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Antisemitismus – das immer gleiche Strickmuster

Schon seit Tagen beunruhigt mich der kriegerische Gewaltausbruch in Israel – und die offen antisemitische Demonstrationen in Deutschland, zuletzt auch am vergangenen Samstag in Leipzig. Heute mahnte der Vorsitzende der Israelitischen Religionsgemeinde Leipzig, Küf Kaufmann, in der „Leipziger Volkszeitung“ mehr Unterstützung „aus der Mitte der Gesellschaft“ an. Das ist absolut berechtigt. Doch mit periodisch geäußerten Lippenbekenntnissen ist es nicht getan.

Als ich im April 1978 zum ersten Mal mit der Arbeitsgemeinschaft für jüdisch-christliche Zusammenarbeit Mannheim eine Reise durch Israel unternahm, war es dort ein knappes Jahr zuvor zu einem einschneidenden Regierungswechsel gekommen: Der Gründer und Anführer des konservativen Likud-Blocks Menachem Begin war zum Ministerpräsidenten einer rechtsgerichteten Regierung gewählt worden. Zwar kam es 1979 zum Friedensabkommen von Camp David zwischen Ägypten und Israel. Innenpolitisch aber forcierten Begin und der Likud-Block die Siedlungspolitik in den besetzten Gebieten. Damals besuchten wir in Haifa das Leo Baeck Education Center. Dort diskutierten wir mit dem Leiter dieser bedeutenden Bildungseinrichtung. Dieser warnte davor, dass durch die sich abzeichnende Siedlungspolitik eine friedliche Entwicklung zwischen Israel und Palästinensern kaum möglich sein wird. Langfristig sah er die Gefahr eines Bürgerkrieges gegeben, wenn die arabischen Israelis nicht die gleichen Rechte erhalten wie die jüdischen Israelis. Leider hat sich in den vergangenen fast 50 Jahren, insbesondere in der Regierungszeit von Netanjahu, die innergesellschaftliche Lage offensichtlich verschärft – und zwar unabhängig davon, dass Israel eine sehr vielfältige, bunt gemischte, diverse Gesellschaft mit einer demokratischen Verfassung ist. Jedoch kann man – wie in vielen anderen Staaten auch – in Israel sehen, dass eine nationalistisch ausgerichtete Politik eine Gesellschaft nicht eint, sondern zerreißt. Wenn jetzt in Israel zwei gravierende Konflikte (die militärische Auseinandersetzung mit der Hamas und die Auseinandersetzung zwischen jüdischen und arabischen Israelis) gleichzeitig gewaltsam aufbrechen, dann ist das vor allem Folge von Nationalismus, mangelnder Integration und des Scheiterns von Friedenspolitik. Die gegenseitige Bombardierung von Israel und dem Gaza-Streifen ist eine politische, völkerrechtliche Katastrophe und humanitäre Tragödie.

Entscheidend aber bleibt: An den Vorgängen in Israel ist nichts typisch „Jüdisches“. Weder kann ich in Benjamin Netanjahu und seiner Politik eine Verankerung im jüdischen Glauben erkennen, noch im Terror der Hamas eine für den Islam typische Lebensäußerung. Darum: Wer immer für die Trennung von Religion und Bürgergesellschaft eintritt, der sollte damit vor allem in der politischen Bewertung der aktuellen Ereignisse in Israel/Palästina ernst machen. Dann verbietet sich jede Verbindung zwischen der (aus meiner Sicht notwendigen) Kritik an der Politik Netanjahus und dem Leben der jüdischen Gemeinden in Deutschland und Europa. Vor allem aber verbietet es sich, das Existenzrecht des Staates Israel zu bestreiten. Dass der Nahe Osten eine kriegsfördernde Krisenregion ist, liegt nicht am Staat Israel. Dazu sind die innergesellschaftlichen Konflikte in Syrien, Irak, Iran, Ägypten, Saudi-Arabien, Jemen, Libyen viel zu groß. Israel erweist sich – im Gegensatz zu vielen anderen Staaten – eher als Stabilitäts- oder Ordnungsfaktor für diese Region. Aber nun steht Israel in der Gefahr, dass sich der Kampf gegen den Hamas-Terror verbindet mit einer bürgerkriegsähnlichen, innergesellschaftlichen Auseinandersetzung zwischen jüdischen und den arabischen Israelis.

Nur: Alle Kritik an der Politik der gegenwärtigen Regierung bietet keine Rechtfertigung, den Staat Israel als Ursache alles Übels anzusehen und seine Auflösung zu fordern. Wenn ich die aggressive Politik eines Autokraten wie Recep Tayyip Erdoğan gegen die Kurden kritisiere, plädiere ich ja auch nicht für die Auflösung der Türkei. Auch verbietet es sich, vor die nächste Moschee in Leipzig zu ziehen, um dann dort Türen einzutreten, die Fahne der Türkei zu verbrennen oder dem Islam-Hass freien Lauf zu lassen.

