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Angst essen Seele auf

Das für die Demokratie katastrophale Wahlergebnis der Europa- und Kommunalwahlen vom 09. Juni 2024 vor allem in den ostdeutschen Bundesländern hat bei nicht wenigen Bürger:innen Erschrecken ausgelöst und zur Lähmung geführt. Offensichtlich hatten die eindrucksvollen Demonstrationen und Kundgebungen für Demokratie und Menschenrechte, an denen Hunderttausende Menschen auch in ostdeutschen Städten teilgenommen hatten, keine nachhaltige Wirkung. Jedenfalls hat sich der Stimmenanteil der AfD gegenüber den Wahlumfragen zu Beginn des Jahres nicht signifikant verringert. Dabei scheint ein Faktor kaum eine Rolle zu spielen: Das skandalträchtige Personal der AfD, die zwielichtigen Verbindungen etlicher AfD-Kandidat:innen zum Putin-Regime in Russland, eine programmatische Ahnungslosigkeit auf den meisten Politikfeldern. Letztere wird damit kompensiert, alle Probleme auf zwei Ursachen zurückzuführen: Migration/Umvolkung/Islamisierung und der Ukraine-Krieg. Diesem Strickmuster folgen die meisten Redebeiträge der AfD im Bundestag.

In Ostdeutschland haben viele Bürger:innen AfD gewählt völlig unabhängig von den Personen, die zur Wahl standen. Das sagt viel über die Motivation aus: Gleichgültig, was für Typen die AfD zur Europa-Wahl präsentiert, wir wählen diese Partei. Damit bringen wir zum Ausdruck, mit welcher Verachtung wir auf die Alt-Parteien blicken. So wird in dem Wahlergebnis vor allem eine tiefe Unzufriedenheit mit sich selbst und ein Wut getränkter Selbstzerstörungsprozess offenbar. Letzterer wird rationalisiert mit politischen Vorstellungen wie: Deutschland den Deutschen … Demokratie ist auch nicht das Allheilmittel … das Volk muss das Sagen haben (wobei zum Volk natürlich nur die gehören, die echte Deutsche sind) … Wenn wir uns nur um uns selbst kümmern würden, ginge es uns besser … die Alt-Parteien haben uns all das eingebrockt, was wir nicht wollen: den Euro … eine offene Gesellschaft … eine kulturelle, religiöse, weltanschauliche Vielfalt, die wir nicht wollen … Aderlass im ländlichen Raum … Unübersichtlichkeit der politischen Abläufe.

Was an dieser weit verbreiteten Wut-/Verdruss-Haltung vor allem sichtbar wird: Vielen Menschen mangelt es an einem Selbstbewusstsein, um sich angstfrei in einer offenen Gesellschaft bewegen zu können. Sie verfügen über keinen inneren Kompass, über keine Grundüberzeugung, dass das eigene Leben völlig unabhängig von den gesellschaftlichen und ökonomischen Verhältnissen, in denen sie aufgewachsen sind, einen Wert hat, dieses Leben geachtet und beschützt wird. Nach christlicher Überzeugung gilt dies für jeden Menschen, weil das Leben uns von Gott anvertraut ist. Das hat zwei entscheidende Konsequenzen: Zum einen mache ich mich nicht total abhängig von äußeren Verhältnissen, die ich nur bedingt beeinflussen kann; zum anderen kann ich mein Leben nur in einer Beziehung zum Anderen, zum Nächsten sehen. Kein Wunder also, dass dort, wo christliche Grundüberzeugungen kaum noch eine den einzelnen Menschen prägende Rolle spielen, eine solche Inhaltsleere zu dem führt, was Rainer Maria Fassbinder vor 50 Jahren zum Filmtitel erhoben hat: „Angst essen Seele auf“. Ja, Wut und Verdruss, Angst und Panik lassen Menschen seelenlos werden. Wenn die AfD eines ist, dann dies: seelenlos.

Allein diese Sichtweise müsste dafür sorgen, dass sich nach dem Wahlergebnis die demokratischen Parteien nicht noch weiter auf die Ebene der Rechtsnationalisten ziehen lassen. Doch leider ist das Gegenteil der Fall. Nach dem 09. Juni wird vor allem der Grundwert politisch zermahlen, der eine wesentliche Säule der Demokratie ist: die Solidarität mit dem Schwächeren, der Schutz des beschädigten Lebens. Die Kritik am Bürgergeld ist dafür ein trauriges Beispiel. Da wird der Einspruch, dass das Bürgergeld angeblich zu hoch sei und von Arbeitsaufnahme abhalte, vermengt mit Migrationsproblemen und dem Ukrainekrieg. Und das geht so: Da die Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine kein Asylverfahren durchlaufen müssen, sondern sofort den Schutzstatus erhalten, haben sie Anspruch auf Bürgergeld, solange sie keiner Erwerbsarbeit nachgehen. Das müsse geändert werden, so die Forderung insbesondere von CDU und CSU. Dass in dieser Gemengelage nebenbei die ukrainischen Männer pauschal verdächtigt werden, sich dem Kriegsdienst zu entziehen, und hier nicht bereit seien, eine Arbeit aufzunehmen, rundet das bewusst erzeugte Bild vom schmarotzenden Kriegsflüchtling nur ab. Besser und schriller kann man sich als Lautsprecher für die AfD gar nicht betätigen: Zum einen wird der Ukraine-Krieg zur Ursache für die sozialen Probleme in Deutschland erklärt; zum andern wird die Kürzung aller finanziellen Unterstützung für die, die wir hier nicht haben wollen, gefordert. Dieses Spiel mit dem Feuer wird betrieben wider besseres Wissen. Denn jede:r halbwegs informierte Politiker:in kann wissen, dass das Lohnabstandsgebot nicht durch ein geringeres Bürgergeld, sondern nur durch einen höheren Mindestlohn zu erreichen ist. Außerdem wird kein Problem dadurch gelöst, dass eine Menschengruppe zum Sündenbock erklärt wird.

