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Der Thomanerchor und die Kollateralschäden der Corona-Pandemie

Heute ist der 20. März 2021 – der 809. Geburtstag der THOMANA, der Trias von Thomaskirche, Thomanerchor und Thomasschule – damals hervorgegangen aus dem 1212 gegründeten Thomaskloster. Eigentlich ein Feiertag, der in früheren Jahren mit einem festlichen Essen im Alumnat begangen wurden. Viele werden sich auch noch an den Festakt zum 800-jährigen Jubiläum der THOMANA erinnern am 20. März 2012 – unter dem Motto „glauben, singen, lernen“. Gleichzeitig wurde der Bildungscampus forum thomanum eingeweiht. Wer in diesem Jahr und in diesen schwierigen Zeiten der Corona-Pandemie einen Impuls des Thomanerchors, der ältesten Kulturinstitution der Stadt Leipzig, erwartet hat, sieht sich leider enttäuscht. Weder tritt der Thomanerchor – natürlich nur in kleiner Besetzung – bei der ersten Motette seit langem noch im Festgottesdienst zu Bachs 336. Geburtstag am 21. März 2021 in der Thomaskirche auf. Stattdessen berichtet heute die Leipziger Volkszeitung (LVZ) von einem „Offenen Brief“, einem „Hilferuf“ der Obernschaftler des Thomanerchors. Darin fordern sie, dass Universitätsmusikdirektor David Timm neuer Thomaskantor werden, und dass der Geschäftsführer des Thomanerchors Emanuel Scobel sein Amt aufgeben soll. Diese Botschaft haben sie in der Nacht von Donnerstag zum Freitag auch dem im Dezember 2020 gewählten neuen Thomaskantor Andreas Reize in einer nicht namentlich unterzeichneten Mail mitgeteilt. Aus der Mail und dem „Hilferuf“ geht nicht hervor, ob die Obernschaft (also alle 11- und 12-Klässler) geschlossen den Inhalt des Briefes mitträgt oder ob es sich um eine Mehrheitsentscheidung handelt. Auch ist unklar, wie sich der ganze Chor zu dem Vorgang verhält.

Natürlich haben die Thomaner das Recht, sich in Debatten einzumischen, solche auszulösen, sich öffentlich zu positionieren – vor allem in Angelegenheiten des Chores. Auch sollte niemand die jetzigen Einlassungen trotz aller Merkwürdigkeiten als spätpubertäres Gebaren abtun. Nein, was die Obernschaftler schreiben, muss ernst genommen werden. Darum waren sie auch von Anfang an in das Auswahlverfahren des neuen Thomaskantor einbezogen. Ihre Meinung zu den verschiedenen Kandidaten hatte im Wahlverfahren großes Gewicht. Doch zeigte sich auch da schon, dass die Beurteilungen der verschiedenen Kandidaten innerhalb des Chores durchaus unterschiedlich waren. Wenn nun – über drei Monate nach Abschluss des Wahlverfahrens und der einstimmigen Wahl von Andreas Reize zum neuen Thomaskantor durch den Stadtrat der Stadt Leipzig im Einvernehmen mit dem Kirchenvorstand der Kirchgemeinde St. Thomas – die Obernschaftler fordern, dass David Timm neuer Thomaskantor werden soll, dann muss man sich fragen: Was soll denn das? Oder haben die Obernschaftler in der Schweiz recherchiert und schwerwiegende Erkenntnisse gewonnen, die zu einer Revision der Wahlentscheidung führen müssen? Davon ist aber mit keinem Wort die Rede. Vielmehr zeugt der Brief von einem sehr spät empfundenen (neu geweckten?) Frust darüber, dass die Ansichten der Obernschaftler ungenügend beachtet wurden. Nur: Schon im Dezember hatte es auf Initiative von Andreas Reize eine offene, konstruktive Aussprache zwischen ihm und den Obernschaftlern gegeben. Dabei haben die Obernschaftler nach eigenem Bekunden Herrn Reize gegenüber geäußert, „dass wir die Wahl so annehmen wie sie ist.“

Was aber hat zu dem Sinneswandel geführt? Auch dazu äußern sich die Obernschaftler: „Durch Unterdrückung unserer Meinung seitens Emanuel Scobel und der Kündigung des Assistenten des Thomaskantors Titus Heidemann (von sich aus, weil er mit den internen Umständen nicht mehr klar kommt), sehen wir uns gezwungen uns nun doch an die Presse zu wenden und unsere Meinung klar und deutlich zu äußern.“ Doch was haben diese beiden Dinge mit Andreas Reize zu tun? Und wieso fordern sie David Timm (und „notfalls“ (!) Ludwig Böhme) als neuen Thomaskantor – ohne mit diesem vorher zu sprechen oder ihn zu informieren? Sind sich die Obernschaftler bewusst, dass sie damit zwei hervorragende Musiker in aller Öffentlichkeit beschädigen, ohne dass diese sich wirklich wehren können? Und was – wenn Andreas Reize zu der Überzeugung kommt, das Amt nicht anzutreten? Glauben die Obernschaftler wirklich, dass das dem Thomanerchor irgendwie nutzt?

Nun ist davon auszugehen, dass die Obernschaftler ihre Presseaktion sicher nicht ohne Wissen von Eltern und Mitarbeiter*innen im Chor gestartet haben. Da stellt sich nicht nur die Frage: Was sagt der Brief aus über den inneren Zustand des Thomanerchors und die Chorleitung? Es ist wohl so, dass die Aktion der Obernschaftler am wenigsten mit dem neuen Thomaskantor und nur sehr bedingt mit dem Geschäftsführer zu tun hat. So gehen von dem Brief zwei Botschaften aus:

  • Auch der Thomanerchor bleibt vor den Kollateralschäden der Corona-Pandemie nicht verschont. Da liegen nicht nur die Nerven blank. Die offene Kommunikation ist durch das eingeschränkte Chorleben erheblich beeinträchtigt. Das bleibt offensichtlich nicht ohne Folgen. Doch deren Folgen können mehr als ärgerlich sein.
  • Der Thomanerchor bedarf dringend eines Neuanfangs. Dafür sind die Voraussetzungen ab Herbst eher günstig: Es beginnt nicht nur ein neuer Thomaskantor seine Tätigkeit. Er hat auch die Möglichkeit, die Assistentenstelle nach seinen Vorstellungen zu besetzen. Und: Die Stelle der Leitung der Thomasschule wird auch neu besetzt, da die bisherige Leiterin Kathleen Blecher (vormals Kormann) aufhört. Das wird die THOMANA hoffentlich stärken.

