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Das große STOP-Schild „Coronavirus“ und ein Choral

Heute, am 21. März 2020, ist der 335. Geburtstag von Johann Sebastian Bach (1685-1750). Aus diesem Anlass musizieren Menschen aus aller Welt wie am Krankenbett, auf das unsere Welt niedergeworfen wurde und gefesselt ist, den Choral von Paul Gerhardt (1607-1676): „Befiehl du deine Wege und was dein Herze kränkt“: https://www.youtube.com/watch?v=4nV8NakYNfs. Es lohnt, sich dieses Video anzusehen und anzuhören, sich dadurch trösten und stärken zu lassen. Beim Hören sollte jede/r einmal versuchsweise die derzeitige beunruhigende, Ängste auslösende Lage unserer Welt mit einer plötzlich eintretenden Erkrankung – eine starke Grippe, ein Bandscheibenvorfall, ein Herzinfarkt – bei sich selbst vergleichen (wohl wissend, dass jeder Vergleich hinkend ist): Wie fühlen wir uns, wenn wir plötzlich nicht mehr so können, wie wir wollen? Natürlich denken wir zunächst: Ist nicht so schlimm … und: Ich darf jetzt nicht ausfallen; ich muss noch unbedingt an der Sitzung teilnehmen; darf die Feier, das Fußballspiel, das Treffen nicht verpassen. Doch dann merken wir: Es geht nicht. Die Kräfte fehlen. Eine heftige Niederlage des eigenen Egos: Das Leben geht weiter ohne mich. Nicht ich bin der Akteur, sondern nun werde ich behandelt, wird über mich verfügt. Ursache: die Krankheit. Wirklich? Denn wenn ich da liege, müde und matt, die vergangenen Wochen reflektiere, dann wird mir bewusst: Eigentlich hast du dich schon seit Wochen nicht mehr wohl gefühlt, hast nur noch funktioniert, warst getrieben, Stress wie in einem Hamsterrad, hast den Zusammenbruch kommen sehen. Und dann die schmerzliche Erkenntnis: Du hast zahllose STOP-Schilder überfahren – solange, bis dich die Krankheit aus dem Verkehr gezogen hat.

Genau das findet derzeit global statt: Unsere Erde ist vor dem STOP-Schild Coronavirus zum Stillstand gekommen und auf der Krankenstation gelandet – nachdem alle STOP-Schilder, die gerade durch den Klimawandel unübersehbar waren und mittels zahlloser Katastrophen deutlich aufblitzten, überfahren wurden. Das Bewusstsein von der Grenzenlosigkeit der Möglichkeiten ist zusammengebrochen. Hilflosigkeit und Ängste machen sich breit. Denn die Folgen des Coronavirus sind unabsehbar. Auf die Frage: Was wird aus dieser Erde, wenn sie wieder auf die Beine kommt? wagt kaum einer eine Prognose. Aber dann treten sie ans Krankenlager, die Ärzte: kluge, nüchterne, menschlich kommunizierende, und die anderen: die arroganten Halbgötter in Weiß, die alles wissen, keine Kooperation brauchen und auf die eigenen Radikalmethoden setzen. Das sind die Merkels, Scholz, Spahns, Dreyers, Drostens auf der einen und die Trumps, Johnsons, Bolsonaros und zahllosen Verschwörungspropheten auf der anderen Seite. Die einen appellieren an die Selbstheilungskräfte des Körpers und verordnen Entschleunigung, die anderen bedienen sich einer martialischen Kriegsrhetorik und meinen weiter, alles im Griff zu haben. Ja, wir können in Deutschland bei aller Einzelkritik froh sein um das zumeist umsichtig, menschennah agierende „medizinische Personal“ auch in der Politik.

Und wir können froh sein um die klare Aufteilung der Verantwortlichkeiten: die Regierung, die pragmatisch die politischen, sozialen, finanziellen Rahmenbedingungen setzt für die nächsten Wochen. Diese können aber nur umgesetzt werden, wenn alle Bürgerinnen und Bürger mitmachen – nicht im blinden Gehorsam, sondern in Wahrnehmung ihrer demokratischen Verantwortung. Und schließlich sind da die vielen Menschen, die in Praxen, Kliniken, Dienstleistungszentren dafür sorgen, dass die medizinische, soziale Grundversorgung von uns allen gewährleistet bleibt. Ebenso wichtig sind aber auch Institutionen wie die Kirchen, die einen Beitrag zu leisten haben, um Nächstenliebe, Barmherzigkeit, Vertrauen, Zuversicht, Gewissenhaftigkeit zu stärken und den Blick immer wieder vom eigenen Ich auf den/die andere/n, vom eigenen Land auf globale Zusammenhänge, von den eigenen Schwierigkeiten und Problemen auf das viel größere Leid bei anderen zu lenken. Hier haben wir als Kirche, als Kultureinrichtungen viel zu tun – wohl wissend, dass Gottvertrauen, Hoffnungskraft, Zuversicht zur Gesundung ebenso wichtig sind wie die notwendige medizinische Versorgung oder die Botschaft „Through music we are connected“. Darum verleiht gerade ein Choral wie „Befiehl du deine Wege“ neue Kraft, schärft den Blick, schenkt Aussichten und Geistesgegenwart – nicht als Ersatz für irgendeine notwendige materielle Maßnahme, sondern als Ausgangspunkt dafür, diese zu ergreifen und verantwortlich zu handeln. So jedenfalls verstehe ich die 7. Strophe des Chorals: Auf, auf, gib deinem Schmerze / und Sorgen gute Nacht, / lass fahren, was das Herze / betrübt und traurig macht; / bist du doch nicht Regente, / der alles führen soll, / Gott sitzt im Regimente / und führet alles wohl.