Bleibt die Frage: Warum sind die demokratischen Parteien nicht in der Lage, die Maßnahmen, die sie ergriffen, beschlossen haben, auch offensiv zu vertreten und als Ausfluss der Grundwerte unserer Verfassung darzustellen? Warum dieses ständige Zurückweichen vor denen, die nach dem Motto „Problemlösung durch Problemvernichtung“ verfahren und die kalte Seelenlosigkeit des Politischen praktizieren? Warum werden gerade auf dem Feld der Migration die vorhandenen Gesetze und Regelungen nicht konsequent angewendet, stattdessen aber immer neue „schärfere“ Gesetze gefordert, und so das Vorurteil bedient, es gäbe einen „Kontrollverlust“? Warum lassen sich demokratische Parteien von einer AfD und ihren Steigbügelhaltern an den Abgrund führen, den diese brauchen, um zu überleben – und um andere darin zu versenken? Warum so viel Halt-, Kraft- und Orientierungslosigkeit? Könnte dies auch daran liegen, dass wir zu häufig wohl gegenüber anderen, aber selten gegenüber uns selbst die Maßstäbe anwenden, die für ein menschliches Miteinander notwendig sind? Aber was, wenn es genau an diesen Maßstäben und an einem Grund- und/oder Gottvertrauen mangelt? Mit diesen Fragen müssen wir uns jenseits aller politischen Analysen mehr denn je beschäftigen, um die Seelen, das Rückgrat eines jeden Menschen zu stärken.

19 Antworten

  1. Es ist doch schön, lieber Herr Wolff, dass Sie nun selbst zwei Erkenntnisse verbreiten, die Ihnen hier im Blog schon mehrfach erklärt wurden:
    Erstens, dass Demonstrationen nur einen begrenzten – wenn überhaupt – politischen Wert haben und dass das in Deutschland beliebte „Zeichen setzen“ insofern eher selbstverliebtes Alibi ist als politisch wirksame Aktion;
    Und zweitens, dass die neulich verbreitete These des brainwashing der deutschen Gesellschaft etwas für sich hat, wenn Sie selbst bemerken, dass es an Selbstbewusstsein fehlt, dass der Kompass fehlt und die Leute also „hinterher laufen“.
    Dass Sie das Ganze dann zu einer Ihrer üblichen grundlosen Attacken gegen die CDU nutzen, ist Blog-immanent. Schön allerdings, dass sich die Minister Ihrer Partei (in Sachen „Bürgergeld“ zB), aber auch in Sachen Verteidigung, etc, immer mehr den CDU-Positionen annähern, weil sie die politische Realität in unserem Lande, wenn auch spät, erkennen.
    Insofern ist auch Käfers Hinweis auf die Nagelsmann-Äußerungen zu begrüßen – da hat uns ein Fußballtrainer gesagt, dass auch in einer freiheitlichen Gesellschaft das Individuum mal zurückstecken und das Wohl des Ganzen Priorität haben muss. Wenn er nun noch Ihre Aussage beherzigt: „Könnte dies auch daran liegen, dass wir zu häufig wohl gegenüber anderen, aber selten gegenüber uns selbst die Maßstäbe anwenden, die für ein menschliches Miteinander notwendig sind?“, dann sind wir richtig weit gekommen.
    Und schließlich: „Problemlösung durch Problemvernichtung“ ist eigentlich doch wohl eine gute Methode: Wenn man ein Problem „vernichtet“, dann ist es weg, das Ziel also erreicht – es kommt auf den Weg an. Nehmen wir die Sicherheit: Eine starke Verteidigung, eine „kriegstüchtige Gesellschaft“ löst weitgehend das Problem der militärischen Bedrohung durch Abschreckung und „vernichtet“ aggressive Absichten gegen ein sonst vorhandenes Vakuum – also alles gut! Nehmen wir die späten Erkenntnisse des Herrn Heil: Mehr Fordern, um Fördern zu rechtfertigen – alles richtig!
    Andreas Schwerdtfeger

      1. Es geht wohl kaum um Sieg oder Niederlage; es geht um richtige oder falsche Politik, um Problemlösung oder Problemverschleppung; um das Setzen richtiger Prioritäten bei begrenzten Ressourcen, um die Vermeidung von konsumtiven zugunsten von investiven Ausgaben (weswegen eine Kindergelderhöhung von 5 € so entsetzlich falsch ist). In anderen Worten: Es geht um Argumente im demokratischen Diskurs – und da Sie die nicht zu haben scheinen bzw sich selbst dauernd widersprechen, weichen Sie immer ins Persönliche aus, wenn ich das offenlege.
        Andreas Schwerdtfeger

    1. Ich muss zugeben, hin und her gerissen zu sein.

      Der sachlichen Argumentation von Christian Wolff, dass die Ausgrenzung von Schwachen als Sozialschmarotzer (H. Merz sprach u.a. vom Sozialtourismus ukrainischer Kriegsflüchtlinge) nicht mit einem christlichen Weltbild vereinbar ist und nur Wasser auf die Mühlen der unsäglichen AfD leitet, stimme ich aus Überzeugung zu.
      Auf der anderen Seite empfinde ich eine große Versuchung, erstmals in meinem Leben für die CDU zu stimmen, schreibt doch der alles (besser) Wissende und alles (besser) Könnende (12.6.24, 12:39 Uhr): „Scholz, Habeck, Wagenknecht, Gysi haben bisher nur gezeigt, dass sie anderer Leute Geld ausgeben können“; Merz dagegen, „der in beiden Welten erfolgreich war“ (Wirtschaft und Politik) „hat wohl den besseren Überblick und auch das bessere Team“.
      Das soll doch wohl implizieren, dass Merz als Kanzler nicht anderer Leute Geld ausgeben wird, sondern nur seinen eigenen Wohlstand, den er natürlich auf Basis seines Fleißes, Wissens und seines „Besserseins“ im Vergleich zu all den Loosern, Sozialschmarotzern und kleinen Paschas erworben hat!
      Dann sollten alle Wähler:innen dieser Lichtgestalt ihre Stimme geben; über die personelle Zusammensetzung seines „besseren Teams“ hatte ich bereits früher spekuliert.