Insofern können alle mit großen Hoffnungen und viel Erwartungen dem Herbst 2021 entgegensehen: Andreas Reize – herzlich willkommen! Bis dahin aber sollte alles getan werden, die Kommunikation innerhalb des Thomanerchors und in der Öffentlichkeit transparent und fair zu gestalten. Denn die große Tradition der THOMANA ist für das gesellschaftliche und kulturelle Leben viel zu wichtig, als dass man sie durch nicht zu Ende gedachte Aktionen gefährden darf.

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Nachtrag: Alle, die sich jetzt äußern, sollten ein paar Dinge bedenken:
1. Es zeichnet die Nominierungskommission aus, dass in die engere Auswahl vier hochqualifizierte Musiker kamen, von denen jeder das Amt des Thomaskantors hätte ausfüllen können. Es ging und geht nicht um besser oder schlechter, sondern um die Frage, wer unter den gegebenen Umständen und nach der umfangreichen Vorstellung der geeignete ist.
2. Über die Nominierung des Kandidaten, der dem Oberbürgermeister als Thomaskantor vorgeschlagen wird, entscheiden weder die Kirchgemeinde, noch die Thomaner, noch die Mitarbeiter*innen im Alumnat, noch die Experten, noch die eingesetzte Kommission alleine. Dies geschieht nach einem sorgfältig durchgeführten Prozess durch eine Abstimmung im Stadtrat nach Vorschlag durch den Oberbürgermeister im Einvernehmen mit der Kirchgemeinde St. Thomas – im konkreten Fall war dies einstimmig!
3. Bei den hier aufgeführten Kriterien hätten Johann Sebastian Bach und nach ihm viele andere Thomaskantoren niemals das Amt bekleiden können/dürfen. Sie kamen von auswärts und waren im Falle Bach sogar zweite Wahl!
4. Frage: Aus welcher Kenntnis heraus wird unterstellt, dass der gewählte neue Thomaskantor nicht “von tiefem Glauben beseelt” ist, nicht vertraut ist mit der Tradition der THOMANA, keine Ahnung von der Leitung eines Knabenchors und der reformatorischen Musiktradition an der Thomaskirche haben soll?
5. Noch einmal: Dass drei von vier Kandidaten bei der Wahl keine Berücksichtigung fanden, bedeutet nicht, dass etwas “gegen seine (deren) Bewerbung gesprochen haben soll”. Es heißt lediglich, dass sich die Gremien unter Abwägung aller Argumente und Eindrücke für einen Kandidaten entschieden haben. Eigentlich ein ganz normaler Vorgang.
6. Wer sagt eigentlich, dass der Thomanerchor in Gänze den neuen Thomaskantor ablehnt und für David Timm eintritt. Dem Votum der Obernschaft liegt keine Abstimmung unter den Mitgliedern des Thomanerchors zugrunde. Da herrschen sehr unterschiedliche Meinungen. Auch stimmen längst nicht alle Obernschaftler dem Votum zu.

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22 Antworten

  1. Jeder in diesem Blog äußert sich frei und offen, vor allem aber mit Klarnamen.
    Dies bezeichne ich als elementar-kulturvollen Dialog, ein grundsätzliches Anliegen, nicht anonym zu bleiben, selbst bei teils kontroversen Haltungen.
    Wäre doch gut und angebracht und vor allem eine Frage des Anstandes, auch in dieser konkreten Thomaner-Chorleitung-Causa, sich zu erkennen, zu geben wer sich hinter E. Santalla verbirgt.

  2. Zugegeben, inhaltlich kann ich zur Nachfolgefrage des Thomaskantors nichts beitragen; weder kann ich die künstlerische noch persönliche oder pädagogische Eignung des einstimmig gewählten Andreas Reize beurteilen, noch die „Angemessenheit“ oder Fairness des Auswahlprozesses.
    Leider scheint mir immer mehr, dass keiner der Beteiligten/Betroffenen ohne Schaden aus der aktuellen Diskussion herauskommen kann – insofern ist es möglicherweise nur noch eine Frage der Zeit, bis aus dem „Loose-Loose-Dilemma“ die Notwendigkeit eines neuerlichen Auswahlprozesses mit „unbelasteten“ Kandidaten entsteht oder von interessierter Seite gefordert wird…
    Einzig Herr Santalla hat wohl noch die Übersicht und das nötige Insider-Wissen. Wenn er an die Adresse Christian Wolff’s fordert, dass Einlassungen und Belehrungen nur geschehen sollten, wenn man sich mit der Materie beschäftigt hat, folgt daraus aber dann nicht zwangsläufig, dass er sich in den letzten Tagen intensiv mit ihm auseinandergesetzt hat (komisch nur, dass Christian ihn nicht zu kennen scheint)?
    Und wenn er den Auswahlprozess als „DDR-geprägt“ kennzeichnet, weiß ich gar nicht, ob ich bisher nicht eine völlig falsche Einstellung/Wahrnehmung zu/von Leipzig hatte?
    Auch Martin Petzold habe ich bisher ganz anders wahrgenommen/erlebt (nämlich als besonnenen, kompetenten und warmherzigen Menschen) als H. Santalla, der ihn als intransparent und ungeeignet als Bindeglied zwischen Chor und Auswahlgremium sieht…
    H. Santalla mahnt, man solle den Wunsch nach Mitbestimmung nicht herablassend vom Tisch wischen; unklar bleibt (für mich), wen er damit meint – Christian Wolff, Emanuel Scobel (der den Auswahlprozess aufgestellt hat), die PfarrerInnen der Thomaskirche???

    Zu hoffen bleibt, dass ein für Anfang April geplantes Gespräch zwischen H. Reize und den Thomanern die Situation entschärfen und eine konstruktive Zusammenarbeit begründen kann. Und dass tendenziöse, das Feuer schürende Einwürfe, wie der von H. Santalla in diesem Blog, die Gräben nicht weiter vertiefen!
    Bis zum Beweis des Gegenteils halte ich den Auswahlprozess Ende letzten Jahres für fair, demokratisch und allen Seiten gerecht werdend. Ich wüsste auch gar nicht, wer ein Interesse an etwas Gegenteiligem gehabt haben könnte (auf alle Fälle nicht Bill Gates, die Banken, FFF….)!

  3. Den bisherigen Beiträgen zu diesem Thema entnehme ich, dass die meisten aus einer entfernten Perspektive (ohne zuvor mit den Thomanern gesprochen zu haben) verfasst wurden.
    Bevor also Stellung genommen wird, sei zumindest die Lektüre des Schreibens der Obernschaft zu empfehlen. Die bisherigen Extrakte und Interpretationen in der Presse geben bei weitem nicht den Inhalt in der erforderlichen Vielschichtigkeit wieder, sie verdrehen sogar teils Ursache und Wirkung.