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Hier der Link zur online-Motette aus der Thomaskirche zu Bachs Geburtstag.

11 Antworten

  1. Lieber Christian,

    ich danke Dir. Und will, was Deine Stilisierung des „Kriegs-Lagers“ angeht, doch auf das sich entwickelnde Narrativ hinweisen, welches ich in den USA wahrnehme. Die Frage ist für mich nur noch, wann es in Deutschland aufpoppen wird – und wer es übernimmt, es zu vertreten.
    Sachlich geht es um folgenden Hintergrund: Man kann, In typischer Abwägungsmanier, prinzipiell fragen: Wie lange will man dem Gesundheitsschutz noch absolute Priorität geben vor dem Wirtschaftsschutz? Die COVID-19-Betroffenheit ist nun sehr stark „altersschief“, wie die Statistiker sagen. Mit der statistischen Eigenschaft der „Altersschiefe“ kann man die Forderung nach einem Wechsel hin zu einem Abwägung-Kalkül, dass man „kompromissbereit“ zu sein habe, wenden in die Behauptung: „Grandparents don’t want the whole country to be sacrificed amid coronavirus closures“. Das ist aus der Überschriftenlage in den USA.
    Dann sind wir beim Euthanasie-Narrativ der 1930er Jahre ….

  2. Lieber Christian, wie immer Trost, Hoffnung,Glaubengewissheit- das vermittelt die Musik von Bach, das vermittelln die zeitlosen Texte von Paul Gerhardt, mit denen wir uns gerade auch in der jetzigen Passionszeit beschäftigen.
    Ich habe auch noch ein schönes Lied in unserem Gesangbuch neu entdeckt, das ich gern auf meinem Klavier spiele. EG 345:
    Strophe 1: Auf meinen lieben Gott trau ich in Angst und Not, der kann mich allzeit retten aus Trübsal , Angst und Nöten, meine Unglück kann er wenden, steht alls in seinen Händen.
    Strophe 5 : Amen zu aller Stund, sprech ich aus Herzensgrund, du wollest selbst uns leiten, Herr Christ zu allen Zeiten, aufdass wir deinen Namen ewiglich preisen . Amen.

    Dass Zuversicht wachse, dass Zuversicht allen Menschen zuteil werde, das ist mein tiefer Wunsch.

    Ja, auch Hölderlin gefällt mir, wir erinnern gerade seinen 250. Geburtstag. Und sein Vers: „Wo Gefahr ist, wächst das Rettende auch“, der ist wirklich schön. Zu Herzen gehen mir jedenfalls in anderer Weise , die seit meiner Kindheit vertrauten und zwischenszeitlich oft bei Seite geschobenen und doch nie vergessenen und immer wieder neu entdeckten Geangbuchtexte und Bach- Kantaten.

  3. lieber Christian,
    ganz vielen herzlichen Dank,
    ganz besonders!!
    Dir,
    der du Wörter vom Weitergehen aussprichst, in Hoffnung

    Dieser Moment zeigt, dass jeder einzelne Mensch auf dieser Welt WICHTIG ist, in dem, wie sie / er / sich entscheidet, wie wir uns entscheiden,
    Und die Hoffnung, das ALLE lernen können, sich ändern können, und, Ja, auch umkehren.. nach einem positiven Wort bleibt diese Hoffnung lebendig!

    Alles Gute Dir!
    Roland

  4. Und, lieber Christian – der Du wieder einmal gut, sehr gut vieles, sehr vieles geschrieben und damit gesagt hast – eine bescheidene Ergänzung, was Text und Musik noch auszudrücken vermag:
    Gerhard Schöne, Liedermacher, sang einst seine Adaption auf den Choral: „Ich bin ein Gast auf Erden“ (EKG 529; auch Paul Gerhardt) – und ich füge diesen hier bei, zu hören über: https://www.youtube.com/watch?v=egl-y7SdGBE.
    Die Welt wird täglich ruhiger, kaum Straßenverkehr zum Wochenende, nur kaufwütige Ewigkonsumenten raffen gierig Toilettenpapier. Die Mehrheit: Besinnung auf das Wesentliche ? Innere Einkehr ? Sich der unumgänglichen Situation gefasst stellen ? Nachbarschaftlicher Zusammenhalt trotz oder gerade wegen der gebotenen Distanz ? Entschleunigung ?
    Auch ich sehe eine große Chance, dass womöglich der Eine und die Andere begreifen – wir sind „nur“ Gast auf dieser Erde.
    Bleiben wir alle behütet – und Dir, lieber Christian, eine gute und hoffnungsreiche Zeit! Dein Jo

  5. Vielen Dank, lieber Herr Wolff! Das Musikvideo hat mir sehr gut getan.- wie Bach und Gerhardt immer! Ihr Text hat mich bewegt.Viele traditionelle Kirchenfloskeln dieser Tage lösen bei mir eher das Gegenteil aus. Darf ich ihn weiterleiten?
    Norbert Sinofzik, Rheinstadt Uerdingen

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