      PS: Endlich kann ich aus meinem finsteren Keller, in den ich mich wegen „völliger Humorlosigkeit“ zurückgezogen hatte, um diese Gedanken zu notieren, wieder zurück ans Tageslicht.

  2. Um es noch einmal klar zu formulieren: ich halte weder eine „russophobe Indoktrination“ im Westen, noch die „Fortsetzung des Antiamerikanismus der SED“ als Erklärungsansatz für mehr/oder geringere AfD-Stimmanteile für zielführend, sogar eher für Quatsch.
    Mich überzeugen die Grundthesen von Christian Wolff in seinem Blog-Beitrag durchaus und ich möchte sie den Kritikern noch einmal wärmstens empfehlen!
    Weder sehe ich im Westen noch im Osten „Hass“ auf die „Russen“ oder die „Amerikaner“, wohl aber sehr kritische Stimmen (bis hin zur Verzweiflung) bezüglich Putin und/oder Trump.

    Ich hatte im Vorfeld eher bang auf den Ausgang des zweiten Wahlgangs in Frankreich geschaut, umso überraschter bin ich nun, dass der RN nur auf Platz drei – noch hinter den Macronisten eingelaufen ist! Mir ist trotzdem durchaus klar, dass eine Regierungsbildung in Frankreich ungemein schwierig werden und ggfs. von einigen Gewaltexzessen begleitet sein wird. Der „worst case“ ist aber (vorerst) abgewendet.

    Auch wenn es nur bedingt passt, finde ich, wir sollten mit Blick auf die anstehenden Wahlen mehr über die „Ruck-Rede“ von Julian Nagelsmann nach dem Ausscheiden der dt. Mannschaft bei der EM nachdenken, als immer wieder in den Abgrund des „alles ist schlecht, Deindustrialisierung droht, in fünf Jahren soll D bereit sein, einen Krieg gegen Russland zu führen….“ zu starren!

  3. Das Land ist im Wahlkampf-Modus; akzeptiert.
    Das erklärt ein Stück weit, die intensiv gewünschte Auseinandersetzung mit dem BSW als DAS SPANNENDE PROJEKT für die anstehenden Wahlen.

    4-5 Seiten Grundsatzprogramm (lt. Aussage von Fr. Wagenknecht) scheinen mir zunächst keine geeignete/hinreichende Basis für eine größere inhaltliche Auseinandersetzung. Die Fokussierung des Bündnisses auf eine einzelne Person, die in der Vergangenheit nicht für absolute Verlässlichkeit stand („Aufstehen“ und deren schnelles, stillgeschwiegenes Ende, „Putin wäre doch verrückt, wenn er in der Ukraine einen Krieg anzetteln würde“), häufiger bewusst diffamierende/falsche Aussagen tätigte („Lauterbach lügt“; „schlechteste Regierung aller Zeiten“), sich unter Arbeitslast/politischem Druck zurückzog (um es klar zu sagen: das werfe ich Fr. Wagenknecht überhaupt nicht vor, im Gegenteil finde ich es richtig, rechtzeitig auf die eigene Gesundheit zu achten! Arbeitslast/politischer Druck werden aber in den nächsten Monaten für Sie vermutlich noch deutlich zunehmen), halte ich für problematisch!

    Werden jemandem bereits „klandestine Sympathien mit der AfD angedichtet“, wenn man auf Überschneidungen bei einigen „Argumenten“ (Friedenswillen Putins, russische Gaslieferungen wieder aufnehmen, „Energiearmut“, Destabilisierung der deutschen Wirtschaft) hinweist?
    Die „Russophobie-These“ halte ich überhaupt nicht für „schwer verdaulich“, sie ist einfach nur lächerlich! Es ist absolut nachvollziehbar und selbstverständlich, dass frühere DDR-Bürger mehr und engere Beziehungen zur Bevölkerung in der Sowjetunion hatten, so wie das im Westen für die Vereinigten Staaten zutraf.
    Ich habe noch nie (trotz Trump) davon gehört, dass irgendjemand DDR-Bürgern „US-Phobie“ vorgeworfen hätte.
    Ich halte „Phobie“ auch für den falschen Begriff, wenn man Lügen von Putin, Trump und anderen Politiker:innen als solche bezeichnet! Gerade in Wahlkampfzeiten sollten wir sehr sensibel auf Täter/Opfer – Umkehr, oder die Verbreitung falscher Narrative achten!
    Ich denke, wir befinden uns in einigen wichtigen Themenbereichen (Haushalt, Klimawandel, Chancengleichheit, Internationale Zusammenarbeit, gemeinsame Werte…) mehr oder weniger in einer Sackgasse.
    Politische Führung, Zukunftsvision, Dialogbereitschaft scheint mir daher momentan wichtiger als die (dennoch nicht falsche) Erkenntnis Bill Clintos: „It‘s the Economy, stupid“.

    1. Statt Russophobie könnte man auch Antirussismus sagen, dem Pendant zu Antiamerikanismus, einem in der Propaganda gern und häufig benutztem Terminus. Lesen Sie doch nochmal den von mir seinerzeit empfohlenen Artikel von Eugen Ruge in der FAZ vom 03.11.2022 („Gibt es einen nützlichen Völkerhass?“, https://s20.directupload.net/images/221219/74ufvfhl.pdf). Vielleicht kennen Sie von ihm „In Zeiten des abnehmenden Lichts“ (Rowohlt 2011).