    Einordnend sollte folgendes beachtet werden:

    * Obernschaft:
    Die Oberschaft besteht aus den 11. und 12. Klassen der Thomaner. Wer mit den Strukturen des Chores vertraut ist, weiß, dass sie nicht nur eine Handvoll Thomanern unter den übrigen ca. 70-80 sind, sondern durchaus auch Vertretung und Stimme des Chores. Demnach ist die reine Anzahl der Unterschriften nicht mit einer quantitativen Beteiligung des Chores zu verwechseln. Und sie hat praktisch geschlossen unterzeichnet.
    Die Interpretation von Herrn Wolff zur Nichtunterzeichnung eines (!) Obernschaftlers ist unrichtig, und ein weiterer Beweis für mangelnde Detailkenntnis.

    * Konfession:
    Im Schreiben der Obernschaft wird mit keiner Silbe die Konfession von Hr. Reize erwähnt. Die Darstellung, diese wäre ein Grund für die Ablehnung, ist eine haltlose Unterstellung (cui bono?).

    * Zeitpunkt:
    Zahlreiche vorangegangene Versuche der Kommunikation seitens der Obernschaft wurden entweder abgewiesen, oder ein tatsächlicher Dialog auf Augenhöhe fand nicht statt.
    Der Zeitpunkt des Schreibens der Obernschaft ist nicht im Bezug „über drei Monate nach Abschluss des Wahlverfahrens“ zu sehen, sondern steht vielmehr im direkten zeitlichen Kontext mit der Information über die Kündigung des Assistenten des Thomaskantors (dem dann vielleicht einzig verbliebenen musikalischen UND sozialen Bindeglied für die Thomaner), die wiederum u.a. im Zusammenhang mit Ereignissen im Rahmen des Auswahlverfahrens steht.

    * Einstimmigkeit:
    Die Abstimmung des Stadtrates war einstimmig – so weit, so richtig. Allerdings wurde nur ein zuvor von der Expertenkommission ausgewählter (und von der Auswahlkommission weitergeleiteter) Kanditat zur Abstimmung gestellt. Es gab dort also nur die Option „ja“ oder „nein“ bzw. „Enthaltung“ und nicht „einer aus vieren“ (Leser mit entsprechendem Alter und Kenntnis der Strukturen vor >30 Jahren können sich vielleicht noch an damalige Wahlen erinnern). Bei der aktuellen PR-Kampagne der Stadt kann man sich leicht vorstellen, in welche Rechtfertigungszwänge eine mit „nein“ stimmende Person kommen würde.
    Die eigentliche Auswahl des neuen Kantors ist also de facto durch die Expertenkommission erfolgt, die im Laufe des Verfahrens jedoch nicht immer vollständig bei den Aufführungen anwesend gewesen zu sein scheint.
    Die Thomaner hingegen haben alle vier Kandidaten erlebt, wenngleich pandemiebedingt unterteilt in 2 Kantoreien (auch das war – neben dem zu kurzen Zeitraum für die Proben selbst – ein Kritikpunkt der Thomaner).
    Der Gesamteinschätzung des Chores ging eine Befragung der einzelnen Mitglieder voraus. Sie konnte damit naturgemäß nicht direkt im Anschluss an die Aufführung (der einzigen Kontaktmöglichkeit der beiden Oberschaftler zur Auswahlkommission) erfolgen. Vielmehr wurde die differenzierte Gesamtbetrachtung an den Vertreter der Expertenkommission übermittelt, welcher offenbar als Bindeglied (und zwar als bidirektionales) fungieren sollte. Der geäußerte Kritikpunkt der mangelnden Mitbestimmung fußt m.E. maßgeblich auf dieser für die Thomaner intransparenten und eben wohl nicht zufriedenstellenden Schnittstelle. Und er gründet sich unverkennbar auf dem Fakt, dass ihnen, trotz vehementem Ersuchens an mehrere Instanzen und weit vor den Probedirigaten, kein Stimmrecht in der Auswahlkommission zuteil wurde, durch welches sie mit dem Votum des Chores NACH ABSCHLUSS der gesamten Kandidatenrunde an der Diskussion zur Bestimmung der Reihenfolge der Kandidaten im Ergebnis beteiligt worden wären und werden wollten.

    * Qualifikation der Thomaner:
    Die jetzige Obernschaft hat, durch das langjährige Leben im Chor mit all den musikalischen Aspekten sowie durch das aktive Miterleben zweier Auswahlverfahren mit zahlreichen Proben- und Aufführungssituationen, eine höhere Qualifikation als so mancher Kommentator, der sich anmaßt, die intellektuellen und musikalischen Fähigkeiten dieser jungen und engagierten Menschen verächtlich machen zu können.
    Die Tatsache, dass bei der Konzeption des Verfahrens nicht die geringste Einbeziehung der Thomaner vorgesehen war, spricht für sich. Schließlich wird hier nicht irgendein Amtsleiter nachbesetzt. Der Thomaskantor ist in vielen Belangen die Person, die das Leben dieser jungen Menschen während ihrer Zeit im Chor (i.d.R. die Hälfte ihres Lebens bis zum Abitur) und das tägliche intensive musikalische und soziale Miteinander prägt. Die Thomaner und ihre Familien schenken dem Chor (und damit der Thomaskirche und der Stadt) einen großen Teil ihres Lebens. Der Wunsch nach Mitbestimmung sollte da nicht herablassend vom Tisch gewischt sondern konstruktiv ermöglicht werden. Und, wie sagte ein Angestellter der Musikhochschule: Jeder Lehrauftrag wird mit zwei Studentenvertretern vergeben, geschweige denn, wenn der Rektor gewählt wird…da ist selbstverständlich der gesamte Studentenrat wahlberechtigt anwesend.

    * Rolle der Kirche:
    Man sollte denken, die Thomaskirche – als Teil der Trias Chor, Schule, Kirche – nimmt eine einigende und versöhnende Rolle ein. Statt dessen wurde – auch hier ohne zuvor mit den Obernschaftlern zu sprechen – darüber doziert, dass ein Neuaufbruch nötig wäre, völlig verkennend, was der amtierende Thomaskantor, ganz besonders in den vergnangenen 12 Monaten, Unglaubliches geleistet hat.
    Darüberhinaus wurden nachweislich offenbar unliebsame Kommentare von der social media-Seite der Thomaskirche entfernt. Was ist das für ein Demokratieverständnis? Zirkelbezug zu 1989?

    * Fazit:
    Einlassungen und Belehrungen sollten nur geschehen, wenn man sich hinreichend mit einer Materie beschäftigt hat, und sich möglichst durch Gespräche mit den betroffenen Parteien ein Bild aus erster Hand machen konnte. Alles andere ist wohlfeil.

