natürlich ist es ganz wichtig, dass wir jetzt sehr offensiv auch die Menschen ansprechen, die – wie Katharina Hitschfeld in ihrem Kommentar schreibt, auf der Sinnsuche sind und sich allein gelassen fühlen. Christian Wolff

  24. Lieber Christian,
    ich gebe dir völlig Recht, dass es schwer ist und unser Anspruch sein sollte, die kirchliche Sprache heutiger zu machen. Auf der anderen Seite, sollten wir aber gleichzeitig auch sagen: für gewisse Sachverhalte gibt es bestimmte Sondersprachen. Im Alltag der meisten Menschen ist es völlig klar, dass, um über Politik, Autos oder Computerspiele zu reden, es eine eigene Sprache braucht. Nur im religiösen Kontext besteht die Vorstellung, dass wir solche Dinge nicht bräuchten. Im Gegenteil. Um religiöse Fragen zu stellen, braucht es religiöse Sprache. Daher ist es wichtig, die Eckpunkte dieser Sprache zu identifizieren und erklärend in sie einzuführen und gewissen anderen Ballast von sich zu werfen. Die Definition, welche religiöse Sprache unverzichtbar ist, ist aber ein zutiefst individueller Vorgang, den jede Pfarrerin, jeder Pfarrer – eigentlich jeder Christ – machen muss. Und das ist anstrengend. Das Christentum modern zu gestalten ist anstrengender als das Christentum in seiner Tradition zu reproduzieren.
    Ich wollte dir nur mal meine Gedanken dazu mitteilen. An sich hast du völlig Recht und ich finde die Austrittszahlen auch alarmierend.
    Beste Grüße
    Thomas Linke

    1. Lieber Thomas, seit ich hier in Leipzig tätig bin, habe ich versucht, mich an eine hermeneutischen Faustregel zu halten: wichtige Glaubensinhalte (auch auf dem Hintergrund der Musik) so zur Sprache zu bringen, dass sie auch von denen, die „religiös unmusikalisch“ (Max Weber) sind, zumindest verstanden werden können. Außerdem fühle ich mich immer dann besonders herausgefordert, wenn ich außerhalb des geschützten Raums einer Kirche Inhalte des Glaubens kommunizieren soll. Das ist für mich nach wie vor der Lackmustest. LG Christian

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