  4. Die hier zu lesenden Kommentare zu den Ergebnissen der Europawahl empfinde ich größtenteils als resignativ und kleinmütig. Meine Hoffnung ist, dass dank der Wahlergebnisse – die im September werden wohl ähnlich ausfallen – endlich Lernprozesse in Gang kommen bzw. sich beschleunigen, die zu einem sinnvolleren und eher erfolgversprechenden Umgang mit der AfD führen. Und wieso sollte es mir um den Zustand der Demokratie im Lande bange sein, wenn endlich eine Partei signifikante Repräsentanz in wichtigen demokratischen Institutionen erlangt, durch die ich mich am besten vertreten fühle? Sicherlich wird es immer Versuche geben, das demokratische System um des eigenen Machterhalts willen zu manipulieren (z. B. Gerrymandering in den USA). Dagegen lassen sich aber Vorkehrungen treffen.

    Es gilt immer noch der Satz Bill Clintons „It’s the economy, stupid“. Die AfD sei groß, weil sie von so vielen Menschen gewählt wird – wie banal! Selbstverständlich geht es um die Frage, warum so viele Menschen populistische Parteien wählen, und das nicht nur in Deutschland. Dass dafür die sozial-ökonomischen Verhältnisse ursächlich sind, lässt sich kaum bestreiten. Diese Feststellung beeinflusst in keiner Weise mein Urteil über die AfD. Mir ständig irgendwelche klandestinen AfD-Sympathien anzudichten, finde ich, mit Verlaub gesagt, ziemlich albern.

    Das Erstarken populistischer Bewegungen gerade in einer Phase grundlegender wirtschaftlicher Umwälzungen in den westlichen Industriestaaten zeigt, wie enge beides miteinander verknüpft ist. Die gegen Ende des letzten Jahrhunderts durchgesetzte Deregulierung der Finanzmärkte hatte uns eine globale Finanz- und Wirtschaftskrise und in dessen Folge die Euro-Krise mit all ihren besonders in Südeuropa katastrophalen sozialen Auswirkungen beschert. Die rasanten ökonomischen Liberalisierungs- und Entnationalisierungsprozesse führten zur ökonomischen Schwächung der Lohnabhängigen und mithin zu einer stagnierenden Reallohnentwicklung, vor allem in den ärmeren Teilen der Bevölkerung. Unter der Flagge des Neoliberalismus wurde Individualisierung zur Norm. Es galt fortan der Westerwelle-Spruch „Wenn sich jeder selbst hilft, ist jedem geholfen“. Bezeichnend auch die damalige Wortschöpfung „Ich-AG“! Dem Staat wurden finanzielle Spielräume beschnitten mit den desaströsen Auswirkungen auf die öffentlichen Güter, die wir heute spüren. Einher mit diesen ökonomischen Entwicklungen erlangten als Gegenbewegung dazu populistische Strömungen und Parteien in zahlreichen Ländern zunehmend Bedeutung: die AfD als Anti-Euro-Partei in Deutschland, Podemos in Spanien, in Griechenland Syriza und die faschistische Partei Goldene Morgenröte, in Finnland die Wahren Finnen usw. Und ohne die Zustände im Rust Belt der USA wäre Trump 2016 nicht Präsident geworden (Manche glauben noch immer das Märchen von der angeblich durch Putin gekauften Wahl).

    Um Parteien wie die AfD auf ein erträgliches Maß zurechtzustutzen, bedarf es sichtbarer Bemühungen, die (Lebens-) Verhältnisse im Lande zu verbessern. In dieser Einschätzung scheint es hier wohl eine gewisse Übereinstimmung zu geben. „Gegen Rechts“-Aktivismus mag zeitweilig Momente wohliger Selbstbefriedigung erzeugen, nachhaltig ist es nicht, wie man sieht. Nimmt man das ernst, wird sehr schnell klar werden, dass der von Herrn Fersterra wortreich beschriebene vermeintliche Grundwiderspruch zwischen Demokratie und Populismus eine Schimäre ist. Wie seit alters her bestimmen die Gegensätze von letztendlich ökonomisch determinierten Interessen die Politik, Interessen, bei deren mitunter rabiaten Durchsetzung sich „Demokraten“ und „Autokraten“ nicht viel nehmen. Deshalb ist auch der Appell zum Schulterschluss der „Demokraten“ eher eine Nebelkerze, die Widersprüche verkleistert anstatt sie zu erhellen. Im Gegensatz zu Herrn Fersterras Vorstellungen bedarf es m. E. mehr Streit und weniger Kompromisse, damit Widersprüche klarer zu Tage treten und den Wählern bewussteres und damit erst demokratierelevantes Wahlverhalten ermöglicht wird. Beispielhaft ist das derzeitige Gerangel um die Schuldenbremse, ein Konflikt, bei dem es eigentlich nur faule Kompromisse geben kann, verbergen sich doch dahinter grundsätzlich widerstreitende Vorstellungen über die Rolle des Staates im Kapitalismus und dessen Finanzierung.

    Es ist offensichtlich, dass der inflationäre Gebrauch des Populismus-Begriffs nicht nur der Sachanalyse sondern auch der undifferenzierten Diskreditierung des politischen Gegners dienen soll. Wie Sie Populismus definieren, Herr Fersterra, finde ich in Ordnung. Mit welcher Begründung sind Sie dann aber so eifrig bemüht, auch dem BSW das Populismus-Etikett zu verpassen? Wo sehen Sie z. B. populistische Anwandlungen bei dem von mir hier häufig zitierten Michael von der Schulenburg (er vertritt im Europäischen Parlament die Position des BSW in Friedensfragen) und dem europaweit anerkannten Experten in ökonomischen Fragen der europäischen Integration, Herrn Fabio de Masi? Er war Spitzenkandidat des BSW bei den Europawahlen. Und wieso ist die Haltung Wagenknechts zur Migration populistisch? Ich bin gespannt auf Ihre Antworten.