    1. Es ist immer wieder interessant, wenn ein Kommentator genau zu wissen vorgibt, auf welchem Hintergrund andere ihre Texte erstellt haben, für sich das Informiertsein reklamiert, sich aber gleichzeitig der Anonymität bedient wie „E. Santalla“ (wer immer sich dahinter verbirgt). Auf diesem Hintergrund erübrigt sich eine ausführliche Replik. Ich will nur – par pro toto – auf eine Sache hinweisen: „E. Santalla“ behauptet, dass meine „Interpretation“ der Tatsache, dass zumindest ein Obernschaftler die Erklärung nicht mitträgt, „falsch“ sei. Einmal abgesehen davon, dass es sich bei dem einen um den 1. Präfekten des Chores handelt, ist festzuhalten: Im Thomanerchor gab und gibt es sehr unterschiedliche Ansichten über die Kandidaten, die zur Auswahl standen. Von einem einheitlichen Stimmungsbild kann keine Rede sein. Aber wie gesagt: Erhellend ist das nicht, was „E. Santalla“ schreibt, eher ein weiterer Belegt dafür, dass die Auseiandersetzung eigentlich nichts mit Andreas Reize zu tun hat, sondern Ausdruck davon ist, dass das Kommunikationsgefüge im Thomanerchor in einem bedenklichen Zustand ist. Christian Wolff

  4. Zunächst teile ich die Ansicht, dass die Wahl des Thomaskantors – zumal einstimmig – zu respektieren ist. Hr. Reize ist ein hochqualifizierter und profilierter Künstler. Allerdings gestehe ich, dass mich diese Entscheidung dennoch aus zwei Gründen irritiert hat:
    1. Die Signalwirkung, die hier in konfessioneller Hinsicht gegeben wird. Auch wenn es sich beim Thomaskantorat um ein städtisches Amt handelt, so ist doch der sehr enge Bezug zwischen Amt und Kirchengemeinde nicht zu ignorieren. Nun kann man diese Wahl auch als Ausdruck ökumenischer Toleranz oder auch – wie im Kommentar von M. Märker dargelegt – als Wahl des besten Künstlers interpretieren und verlässt somit die theologische, bzw. traditionsbasierte Argumentation: reine Kunst, die Grenzen dogmatischer Engführung überwindet. Ein Nachgeschmack bleibt trotzdem. (Ich frage mich zudem, ob ein vergleichbar prestigeträchtiges Amt an zentralen katholischen Kirchen so einfach durch evangelische MusikerInnen besetzt werden würde. Ich glaube, da braucht es noch viel ökumenischen Dialogs. Für Hrn. Reize bleibt sowohl privat als auch in der öffentlichen Wahrnehmung das ungelöste spirituelle und theologische Spannungsfeld der Abendmahlspraxis bestehen – was er über die Bewerbung auf dieses Amt für sich in Kauf nimmt und für das er vermutlich auch eine persönliche Lösung gefunden hat.)
    2. Hier greife ich den oben genannten Gedanken zur Kunst auf und spreche als Musiker (und ehemaliger langjähriger Sänger im Windsbacher Knabenchor). Soweit ich mir aus verschiedenen Artikeln, Interviews (z.B. BR-Klassik) und Einspielungen ein Bild von Hrn. Reizes Arbeit machen konnte (bei den Auswahldirigaten war ich zugegebener Maßen nicht dabei), habe ich den Eindruck, dass es sich um einen sehr guten, v.a. einfühlsamen Pädagogen handelt – und somit v.a. angenehm für die jüngeren Sänger. Ich wertschätze auch, dass er einen Akzent in der historischen Aufführungspraxis setzt. Auf seine hohe Qualifikation und seine profilierte Arbeit hatte ich schon hingewiesen. Allerdings überzeugen mich dennoch die Aufnahmen, die künstlerische Qualität der Solothurner Singknaben, aus verschiedenen Gründen nicht so sehr (diese Gründe aufzuzählen würde den Rahmen des Blogs sprengen). Wenn eine größere Anzahl der erfahrenen Chorsänger aus dem Thomanerchor Bedenken ob der Wahl dieses Kandidaten – wenn auch spät – äußert, ist das schon sehr ernst zu nehmen. Ich glaube, dass die aktuellen Chorsänger ein sehr gutes Gespür und hervorragende Kenntnisse in Hinblick auf die Beurteilung der vor ihnen stehenden Dirigenten haben. So wie sich die bisherigen Posts im Blog (v.a. bei C. Wolff) lesen, scheinen es ja offenbar gerade nicht in erster Linie Gründe musikalischer Spitzenleistung gewesen zu sein, die zur Wahl geführt haben sondern andere Argumente. Dieser Satz von Bruder Wolff spricht Bände: „Es ging und geht nicht um besser oder schlechter, sondern um die Frage, wer unter den gegebenen Umständen und nach der umfangreichen Vorstellung der geeignete ist.“
    Summa summarum: Ich weiß nicht, ob sich meine persönlichen Beobachtungen mit den Gründen der Thomasser decken, aber ich kann den Widerspruch (als letzten Versuch) sehr gut nachvollziehen. Bei mir bleiben Fragen: Warum wurde dieser Kandidat gewählt? Wollte man in erster Linie einen Pädagogen? Ging es um die profilierte Künstlerbiographie? Waren die anderen Kandidaten so wenig überzeugend? Aber warum wurde hier nicht mehr im evangelischen Bereich (auch international) gesucht und nötigenfalls Überzeugungsarbeit geleistet? Wo blieb bei den an der Wahl Beteiligten, die Sensibilität für die Geschichtlichkeit, bzw. die Thomaskirchgemeinde als Teil der Ev.-luth. Landeskirche Sachsens? Wo blieb die Sensibilität für das spirituelle und theologische Spannungsfeld in dem sich der neue Kantor als Katholik nun bewegt?
    Ich bin überzeugt, dass die Auswahlkommission und die sonstigen Beteiligten ihrerseits mit hohem Verantwortungsbewusstsein ihre Entscheidung getroffen haben. Personalentscheidungen sind aber nun nicht öffentlich, die Gründe dafür werden wohl auf lange Zeit im Dunkeln bleiben. Für einen Außenstehenden bleiben jedoch die oben genannten Fragen und für mich ganz persönlich ein gewisses Verständnis für den Unmut in den Reihen des Chores.
    Trotzdem halte ich es nun für geboten, die Wahl zu respektieren und alles Erdenkliche für einen guten Start Hrn. Reizes in das Amt zu tun. Ich hoffe, dass dieser Mann mit seinem Amt künstlerisch wächst und sich gut in Leipzig einfinden wird. Das ist eine echte Chance. Dem neuen Thomaskantor wünsche ich von Herzen ein gutes Ankommen und Gottes Segen für seine künstlerische Arbeit v.a. aber in den Begegnungen mit den Menschen in seinem neuen Wirkungsfeld.
    Pfr. Dr. Gunnar Wiegand, Pirna
    P.S.: Das Argument, dass sich einst J.S.Bach vom reformierten Köthener Hof nach Leipzig beworben hat und (im Nachgang) angenommen wurde, halte ich in Hinblick auf das aktuelle Bewerbungsverfahren für wenig überzeugend. Für Bach war die fürstliche Kapellmeisterstelle in Köthen – für die er ja in erster Linie weltliche Musik zu komponieren hatte und trotz der Wertschätzung gegenüber Fürst Leopold – offenbar weniger attraktiv als ein lutherisch-konfessionell geprägtes Kantorenamt in Leipzig (auch wenn er den fürstlichen Kapellmeistertitel auch in Leipzig weiter behielt). Hier konnte er u.a. wieder Kirchenmusik lutherischer Prägung komponieren (wobei sicherlich auch nicht-theologische Gründe für Bach von Bedeutung gewesen sein dürften). Die Komponisten-Tätigkeit scheint mir für die Anforderungen des Thomaskantorats heute aber doch eher untergeordnet zu sein. Der Vergleich der konfessionellen Grenzen im 21. Jh. mit denen im 18. Jh. hinkt theologisch im Übrigen doch auch sehr (wenn ich z.B. an die gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre zwischen lutherischer und römisch-katholischer Kirche, die Leuenberger Konkordie zwischen lutherischer und reformierter Kirche oder die Meißener Erklärung zwischen lutherischer und anglikanischer Kirche denke).