Dass in diesen Tagen dennoch der latent vorhandene, unausrottbare Antisemitismus bei uns wieder aufbricht, sagt wenig über die Situation im Nahen Osten aus. Vielmehr zeigt er, wie lebendig der Judenhass in vielen Köpfen und Herzen ist – unabhängig davon, ob es sich um Bürger*innen mit oder ohne Migrationshintergrund handelt oder ob sie religiös gebunden sind oder nicht. Der Antisemitismus speist sich aus dem Vorurteil, als sei das Judentum eine global agierende, religiöse Geheimorganisation, die alles steuert und über unerschöpfliche finanzielle Ressourcen verfügt. Auf diese Weise wird allen Bevölkerungsgruppen eine Projektionsfläche für ihre jeweiligen Frustrationen geboten. Auf solch infame Zerrbilder können Verschwörungsideologen, Querdenker, Rechtsextremisten, Islamisten, christliche Fundamentalisten zurückgreifen. Kein Wunder, dass sie sich dann – im Sumpf antisemitischer Feindbilder watend – vor Synagogen, anderen Einrichtungen der jüdischen Community oder bei Kundgebungen treffen. Genau so hat der Antisemitismus schon in der Nazizeit funktioniert.

Darum gilt höchste Wachsamkeit und eine unmissverständliche Solidarität mit den Bürger*innen jüdischen Glaubens, mit den jüdischen Gemeinden und Einrichtungen. Wer die Gefahr des Antisemitismus unterschätzt, der gefährdet die offene, demokratische Gesellschaft und den kritischen Diskurs. Aber: Mit Lippenbekenntnissen, Distanzierungsfloskeln oder Empörungsrhetorik, die derzeit Hochkonjunktur haben, ist es nicht getan. Es ist auffallend, dass sich da genau die hervortun, die gerade in Sachsen mehr als einsilbig auf den wachsenden Rechtsextremismus reagieren und sich äußerst zurückhalten bei der Verteidigung der Grundwerte unserer Verfassung. Man muss nur den Lokalteil der heutigen Leipziger Volkszeitung (LVZ) lesen.*  Es gilt aber täglich daran zu erinnern, was wir der „jüdisch-humanistische Botschaft schlechthin“ verdanken – „die Botschaft von der Friedfertigkeit, von der Erhaltung des schwachen und gekränkten Leben, von der Notwendigkeit der Diskussion und des Kompromisses“ (so der Publizist Carl Amery in seinem Buch „Hitler als Vorläufer. Auschwitz – der Beginn des 21. Jahrhunderts?“). Diese Botschaft eignet sich bestens als politischer Leitfaden für ein offenes, demokratisches Zusammenleben der Verschiedenen und für eine klare Haltung gegen den Antisemitismus.

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* Mir ist nicht bekannt, dass die Leipziger CDU und ihr Kreis-Vorsitzender Thomas Feist sich in den vergangenen Jahren in irgendeiner Weise hervorgetan haben in der Auseinandersetzung mit dem Rechtsextremismus. Ebenso ist daran zu erinnern, dass ohne das langjährige Engagement vieler Bürger*innen und vor allem auch des Leipziger Oberbürgermeisters Burkhard Jung weder das jüdische Begegnungszentrum Ariowitsch-Haus stehen würde, noch wäre es zu einer sehr klaren Haltung der Stadtgesellschaft gegen den nationalistischen Rechtsextremismus gekommen, zu dessen Säulen der Antisemitismus gehört.