    Die von mir angeführte Russophobie-These mag für manche schwer verdaulich sein. Vergegenwärtigt man sich einige Wahlplakate der CDU aus den 1950ger und 1960iger Jahren (Albrecht Müller von den Nachdenkseiten, er war seinerzeit Wahlkampfmanager der SPD, hat solche unlängst gezeigt), erscheint sie so abwegig nicht. Obwohl es paradox anmutet, trotz der Nachteile der sowjetischen Besatzung, die die Ostdeutschen ertragen mussten, hatten sich in den 40 Jahren DDR zum Teil starke emotionale Beziehungen zur damaligen Sowjetunion und seinen Bürgern entwickelt. Offenbar zeigen diese heute noch Wirkung. Selbst Herrn Heusgen, wahrlich keine Russenfreund, ist das bei seinen Begegnungen mit Ostdeutschen aufgefallen, wie er vor einiger Zeit in einer Talkshow bekannte. Welche alternativen Erklärungen für die spezifische Sicht vieler Ostdeutscher auf das Verhältnis zu Russland und den Ukrainekrieg fallen denn den verehrten Forumsteilnehmern sonst noch ein? Das Stockholm-Syndrom? Vor einiger Zeit hätte ich noch gesagt, es könnte auch am höheren politischen Bildungsniveau im Osten liegen (P, die zweite).

    Noch ein Wort zu meiner, wahrscheinlich wieder mal den Putinismus-Verdacht erhärtenden Randbemerkung bezüglich der Verantwortung für die gegenwärtigen Energieprobleme. Einmal ist festzustellen, dass ein erheblicher Anstieg der Preise für Erdgas schon vor Beginn des Ukrainekrieges stattgefunden hat. Einer der Gründe dafür war die politisch gewollte Liberalisierung des Gasmarktes. Als Spekulationsobjekt war das an den Spotmärkten gehandelte Gas nunmehr teurer als bei Bezug über langfristige Lieferverträge mit Russland. Dass es später der Wirtschaftskrieg gegen Russland war, der zu steigenden Energiekosten geführt hat und als Reaktion auf den russischen Überfall auf die Ukraine angestrengt wurde, ist nicht zu leugnen. Der Nutzen, den Deutschland aus den fruchtbaren Wirtschaftsbeziehungen mit Russland lange Jahre gezogen hat, hätte Motiv sein können, sich besonders energisch und engagiert für eine Verhinderung des Krieges einzusetzen. Leider ist das nicht geschehen.

    1. Tja, lieber Herr Lerchner, allen Ihren Argumenten liegt eine Annahme zugrunde: dass die Menschen ausschließlich reagieren auf ökonomische Bedingungen. In diesem Sinn ist der Faschismus ausschließlich zu erklären als Höhepunkt des Kapitalismus (schon diese Fachismustheorie war und ist eine Vernebelung/Verharmlosung des Nationalsozialismus) – und jetzt, da der real existierende Sozialismus nach 1945 immer in den Hintergrund gerät, können Sie die gegenwärtigen Probleme mit dem Rechtsnationalismus ausschließlich dem Kapitalismus und Neoliberalismus zurechnen. Da ist es dann kein Wunder, dass die AfD zur Randerscheinung (regt euch doch bitte nicht so auf, ist doch alles halb so schlimm) erklärt und das BSW als neue:r Heilsbringer:in bejubelt wird. Schließlich werden sich alle Probleme in dem Moment in Wohlgefallen auflösen, wenn Deutschland/Europa wieder vernünftige Wirtschaftsbeziehungen zu Russland aufnimmt und billiges Gas bezieht. Mit Verlaub: Diese Welterklärung ist mir dann doch etwas zu schlicht, auch wenn sie nun im Gewand eines erstaunlichen BSW-Triumphalismus daherkommt – so als ob Wagenknecht die Mumifizierung des real existierenden Sozialismus beendet … Da kann man dann gemütlich in den Welterklärungsgräben verharren, in denen der einzelne Mensch keine Rolle mehr spielt. Beste Grüße, Christian Wolff

    2. „Der Nutzen, den Deutschland aus den fruchtbaren Wirtschaftsbeziehungen mit Russland lange Jahre gezogen hat, hätte Motiv sein können, sich besonders energisch und engagiert für eine Verhinderung des Krieges einzusetzen. Leider ist das nicht geschehen.“
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      Bundeskanzler Scholz ist kurz vor Kriegsbeginn bei Putin gewesen, und dieser hat ihm versichert, keinen Angriff zu starten.

  5. Es lässt sich nicht leugnen, der Wahlkampf ist eröffnet!

    Inhaltlich klug, ausgewogen und zur Reflexion anregend, im Beitrag von Christian Wolff:

    „Wut und Verdruss, Angst und Panik lassen Menschen seelenlos werden“,
    „Kein Problem wird dadurch gelöst, dass eine Menschengruppe zum Sündenbock erklärt wird“,
    Könnte es sein, „dass wir … zu häufig gegenüber anderen, aber selten gegenüber uns selbst die Maßstäbe anwenden, die für ein menschliches Miteinander notwendig sind“?
    Viele „Menschen verfügen über keinen inneren Kompass, über keine innere Grundüberzeugung, dass das eigene Leben völlig unabhängig von den gesellschaftlichen und ökonomischen Verhältnissen, in denen sie aufgewachsen sind, einen Wert hat, dieses Leben geachtet und beschützt wird“.

    Auch Her Festerra meldet sich – wieder – sehr differenziert und mein persönliches Empfinden sehr gut treffend.

    „Es wird für den politischen Beobachter … nicht deutlich, dass sich Regierung und demokratische Opposition in der Parteiendemokratie viel näher stehen, als Regierung und Opposition gegenüber den Populisten“.
    „Friedrich Merz … liefert der AfD … die besten Argumente, warum Demokratie schlecht ist“ (ich ergänze: Sahra Wagenknecht ebenfalls!).