    1. Vielen Dank für die kritischen Einlassungen und dennoch guten Wünsche für den neuen Thomaskantor, lieber Bruder Wiegand. Ich kann sie nur bedingt nachvollziehen. Hier ein paar Anmerkungen:
      1. Der Satz „Es ging nicht um besser oder schlechter, sondern um die Frage, wer unter den gegebenen Umständen und nach der umfangreichen Vorstellung der geeignete ist.“ bezieht sich vor allem darauf, dass die vier ausgesuchten Kandidaten alle die Fähigkeit besitzen, das Amt des Thomaskantor zu bekleiden.
      2. Es ist ein Segen und sollte der Evangelischen Kirche zur Ehre gereichen, dass ein Amt wie das des Thomaskantors auch von einem Katholiken ausgeübt werden kann. Die immer wieder gestellte Frage, ob man sich denn vorstellen können, dass so etwas auch in umgekehrter Richtung möglich ist, ist wenig überzeugend. Es ist Ausdruck evangelischer Freiheit, wenn wir im 21. Jahrhundert abseits alles kirchenamtlichen Konfessionalismus Ökumene leben und vollziehen. Darum kann ich auch nicht erkennen, warum es einem katholischen Christen Probleme bereiten soll, am Abendmahl in einem lutherischen Gottesdienst teilzunehmen. Für mich selbst ist der Streit ums Abendmahl schon seit Jahrzehnten nichts anderes als eine theologisch hochstilisierte, in weiten Teilen peinliche Machtauseinandersetzung zwischen Kirchenhierarchien, die nichts, aber auch gar nichts mit dem Ursprung des Abendmahls zu tun hat. Im Übrigen gehören zu den Sängern Kinder und Jugendliche mit und ohne kirchliche Bindung, mit Zugehörigkeit zu einer evangelischen, freikirchlichen oder katholischen Gemeinde, jüdischen und hoffentlich bald auch muslimischen Glaubens – und das alles unter Wahrung der „Sensibilität für die Geschichtlichkeit bzw. die Thomaskirchgemeinde als Teil der Ev.-Luth. Landeskirche Sachsens“. Ich habe mich immer gefreut, wenn nicht getaufte oder katholische Thomaner am Abendmahl teilgenommen haben. Ich kann keinen Grund erkennen, ihnen den Zugang zu verwehren.
      3. Inzwischen hat Andreas Reize einen Jahresplan für den Thomanerchor erstellt, der sich orientiert am evangelischen Kirchenjahr und dem katholischen Jahreskreis. Jedem Sonn- und Feiertag hat er unter Berücksichtigung des theologisch-kirchlichen Schwerpunkt des jeweiligen Sonntags Chorstücke zugeordnet. Damit setzt Reize einen ersten deutlichen Akzent: Schwerpunkt seiner musikalischen Arbeit wird die gottesdienstliche Musik sein.
      4. Das Amt des Thomaskantors besteht nicht nur aus dem Dirigat des Thomanerchors. Es hat viele Aspekte, die bei der Auswahl des Thomaskantors eine Rolle spielen. Er prägt das Innenleben des Thomanerchors, er dirigiert das Gewandhausorchester in seiner dritten Spielstätte, der Thomaskirche, er hat eine wichtige kulturpolitische Funktion in der Stadt inne, er trägt Verantwortung für den Gottesdienst und die Liturgie in der Thomaskirche, er übernimmt eine wichtige Funktion im Ausbau des forum thomanum.
      5. In den vergangenen Tagen haben sich alle am Wahlverfahren beteiligten Gremien und Institutionen noch einmal sehr klar und eindeutig zu der Wahl von Andreas Reize bekannt und vor allem das transparente, die Thomaner einbeziehende Verfahren erläutert. Das macht noch einmal deutlich, dass die späte Einlassung der Obernschaft (der 1. Präfekt hat übrigens eine ganz andere Ansicht!) wenig mit der Person Andreas Reize zu tun hat, aber ganz viel mit den Problemen im Alumnat. Wenn die Sache ein Gutes hat, dann dies: dass die schon seit langem vorhandenen Konflikte jetzt aufgebrochen sind – und nicht in der ersten Dienstzeit von Andreas Reize.
      Christian Wolff