Nachtrag: Der Antisemitismus sei „ein Produkt der massiven Zuwanderung seit 2015“ meint laut LVZ vom 19. Mai 2021 der Leipziger Bundestagsabgeordnete der rechtsnationalistischen AfD Siegbert Droese. So kann nur jemand reden, der offensichtlich den Nationalsozialismus und die von ihm durchgeführte Vernichtung alles jüdischen Lebens in Europa als „Vogelschiss der Geschichte“ (Alexander Gauland) ansieht. Offensichtlich hat Herr Droese keine Ahnung davon, dass der Antisemitismus und die Judenfeindlichkeit seit Jahrhunderten eine Blutspur durch die deutsche und europäische Geschichte gezogen hat. Er verdrängt (was bei Rechtsnationalisten in der Natur der Sache liegt), dass nach dem Holocaust seit 1945 in Deutschland jedes Jahr jüdische Friedhöfe und Synagogen geschändet und Menschen jüdischen Glaubens angegriffen wurden. Nur mit Erschrecken erinnere ich mich daran, welch ganz alltäglicher Antisemitismus zum Vorschein kam, als 2003ff das Ariowitsch-Haus in der Hinrichsenstraße 14 entstand und Nachbarn gegen den Bau des Begegnungszentrums der Israelitischen Religionsgemeinde klagten. Fast noch erschreckender war, dass der Leipziger AfD-Landtagsabgeordnete Roland Ulbrich unmittelbar nach dem Attentat auf die Synagoge in Halle im Oktober 2019 twitterte: „Was ist schlimmer: eine beschädigte Synagogentür oder zwei tote Deutsche?“ Was aber kann man von einem AfD-Politiker, der noch vor einigen Jahren mit einem mit AfD-Emblemen verzierten Mercedes Combi mit dem Nummernschild „L-AH 1818“ durch Leipzig fuhr, anderes erwarten, als Minderheiten, in diesem Fall Geflüchtete, zu Sündenböcken zu machen? Genau das aber ist eine der ekelhaften Merkmale des Antisemitismus.

 

7 Antworten

  1. Den Tod der eigenen Leute in Kauf zu nehmen, um weltweit Hass gegen Israel zu schüren, ist zweifellos zynisch und menschenverachtend. Dass die israelische Regierung hart auf die Hamas-Angriffe reagiert und am Ende einem getöteten israelischen Kind 20 tote Palästinenserkinder gegenüberstehen werden, dürfte niemanden überraschen. Das war schon immer so in diesem Konflikt. Bei aller berechtigten Empörung über antisemitische Ausschreitungen hierzulande und anderswo stellt sich auch diesmal wieder die Frage, inwieweit die internationale Staatengemeinschaft das in ihrer Kraft stehende getan hat, um den Palästinakonflikt befrieden zu helfen und z. B. der schleichenden Okkupation von Palästinensergebieten Einhalt zu gebieten. Floskelhafte Besänftigungsgesten gegenüber Israelis und Palästinensern stehen in keinem rechten Verhältnis zu den objektiven Einflussmöglichkeiten, die insbesondere die westlichen Länder haben. Dass Norbert Walter-Borjans (SPD) für einen zaghaften Versuch, in dieser Richtung wirksam zu werden, sofort heftig Prügel bezogen hat, ist bezeichnend.

  2. DANKE an Chr. Wolff und allen aufrechten Bürgern in diesem Lande. Und ich füge nur noch hinzu:
    Solange es zum Schutz von jüdischen Mitbürgerinne, Mitbürgern ununterbrochen nötig ist, Synagogen polizeilich rund um die Uhr und dies seit Jahren (!!!) vor Gefahren, welcher Art auch immer zu schützen, zu bewahren, ja da stimmt was in diesem Staate nicht.
    Stehen wir endlich auf und werden deutlich wach und tun wir was!!!
    Jo.Flade

  3. Zunächst: es ist zutiefst beschämend für Deutschland (und Leipzig!), wie offen Antisemitismus wieder geäußert wird. Es ist gerade mal ein Menschenleben her, dass wir Deutschen unsägliche Schuld auf uns geladen haben, die auch nicht dadurch relativiert werden kann, dass andere Staaten ebenfalls antisemitisch agierten und agieren…
    Ekelerregende Äußerungen, z.B. von AfD-Politikern (Vogelschiss, Denkmal der Schande usw.), aber auch die bewusste und häufige Nutzung antisemitischer Codes von Maaßen und Co., sind offensichtlich auf fruchtbaren Boden gefallen. Der Anschlag auf die Synagoge in Halle oder, ganz aktuell, die Schmierereien am Synagogendenkmal in der Gottschedstr. in Leipzig, dürfen uns nicht nur betroffen machen!
    Damit wird keinesfalls Kritik am Regierungshandeln Israels unterdrückt, zumal wenn dies u.a. die Bombardierung von Häusern im Gazastreifen vorsieht, in denen sich internationale Pressevertreter und Zivilisten aufhalten.
    Aber gegen „Israel – Kindermörder“ oder „Sch…Juden“ – Rufe , oder das Verbrennen der israelischen Fahne, müssen wir (Bürger und Staat!) mit aller Konsequenz und Härte vorgehen!

  4. Danke für die Stellungnahme, der ich mich anschließe.
    Danke auch für die politische und historische Einordnung, gerade im Blick auf die Geschichte und Gegenwart des Antisemitismus. In diesen verwirrenden Zeiten sind solche Erinnerungen immer wieder sehr hilfreich.