    Mich persönlich enttäuscht, wie ein vor vielen Monaten von mir noch als sehr empathisch und meinungsstark geschätzter Mit-Blogger, jetzt eher Allgemeinplätze seiner Bündnisvorsitzenden schreibt:

    „Dann gibt es Leute wie Herr Fersterra, die unter dem Eindruck eines in deren Umfeld wahrgenommenen Wohlstands meinen, dass es so etwas (gemeint ist wohl: Unzufriedenheit) doch gar nicht geben dürfte“.
    „Jemandem, der kaum seine Miete und die Stromrechnung zahlen kann, zu erklären, er soll das doch nicht so wichtig nehmen und sich dagegen seines von Gott geschaffenen Menschseins freuen“.
    „In fünf Jahren sollen wir bereit sein, einen Krieg gegen Russland zu führen“.
    „Eine Rolle spielt …, das im Osten … geringere Ausmaß russophober Indoktrination“.
    (Offensichtlich, bzw. glücklicherweise bin ich durch die mir im Westen zuteil gewordene russophobe Indoktrination bislang immun gegen die Verlockungen der AfD oder des BSW geblieben!)

    Insgesamt enthält sein Beitrag sehr viel Zynismus, gepaart mit aus meiner Sicht absichtlicher Verbreitung von Fake-News!

    Wenn die Demokraten und die demokratischen Parteien bis zum 1.9.24 so weitermachen, fürchte ich in der Tat (sehr) schlimme Ergebnisse.

  6. Lieber Christian Wolff,
    ich bleibe an der Überschrift Ihrer Mail hängen: „Wider die Seelenlosigkeit des Politischen“, die Sie am Ende ihres Blogs so umschreiben: „Warum lassen sich demokratische Parteien von einer AfD und ihren Steigbügelhaltern an den Abgrund führen … Warum so viel Halt-, Kraft- und Orientierungslosigkeit?“
    Auch mir fällt auf, wie „seelenlos“ und kleinmütig die Vertreter der Demokratie auf die Angriffe der Populisten und der AfD reagieren. Da ist so wenig Charisma, so wenig Begeisterung in der Verteidigung unserer Demokratie zu erkennen. Das Pathos für die Demokratie war im Frühjahr bei den großen Demonstrationen spürbar. Doch dieser Impuls wurde von den etablierten Parteien kaum aufgenommen.
    Ich frage mich: Warum ist das so? Ich nehme bei den Demokraten (Regierungsparteien und demokratische Opposition) Müdigkeit und Erschöpfung war, die den gesamten politischen Streit belasten. So gibt es auf der einen Seite bei den Verteidigern der Demokratie eine mit Händen zu greifende „Halt-, Kraft- und Orientierungslosigkeit“, während bei den Feinden der Demokratie ein hohes Maß an Aggressivität und zerstörerischer Kraft zu bemerken ist, verbunden auf dieser Seite mit dem Pathos (das nichts mehr als eine gigantische Täuschung ist), man habe die Antwort auf alle Fragen und für alles die besseren Lösungen. Das ist wirklich besorgniserregend.
    Die eingespielten Rituale der parlamentarischen Demokratie vor dem Auftauchen der Populisten spielen jetzt eine verhängnisvolle Rolle. Demokratie lebt bekanntlich von (schonungsloser) Kritik und Opposition. Vorgaben der Regierung müssen von der Opposition kritisiert werden, damit im parlamentarischen Prozess die besten Kompromisse erzielt werden können. Kritik ist also wichtig und gut. Zum überkommenen Ritual der Parteiendemokratie gehört dabei die Überzeichnung. Im parlamentarischen Streit, verdichtet im Wahlkampf, wird dabei die Position des politischen Gegners oft überzeichnet. (An den Konzepten des politischen Gegners ist alle falsch und nichts richtig.) Respekt und Wertschätzung für die Leistung des politischen Gegners, Betonung der gemeinsamen Überzeugungen und Werte war in diesem Diskurs nicht vorgesehen und kommt in den alten Ritualen nicht zum Ausdruck. In der gegenwärtigen Situation erledigt diese Form des demokratischen Streits aber das Geschäft der AfD! Ein Friedrich Merz zum Beispiel liefert der AfD pausenlos die besten Argumente, warum Demokratie schlecht ist.
    In den über Jahrzehnte eingeübten Ritualen der Parteiendemokratie kommt die gemeinsame Identität der Demokraten, die es doch ungeachtet aller Gegensätze in der Sache gibt, in der alltäglichen politischen Auseinandersetzungen kaum zum Ausdruck. Es wird für den politischen Beobachter (vor allem wenn er die alten Rituale nicht kennt, was für die meisten Ostdeutschen gelten dürfte) nicht deutlich, dass sich Regierung und demokratische Opposition in der Parteiendemokratie viel näher stehen, als Regierung und Opposition gegenüber den Populisten.
    In dieser Zeit der Angriffe auf die Demokratie müsste aber permanent zum Ausdruck kommen, dass die demokratischen Parteien bei all Gegensätzen gemeinsam unendlich weit von dem autoritären Denken der AfD entfernt sind. Dass sie alle gemeinsam durch diese Partei existenziell bedroht sind. Dass sie alle gemeinsam Opfer dieser Partei würden, sollte sie irgendwann einmal an die Macht kommen. Stattdessen schwächen sich die demokratischen Parteien durch die Art ihres Diskurses permanent gegenseitig.
    Wenn die Altparteien ihre gemeinsame demokratische Identität in ihren täglichen Streit zum Ausdruck brächten, könnten sie den Populisten etwas entgegen setzen. Dazu müsste der Streit in der parlamentarischen Demokratie einen ganz neuen Charakter bekommen. Eine neue politische Rhetorik und ganz neue Rituale müssten entwickelt und eingeübt werden.
    In der Zeit des Krieges müssen die Demokraten permanent ihre gemeinsame Überzeugung zum Ausdruck bringen. Dazu muss miteinander verbunden werden, was auf den ersten Blick nicht zusammenzupassen scheint: schonungslose Kritik im Ringen um die richtigen politischen Entscheidungen und zugleich Respekt und Wertschätzung für den politischen Gegner. In der Zeit des Krieges und des hybriden Kampfes müssen die Demokraten das Gemeinsame zum Ausdruck bringen. Die Größe der eigenen gemeinsamen Überzeugungen darf nicht permanent hinter dem politischen Streit zurücktreten, der oft so kleinkariert wirkt. Sonst werden die Demokraten dem Furor des Gegners wenig entgegen setzen können.
    Das führt mich zu der Frage: Ist Demokratie in der Lage, die Größe der gemeinsamen Überzeugung aufstrahlen zu lassen oder muss sie zwangsläufig in seelenloser Kritik versinken?