      1. Danke, Bruder Wolff, für Ihre schnelle Antwort und Präzisierungen. Ich betone, dass ich in der Tat Interna überhaupt nicht kenne – meine Eindrücke sind lediglich diejenigen eines medial-informierten Außenstehenden. Zu ihren Einzelpunkten:
        zu 1.: das habe ich auch so verstanden (aber mit möglichen Einschränkungen, die sich dann vielleicht auf künstlerischer Ebene ergeben).
        zu 2.: auch ich bin selbstverständlich (aus katholischer Familie stammend) für maximale ökumenische Offenheit. Die Einladung zum Mahl des Herrn gilt allen Menschen – ich würde zunächst auch niemanden vom Abendmahl ausschließen. Aber das Problem besteht nun auf römisch-katholischer Seite: KatholikInnen wird die Teilnahme an unserem Abendmahl theologisch verwehrt. Selbst wenn sich ein katholischer Bruder/eine katholische Schwester nicht um diese Frage kümmert, so bleibt der unsägliche Konflikt der Kirchentrennung an diesem Punkt bestehen – und dann natürlich für den einzelnen Gläubigen als Gewissensfrage.
        Im Übrigen sehe ich schon einen Unterschied, ob ich von einem einzelnen Gläubigen (egal welcher konfessioneller/religiöser Zugehörigkeit) spreche (also z.B. Mitglieder im Thomanerchor) oder von einer Person, die ein Leitungsamt wie das des Thomaskantorats bekleidet. Da geht es um mehr als nur das persönliche Bekenntnis. Hier geht es genau um die von mir angesprochene Signalwirkung. Sind wir ökumenisch wirklich heute schon reif für einen so gewichtigen Besetzungsschritt? (manche der Posts zeigen ja die Irritationen – nicht nur bei mir)
        zu 3.: das liest sich doch sehr erfreulich – ich habe auch nie an der liturgischen Kompetenz des neuen Thomaskantors gezweifelt.
        zu 4.: das ist mir auch völlig klar. Ich wünsche dem neuen Kantor, dass er in diesem Bereich segensreiche Arbeit leisten kann.
        zu 5.: dazu kann ich als Außenstehender in der Tat wenig sagen. Ich wünsche dem Thomaskantor, dass diese Konflikte gut bearbeitet werden.
        -> Insgesamt sehe ich jetzt gar nicht so viele Widersprüche unserer Posts

  5. „Kollateralschaden der Corona-Pandemie“??? Und warum erst jetzt??? Laut Beitrag im KlassikRadio heute Morgen ist das die vierte Wortmeldung der älteren Thomasser…und dieses Mal öffentlich…sind die vorherigen nicht öffentlichen Einwände nicht ernstgenommen worden?…
    Die Nominierungskommision hat sicher gute Arbeit geleistet.
    Doch wenn ein „Neuanfang“ im Thomanerchor zur Folge hat, dass der neue Thomaskantor „vor allem in der Arbeit mit den jüngeren Thomanern überzeugt habe“ und „Andreas Reize die falschen Töne nicht überhört, sondern bewußt ignoriert habe“?…wie im MDR Kultur heute morgen durch Claus Fischer angesprochen wurde…müssen wir uns dann in den zukünftigen Motetten die Ohren zuhalten?

    1. Nein, es muss sich niemand die Ohren zuhalten. Allerdings sollten alle, die sich jetzt zu Wort melden, die Ohren offen halten und genau hinhören, wer, was, warum und wie sagt. Es ist schon abenteuerlich, wie ein absolut transparentes Wahlverfahren mit einem eindeutigen Ergebnis nun zur Projektionsfläche für die Konflikte wird, die sich lange vor dem Auswahlverfahren für den neuen Thomaskantor im Alumnat aufgebaut haben. Was hier aufgebrochen ist, hat nicht mit „überhörten falschen Tönen“ zu tun, sondern mit einem vernachlässigten Chorinnenleben.

  6. Ein wichtiger Nachtrag zu meinem Beitrag (Brief der Thomaner-Obernschaft, dessen Veröffentlichung in der LVZ): Das Prozedere, vom dem ich schreibe, bezieht sich dezidiert auf eben diese nach einem seriösen Auswahlverfahren durch eine professionelle Findungskommission Monate später inszenierte Protestnote gegen diese Personalentscheidung. Gerade heute auf DLF (Kultur) wurde diese Problematik thematisiert und durch einen Vertreter von Amarcord (D. Knauft) nicht gerade entspannt.
    Erneut: SCHADE, der bewusst herbeigeführte Schaden ist enorm! Und die Frage bleibt im Raum: Warum nur das alles???
    Jo.Flade

  7. Ganz entschieden widerspreche ich Herrn Schwerdtfeger was seine Kompetenzansichten zur uns „Alten“ nachfolgenden Generation, die heute 16-18-Jährigen, betreffen – die permanente Schlafmützig- und Behäbigkeit, die manifestierte Ignoranz brennender Probleme (wohl derzeit in vielerlei Hinsicht wohl kaum zu übersehen!!!) und das Verächtlichmachen engagierter junger Menschen, die Verantwortung übernehmen und sich aktiv und konstruktiv einbringen – nein, so geht es nicht!
    FFF – von wegen deren Übersehen der Komplexität; tut mir leid, aber da werde ich leicht wütend!
    Zum Aufbegehren der sog. Obernschaft der Thomaner: So wie von Chr. Wolff und den seriösen Blog-Mitdiskutanten annonciert und sachlich dargestellt, haben die Thomaner natürlich ein recht auf Meinungsäußerung zu einer nicht geringen Personalie.
    Nur wie das Prozedere gelaufen ist, drängt sich geradezu der Verdacht auf, dass da Hinterzimmer-Zirkel höchst unlauter entscheidend gewirkt haben könnten – der Schaden ist enorm und alle sind beschädigt. Schade, sehr schade – das hat die Weltstadt Leipzig und eine Bach-Nachfolge nicht verdient.
    Chr. Wolff + M. Käfer + M. Märker bringen es auf den Punkt; danke!
    Jo.Flade

  8. Dem ausgewogenen, sachlichen Beitrag von Herrn Wolff kann ich nur zustimmen. Eine 17köpfige Auswahlkommission wurde von 5 anerkannten ExpertInnen beraten und empfahl schließlich, Andreas Reize als neuen Thomaskantor zu berufen. Vom Stadtrat wurde er dann einstimmig gewählt.
    Diese demokratische Verfahrensweise wird von den Chorknaben nicht anerkannt, was nachdenklich stimmen sollte, zumal das in Teilen bekanntgewordene Schreiben damit auch den anerkannten ExpertInnen letztlich fachliche Inkompetenz bescheinigt. Die Hybris dieser jungen Leute erstaunt schon sehr.

    1. Das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen: Da fällt eine hochkarätig besetzte 17köpfige Auswahlkommission unter ausdrücklicher Berücksichtigung eines Votums der Thomaner eine einstimmige Entscheidung über die Neubesetzung des Leipziger Thomaskantorats. Und ein Vierteljahr später geht die Obernschaft der Thomaner ohne jegliche belastbare, geschweige denn neue Argumente an die Öffentlichkeit, um die Revision dieser Entscheidung zu fordern. Gehts noch? – Sind wir in einem Tollhaus? – Wo bleibt die Klarstellung, nötigenfalls das Machtwort des amtierenden Thomaskantors, um den an der Institution Thomanerchor sowie an den hochzuschätzenden ehemaligen Kandidaten Timm und Böhme angerichteten Schaden zu begrenzen?