  5. Ich habe es einfach satt und zwar bis obenhin, kann nur noch kotzen, dass immer und immer wieder und das in diesem Jahrhundert, Krieg aus irgendwelchen religiösem Wahnsinn und Fanatismus geführt wird. Und das von allen Seiten, egal ob Juden, Muslime, Christen. Es wurde und – wie man sieht – es wird gemordet auf Teufel komm raus: alte Menschen, Kinder!

    Lassen wir doch verdammt noch mal die Politik aus dem Spiel!!! Es kotzt einen an, mich jedenfalls mehr und mehr. Und lassen wir bitte, bitte die Kichen, sei es die katholische oder die evangelische, aus dem Spiel! Was läuft denn gerade in der katholischen Kirche (Köln, Speyer, usw.) ab? Sexuelle Misshandlung! UND NICHTS WIRD AUFGEARBEITET; NICHTS WIRD KLARGESTELLT!

    Und wir Evangelen oder Katholiken maßen uns an, über Juden und Muslime zu richten?
    Pardon, aber sind wir normal oder fühlen wir Christen uns als das Non-Plus-Ultra????

    Nicht nur das: Es zerstört meine Freundschaften. Ich habe jüdische Freunde (aus Bulgarien), ich habe muslimische Freunde (dank meiner Tätigeit als DaZ-Lehrer), ich habe „christliche Freunde“ (aus Mittel- und Südamerika).
    Alle, gar alle, sind wir ein herrliches Team. Wir verstehen und bestens, aber dieses „Geblubber“ von „Antisemitismus“ macht mehr kaputt als es heilt.

    Was in Deutschland passierte, das war GRAUENHAFT, aber ich selbst habe während meiner Tätigkeit als Dolmetscher für Geflüchtete, in einer sogenannten EAU selbst erfahren, dass es nicht nur Antisemitismus gibt sondern einen Rassismus und eine Fremdenfeindlichkeit sondergleichen, vor allem hier in der Ex-DDR.

    Die Ansprachen des Herrn Bundespräsidenten hinsichichtlich der Bekämpfnung des Antisemitismus mögen sich ganz nett anhören, aber getan wird nix, rein gar nix. Fremdenfeindlichkeit findet statt, sogar bei den Menschen, die DANK der „Flüchtlingskrise“ gewaltig Geld verdienen. Siehe Träger der Integationkurse, ihre Angestellten und sogar ihre sogenannten „Lehrer“

    Wie gesagt, mich kotzt das nur noch an, und glaube NICHT EIN Wort, was die Politiker sagen. Alles nur billige Sprüche

    Gruss.
    R. Beceiro

  6. Der frühere US-Präsident Trump hat nicht nur die fragwürdige Verlegung der US-Botschaft nach Jerusalem verfügt; er hat auch Druck auf eine Reihe arabischer Staaten ausgeübt, die Beziehungen zu Israel zu normalisieren. So hatten die Arabischen Emirate, Bahrain, der Sudan und Marokko vergangenes Jahr mit Israel eine Normalisierung ihrer Beziehungen vereinbart. Das empört die Palästinenser.

    „Die Normalisierung der Beziehungen ohne Frieden und ohne ein Ende der israelischen Besatzung komme „der Unterstützung des Apartheid-Regimes und der Beteiligung an seinen Verbrechen gleich“, sagte der Außenminister der Palästinensischen Autonomiebehörde, Rijad al-Maliki, auf einer Krisensitzung der Organisation für Islamische Zusammenarbeit in Riad am Sonntag.

    Der saudische Außenminister, Prinz Faisal bin Farhan, rief die internationale Gemeinschaft auf, sich dringend für ein Ende des israelischen Militäreinsatzes einzusetzen. Friedensgespräche mit dem Ziel einer Zwei-Staaten-Lösung müssten wieder aufgenommen werden. „Jerusalem zu erhalten, ist unser aller Verantwortung“, unterstrich er. Saudi-Arabien hat seine Beziehungen zu Israel offiziell nicht normalisiert, unterhält aber geheime Verbindungen zu dem Land.“ © FAZ 17. 5. 21

    Die Qassam-Raketen sind von der israelischen Abwehr relativ leicht zu neutralisieren, schwer zu steuern von der Hamas.Viel gefährlicher sind die vom Iran gelieferten Shehab-Drohnen.Sie melden dem Angreifer zurück, wo sie gerade sind. Und sie können einen Zickzackkurs einschlagen, der die Abwehr auch dann schwierig macht, wenn die Drohne schon entdeckt wurde.

    Einmal mehr gießt das Teheraner Mullah-Regime Öl ins Feuer des von Ihnen, sehr geehrter Herr Wolff, in seiner Komplexität umfassend dargestellten Nahost-Konflikts.

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