    1. Auf die zuletzt gestellte Frage kann ich nur so antworten: Es wird entscheidend darauf ankommen, dass wir gesellschaftspolitische Probleme klar benennen und in der Kommunikation ihre Lösung bzw. Lösbarkeit in den Mittelpunkt stellen. Derzeit werden Probleme wie Migration nur dazu benutzt, um Menschen gegenseitig aufzubringen bzw. den Menschen zu suggerieren, würden bei uns weniger Geflüchtete leben, hätten wir weniger Kriminalität und mehr Wohnraum. Außerdem werden Probleme vermehrt im Panikmodus „Wir sind am Limit“, „Wir stehen am Abgrund“ kommuniziert und damit angezeigt: Es gibt keine Lösung außer die, das Problem als solches zu beseitigen. Das aber hat mit Demokratie nichts zu tun. Denn diese dient dazu, dass wir Menschen mit unseren sehr unterschiedliche Interessen und Lebensweisen diese in einem friedlichen Diskurs aufeinander beziehen und zu einem Ausgleich bringen.

  7. Wut und Unzufriedenheit beziehen sich selbstverständlich vorrangig auf die realen, negativen Entwicklungen im Lande. Sie sind auch Ausdruck eines sich messbar verschlechternden mentalen Gesundheitszustands der Bevölkerung sowie zunehmender Erschöpfungserscheinungen und Einsamkeitsgefühle unter den Bürgern, so der Soziologe Hartmut Rosa von der Uni Jena (Tagesschau 20.06.2024). Insbesondere die psychische Gesundheit bei Jugendlichen sei katastrophal. Das steht im Widerspruch zur Wolff’schen These, es handele sich um subjektive, psychopathologische Erscheinungen: Unzufriedenheit als eine solche mit sich selbst und Wut als Ausfluss der Unfähigkeit zu innerer Konfliktbewältigung.

    Dann gibt es Leute wie Herr Fersterra, die unter dem Eindruck eines in deren Umfeld wahrgenommen Wohlstands meinen, dass es so etwas doch gar nicht geben dürfte. Dass der Wohlstand sehr einseitig verteilt ist und sich u. a. infolge der stark gespreizten Reallohnentwicklung der letzten Jahrzehnte die soziale Ungleichheit wieder dem Niveau der 1920er Jahre nähert (Das oberste Zehntel verdient wieder 45-50 Prozent des nationalen Gesamteinkommens), wird aus lauter Borniertheit nicht wahrgenommen. Jemandem, der kaum seine Miete und die Stromrechnung bezahlen kann, zu erklären, er soll das doch nicht so wichtig nehmen und sich dagegen seines von Gott geschaffenen Menschseins erfreuen, wird nicht zu großer Begeisterung führen. Apropos Stromrechnung: Man spricht von Energiearmut, wenn ein Haushalt mehr als zehn Prozent des Nettoeinkommens für Energie ausgibt. Diese nimmt im Zuge der aktuellen, zum Teil von der Politik verschuldeten Energiekrise zu und betrifft mittlerweile nahezu 25 Prozent der Haushalte. Die reichsten zehn Prozent unter den Einkommensgruppen verbrauchen knapp doppelt so viel Energie im Jahr wie das einkommensschwächste Dezil, deren Energieausgaben am Einkommen betragen aber nur zwei Prozent (WELT 26.06.2024).

    Weiterhin wird völlig ignoriert, dass die Wahrnehmung, ob jemand in guten oder schlechten Zeiten lebt, weniger vom statischen Zustand bezüglich Besitz, Einkommen, Gesundheitsversorgung oder Wohnsituation abhängt, sondern davon, worauf wir uns als Gesellschaft zubewegen (H. Rosa). Und was stellen wir diesbezüglich fest? In fünf Jahren sollen wir bereit sein, gegen Russland einen Krieg zu führen. Manche schwadronieren über den Einsatz von NATO-Bodentruppen in der Ukraine. Die Zukunft soll also Rüstung und Krieg sein. Es ist offensichtlich, dass wir den Klimawandel nicht in den Griff bekommen. Die selbstgesetzten Ziele werden sukzessive aufgeweicht. Jeden Tag wird in den Zeitungen über den wirtschaftlichen Niedergang im Lande sinniert. Die Abwehr von Migration ist zu einer Hauptaufgabe geworden. Es ist die Bewegung hin auf eine dunkle Wand, die Ursache für Hoffnungslosigkeit und Wut ist.