      Zu einigen historisch und konfessionell begründeten Vergleichen in diesem Blog: 1. Bach wurde 1723 als Thomaskantor gewählt, obwohl er nicht aus dem Kurfürstentum Sachsen und – noch schlimmer – obwohl er aus einem Amt an einem reformierten Hof in Köthen kam. Es hatte also zuvor jahrelang keine geregelte Gelegenheit gehabt einen Chor zu leiten. Unter diesen Umständen hätte er bei den heutigen gestrengen Thomanern keine Chance gehabt. 2. Dass ein katholischer Kirchenmusiker in ein herausgehobenes protestantisches Kirchenmusiker-Amt berufen werden kann, ist nicht abwegig, sondern Ausdruck von Qualitätsorientierung und Weltoffenheit. Bereits 1782 berief der renommierte katholische Bonner Hof mit Christian Gottlob Neefe einen aus Chemnitz stammenden und in Leipzig sozialisierten protetantischen Musiker, der sich – o Schande – einer Schauspielertruppe angeschlossen hatte, in das Organistenamt (er sollte bald für einen zwölfjährigen Knaben namens Ludwig van Beethoven bedeutsam werden). Könnte es sein, dass wir in Sachen Weltoffenheit heute noch einen Schritt weiter sind? 3. Gustav Mahler hat ausnahmslos jede seiner zahlreichen Wirkungsstätten als Operndirigent bzw. Operndirektor auf ein höheres Qualitätsniveau geführt, obwohl er nirgendwo einen Stallgeruch hatte und von der großen Mehrheit der ihm anvertrauten Musiker anfangs mehr oder weniger vehement abgelehnt wurde. Um die Wiener Hofoper zum weltweit glanzvollsten Institut seiner Art machen zu können, musste er zuvor als Jude zum Katholizismus konvertieren. Polemisch gefragt: Erwartet tatsächlich jemand von Andreas Reize, dass er als Vorleistung für einen gnädigen Empfang in Leipzig die Konfession wechselt?

  9. Ob der jetzt entbrannte Disput um die Nachfolge des Thomaskantors Prof. Schwarz zu komplex für mich ist oder bloß unverständlich? Ich weiß es nicht.
    Ich kenne Herrn Reize nicht und halte dementsprechend seine (wohl einstimmig erfolgte) Wahl Ende letzten Jahres für ein gut fundiertes Votum.
    David Timm kenne ich selbstverständlich und schätze ihn – sowohl als Künstler wie auch als Menschen – ungemein! Auch Ludwig Böhme wäre mitnichten eine „Notfall“-Lösung!
    Aber wenige Monate, nachdem eine (demokratische) Entscheidung getroffen wurde, diese wieder in Frage zu stellen, ist äußerst fragwürdig und zeugt von keinem guten Stil/Kultur!
    Die Obernschaftler der Thomaner haben sich mit diesem Schritt sicher keinen Gefallen getan.
    Es erinnert mich aber ein wenig an die Aussage einer Jugendlichen bei den Corona-Protesten im November 2020 (sie sah sich in die Rolle der Sophie Scholl gedrängt, weil sie nicht beliebig viele Gäste zu ihrer Geburtstagsparty hatte einladen dürfen), wenn dieser „Fauxpas“ mit dem Engagement der FFF-Jugendlichen verglichen wird, bzw. als Begründung herhalten soll, deren Engagement nicht sonderlich ernstnehmen zu müssen und auf alle Fälle nicht als Basis für politisches Handeln zu nutzen!

  10. Es ist schon ein Husarenstück, einem katholischen Schweizer das höchste kirchenmusikalische Amt anzutragen, das in einer evangelisch-lutherischen Kirche zu vergeben ist, sieht man einmal vom Kreuzkantorat ab. Man stelle sich die umgekehrte Situation vor: Ein Protestant als Domkapellmeister in Köln oder Rom? Undenkbar. Es scheint bei der Auswahl wohl weniger um ökumenische Fortschrittlichkeit denn um mangelnde evangelische Selbstgewissheit gegangen zu sein. Diesen Eindruck darf man aber bei der Stadt Leipzig als Arbeitgeber des Kantors nicht vermitteln.
    Dass es keine geeigneten Kandidaten aus dem Umfeld des Chores und der Leipziger Musiktradition gab, widerlegt das Schreiben der Obernschaftler eindrücklich. Schade, dass das Auswahlverfahren für die Öffentlichkeit derart intransparent war. Man „beschädigt“ im Übrigen keinen Musiker, der sich auf ein solches ehrenvolles Amt bewirbt, es dann aber doch nicht wird. Es geht hier nicht um persönliche Eitelkeiten, sondern um eine 800jährige Tradition und sehr viel Arbeit.
    An der Qualifikation des neuen Thomaskantors mögen keine Zweifel bestehen, auch wenn einige Thomaner dies anders sehen. Eine Chance sollte man ihm zumindest geben. Die Umtriebigkeit Herrn Reizes aber, der bisher nicht nur Chorleiter und Chordirektor von mindestens drei Vokalensembles sondern auch Musikdirektor von Opernfestspielen und zudem immer wieder Gastdirigent ist, sollte in Leipzig Grenzen finden, wenn er dort seiner anspruchsvollen Aufgabe gerecht werden will. Die Erfahrungen aus dem kurzen „Gastspiel“ von Sir John Eliot Gardiner im Bach-Archiv können insofern als Mahnung dienen.
    Und eines sollte klar sein: Ein vollkommener Neuanfang der Kirchenmusik in St. Thomas mit neuem Kantor, neuem Assistenten und neuem Organisten ist eher als Herausforderung, denn als Chance zu verstehen.