    Das hat alles nichts mit der AfD zu tun. Die machen sich die Probleme nur zunutze. Es ist die Unfähigkeit der derzeit Regierenden, glaubhaft positive Visionen zu vermitteln. Wie sollen die kollektiven Lösungen gegen die ökologische Krise, für eine Vorsorge gegen die nächste Pandemie oder gegen die globale Ungleichheit aussehen? Wann werden die Milliarden für sozialen Wohnungsbau und für die massenhafte Einstellung von Lehrern bereitgestellt, die benötigt werden, um die real existierenden Belastungen durch Migration abzumildern? Wann wird ernst gemacht mit der Beseitigung von Fluchtursachen? Wer macht sich Gedanken über eine gesamteuropäische oder gar globale Sicherheitsarchitektur? Ist es eine verantwortungsvolle Politik, wenn ständig über „Taurus“ – ja oder nein diskutiert wird, anstatt Räume für Debatten über einen Verhandlungsfrieden im Ukrainekrieg zu öffnen? Dass dieses Thema besonders in Ostdeutschland eine herausragende Rolle spielt, hat sich gerade wieder gezeigt und wird auch im September den Ausgang der Wahlen wesentlich beeinflussen. Eine Rolle dabei spielt sicherlich das im Osten im Vergleich zu Westdeutschland geringere Ausmaß russophober Indoktrination. Eine massive Kritik an der gegenwärtig vorherrschenden Politik im Lande hat nichts mit Populismus zu tun. Entscheidend ist, wie fundiert und engagiert für Alternativen gefochten wird.

    1. Vielen Dank, lieber Herr Lerchner, für diesen Kommentar. Er klärt Vieles.
      1. Das Sein bestimmt eben nicht nur das Bewusstsein, sondern es gilt auch das Umgekehrte: Das Bewusstsein bestimmt das Sein. MaW: „reale, schlechte Entwicklungen im Lande“ sind nicht erst in der Jetzt-Zeit festzustellen. Die hat es zu allen Zeiten gegeben. Die Frage ist nicht nur, was politisch dagegen zu tun ist. Die Frage ist bauch, wie wir Menschen damit umgehen. Hartmut Rosa weist daraufhin, dass der Mensch eine Quelle für Werte, Zuversicht und Gewissheit benötigt, die außerhalb seines eigenen Ich’s liegt, um in dieser Welt zu bestehen. Genau darauf wollte ich auch hinweisen, ohne die Einfluss der gesellschaftspolitischen Bedingungen auf das Verhalten/Bewusstsein der Menschen in Abrede zu stellen.
      2. Herr Fersterra hat lediglich auf den eklatanten Widerspruch hingewiesen, dass Menschen alles schlecht reden, obwohl es ihnen an nichts mangelt (und dann womöglich auch noch AfD wählen). Auffällig ist wiederum, dass so ganz nebenbei Herr Lerchner davon spricht, dass die Ernergiekrise von der „Politik verschuldet“ ist. Da wird mal wieder Putin-Russland völlig ausgeblendet.
      3. Ja, es stimmt: die subjektive Wahrnehmung der Wirklichkeit hängt nicht allein von Besitz, Einkommen etc. ab. Es spielen die gefühlten Krisen (Krieg und Hochrüstung, Klimawandel, Migration, angeblicher wirtschaftlicher Niedergang) eine entscheidende Rolle. Doch was bedeutet diese Feststellung anderes als Menschen darauf hinzuweisen, dass trotz aller Unzulänglichkeit Vieles sehr vernünftig läuft. Das heutige Interview im DLF mit Franz Müntefering ist dafür ein gutes Beispiel.
      4. Das alles hat sehr viel mit der AfD zu tun. Die permanente Ausklammerung der AfD als ein Grundproblem für die Demokratie ist in meinen Augen mehr als verräterisch. Die AfD ist nicht deswegen groß, weil die Refierenden so blöd und unfähig sind, wie Herr Lerchner es zu suggerieren meint. Sie ist groß, weil sie von entsprechend vielen Menschen gewählt wird. Natürlich spielen auch die Fragen eine Rolle, die Herr Lerchner im letzten Absatz aufwirft. Aber der Satz „Eine Rolle dabei spielt sicherlich das im Osten im Vergleich zu Westdeutschland geringere Ausmaß russophober Indoktrination.“ in meinen Augen einer Realsatire gleich.
      5. Ja, Kritik an der Regierungspolitik ist nicht per se populistisch. Allerdings wird Kritik dann fragwürdig, wenn sie auf den von den Rechtsnationalisten beschworenen „Systemwechsel“ zielt. Denn der will ja, wenn er erreicht ist, keinen Wechsel mehr zulassen. Dadurch zeichnet sich auch der um sich greifende Autokratismus. Das sollen also die „Alternativen“ sein? Vielen Dank, lieber Herr Lerchner, auf diese Alternativen einschließlich BSW kann ich gut verzichten.

      1. „Aber der Satz „Eine Rolle dabei spielt sicherlich das im Osten im Vergleich zu Westdeutschland geringere Ausmaß russophober Indoktrination.“ in meinen Augen einer Realsatire gleich.“
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        Eine treffende Äußerung, lieber Herr Wolff. Schließlich hatten DDR-Bürger ganz persönliche Erfahrungen mit Russen. Ohne die sowjetischen Panzer wäre die DDR bereits am 17. Juni 1953 am Ende gewesen. Andererseits gab es auch Berührungspunkte zu gewöhnlichen Sowjetbürgern. So hatte ich in der Grundschule eine Brieffreundschaft zu einer Tamara aus Leningrad (was wird wohl aus ihr geworden sein). Ein tschetschenischer Lehrerkollege meiner Mutter besuchte uns. Als Soldat lernte ich bei einem „Freundschaftsbesuch“ in einer Kaserne die schlechten Lebensbedingungen von Soldaten kennen. Dumm war nur mein innerer Widerstand gegenüber der russischen Sprache und damit die rudimentären Kenntnisse nach 9 Jahren Lernzeit. Ich kann`s nicht ändern: Ein Neuseeländer steht mir näher als ein Russe.

  8. Vielen Dank für Ihre genaue Analyse und das Resümee! So ist es. K. Barths Worte „Es wird regiert“ lassen mich angesichts dessen nicht hoffnungslos werden…

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