    1. Es fehlt noch die neue Leitung der Thomasschule – eine Herausforderung und Chance! Im Übrigen: Das zeichnet sowohl die Evangelische Kirche wie eine offene Gesellschaft aus, dass das „Undenkbare“ möglich wird. Christian Wolff

  11. Der Vorgang zeigt, daß man jungen Leuten – wie es Herr Wolff auch schreibt – Spielraum geben muß für ein gewisses Hin und Her, das eben der noch nicht ausgereiften reinen „Vernunftentscheidung“ unter Berücksichtigung aller Konsequenzen in diesem Alter entspricht. Und richtig ist wohl auch, daß die Außenbeeinflussung – Eltern, Mitarbeiter – recht hoch anzusetzen ist. Genau aus diesen beiden Gründen ist es unvernünftig, Jugendlichen bereits in diesem Alter das Wahlrecht zu geben. Und genau deshalb muß man die FridaysForFuture-Jugendlichen, deren Ziele ja edel sind, nicht zum Maßstab eigenen politischen Handelns machen, denn sie übersehen die Komplexität des Problems nicht – und sind eben auch fremdgesteuert.
    Im übrigen: Herr Flade entschuldigt sich für ein paar Schreibfehler. Herr Wolff dagegen bringt es nicht über Herz und Verstand, sich im demokratischen Diskurs für eine Beleidigung zu entschuldigen, die da lautet: „Wer so … redet, … der geht – wenn’s drauf ankommt – über Leichen und will dabei nicht gestört werden.“/ 5. Jan ’21, Überschrift „Barmherzigkeit“. (Herr Käfer unterstützt ihn dabei, indem er uns sagt, daß eine Beleidigung dann keine ist, wenn der Adressat nach eigener subjektiver Auffassung das verdient hat). Unser Pfarrer hat jahrzehntelang mit seiner Gemeinde am Sonntag gebetet: „ … vergib uns unsere Schuld …“. War es nur Floskel? Am 6. Jan ’21, 12.02 h, schrieb Herr Wolff dann: „Sie dürfen jeden Tag Ihre Aufforderung senden, ich solle mich entschuldigen (aber bitte immer mit dem Zitat)“ – und, da schließt sich dann der Kreis, denn das erinnert doch ein bißchen an die noch nicht ganz gefestigten Thomaner-Teenager.
    Wir warten gespannt auf die Osterbotschaft in diesem Blog, die ja wahrscheinlich (auch) von Schuld und Vergebung handeln wird.
    Andreas Schwerdtfeger

  12. Habe ich eigentlich jemals, zumindest in seiner Generation, einen vergleichbar vielseitig begabten Musiker wie David Timm kennenlernen dürfen? Einen, der seine Gaben in der Musik und intensive Freude an ihr derart auf andere übertragen kann? Dabei beseelt von tiefem Glauben. Intensiv vertraut mit Leipzigs Musikgeschichte und Gegebenheiten, mit Bach und seiner Musik, mit der Thomaskirche wie dem Thomanerchor? Nein, das habe ich nicht; es scheint mir auch gar nicht möglich zu sein.

    Ich habe mir immer gesagt, er ist wie wohl kein anderer für das Amt des Thomaskantors prädestiniert.
    So überrascht mich nicht, wenn er im Chor selbst ins Amt in der Nachfolge Johann Sebastian Bachs gewünscht wird. Im Gegenteil, es erscheint mir ebenso folgerichtig wie naheliegend.

    Jetzt, wo die fragwürdige Angelegenheit öffentlich geworden ist, möge man den Grund benennen, der gegen seine erfolgreiche Bewerbung gesprochen haben soll. Ich kann mir nämlich keinen einzigen vorstellen …

    1. Vielleicht sollten alle, die sich jetzt äußern, ein paar Dinge bedenken:
      1. Es zeichnet die Nominierungskommission aus, dass in die engere Auswahl vier hochqualifizierte Musiker kamen, von denen jeder das Amt des Thomaskantors hätte ausfüllen können. Es ging und geht nicht um besser oder schlechter, sondern um die Frage, wer unter den gegebenen Umständen und nach der umfangreichen Vorstellung der geeignete ist.
      2. Über die Nominierung des Kandidaten, der dem Oberbürgermeister als Thomaskantor vorgeschlagen, entscheidet weder die Kirchgemeinde, noch die Thomaner, noch die Mitarbeiter*innen im Alumnat, noch die Experten, noch die eingesetzte Kommission alleine. Dies geschieht nach einem sorgfältig durchgeführten Prozess durch eine Abstimmung im Stadtrat nach Vorschlag durch den Oberbürgermeister im Einvernehmen mit der Kirchgemeinde St. Thomas – im konkreten Fall einstimmig!
      3. Bei den hier aufgeführten Kriterien hätten Johann Sebastian Bach und nach ihm viele andere Thomaskantoren niemals das Amt bekleiden können/dürfen. Sie kamen von auswärts.
      4. Frage: Aus welcher Kenntnis heraus wird unterstellt, dass der gewählte neue Thomaskantor nicht „von tiefem Glauben beseelt“ ist, nicht vertraut ist mit der Tradition der THOMANA, keine Ahnung von der Leitung eines Knabenchors und der reformatorischen Musiktradition an der Thomaskirche haben soll?
      5. Noch einmal: Dass drei von vier Kandidaten bei der Wahl keine Berücksichtigung fanden, bedeutet nicht, dass etwas „gegen seine (deren) Bewerbung gesprochen haben soll“. Es heißt lediglich, dass sich die Gremien unter Abwägung aller Argumente und Eindrücke für einen Kandidaten entschieden haben. Eigentlich ein ganz normaler Vorgang.
      6. Wer sagt eigentlich, dass der Thomanerchor in Gänze den neuen Thomaskantor ablehnt und für David Timm eintritt. Dem Votum der Obernschaft liegt keine Abstimmung unter den Mitgliedern des Thomanerchors zugrunde. Da herrschen sehr unterschiedliche Meinungen. Auch stimmen längst nicht alle Obernschaftler dem Votum zu.
      Christian Wolff

  13. Nach der Wahl von Herrn Reize war in der LVZ zu lesen: Dies war nicht die erste Wahl des Chores.
    Mein erster Gedanke nach der Wahl war: Mal sehen wie lange er bleibt. Jemand der keinen Bezug zum „Kasten“ hat und die Eigenheiten der (ost)deutschen Chorlandschaft nicht kennt.
    Gotthold Schwarz in einem Interview 2019: Mein Assistent Titus Heidemann ist ein Geschenk des Himmels. Wir arbeiten fantastisch zusammen.Einerseits setzt er meine Vorstellungen perfekt um, anderseits hat er immer wieder Ideen, die auch mich beflügeln… ja da ist wohl jemand gegangen worden.
    Emanuel Scobel hat nach nicht mal 2 Jahren sein Amt als Leiter der Stuttgarter-Hymnus Chorknaben aufgegeben um nach Leipzig zu wechseln. Warum wohl?
    Nun David Timm war selbst Thomaner und war einmal Erster Präfekt und ist ein exzellenter Musiker und Mensch.
    Die sind keine Peinlichkeiten und kein Schaden durch Corona. Das ist Demokratie: Denn im Chor singen heißt: Jede Stimme zählt.

  14. Es ist leider so: Geschichte wiederholt sich. 1991, nach der einstimmigen Wahl von Hermann Max und seiner Berufung zum Thomaskantor, wurde diesem von älteren Thomanern per Brief mitgeteilt, dass man ihn zum Thomaskantor nicht haben wolle. Sind solche Peinlichkeiten eines Chors von Weltruf würdig?
    Andreas Glöckner

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