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Vom Abweisen und Annehmen: ein paar Gedanken zur Triage und Jahreslosung 2022

Triage – eines der Worte, die im Verlauf der Pandemie Eingang in den allgemeinen Sprachgebrauch gefunden haben. Triage – darunter versteht man die Festlegung der Behandlungsreihenfolge von schwer erkrankten oder verletzten Menschen, wenn die personellen und materiellen Ressourcen zur Behandlung aller nicht ausreichen. Triage bezeichnet also das, was wir Menschen Tag für Tag vornehmen: Wir priorisieren ständig Zuwendung, Engagement, Geldausgaben – gerade in der Weihnachtszeit. Wen bedenke ich mit einem Geschenk und wen nicht, wem schreibe ich einen persönlichen Gruß und wen streiche ich von der Liste, welchem Bettler werfe ich ein Geldstück in den Kaffeebecher und an wem gehe ich achtlos vorbei, an welche Organisation überweise ich wie viel Spendengelder und an welchen Verein nicht.

Nun ist in Zeiten der Pandemie die Triage zu einem Begriff geworden, der ein ethisches Horrorszenario für Ärzte wie betroffene Patienten beschreibt: Was geschieht, wenn auf den Intensivstationen der Krankenhäuser nicht mehr alle einer intensivmedizinischen Behandlung bedürftigen Patienten versorgt werden können? Nach welchen Kriterien wird dann die Reihenfolge festgelegt und wer entscheidet darüber? Am vergangenen Dienstag hat das Bundesverfassungsgericht verfügt, dass es dazu einer gesetzlichen Regelung bedarf. Denn es gelte unbedingt zu verhindern, dass Menschen mit Behinderungen bei einer solchen Entscheidung benachteiligt werden. Kaum war das Urteil veröffentlicht, meldete sich der Interessenverband der Senior*innen und verlangte, auch aufgrund des Alters dürfe bei einer Triage niemand Nachteile haben.

Nun geht die Debatte munter weiter. Die Freiburger Juraprofessorin Tatjana Hörnle hält es für gerechtfertigt, dass bei einer Triage, also der Priorisierung der Behandlungsfolge, auch der Impfstatus eine Rolle spielen solle. Schließlich handelt es sich nach Hörnle bei einem Menschen, der sich nicht hat impfen lassen und schwer an Covid19 erkrankt, um „eine entscheidungsfähige, volljährige Person“, die „wesentlich oder gar ausschließlich durch eigenes Verhalten ihre Notlage verursacht hat.“ (https://verfassungsblog.de/warum-der-impfstatus-bei-der-corona-triage-doch-eine-rolle-spielen-darf/) Ein solches Kriterium „eigenes Verhalten“ hat aber der Verband der Intensivmediziner DIVI schon vor dem Bundesverfassungsgerichtsurteil abgelehnt: „Eine Priorisierung ist aufgrund des Gleichheitsgebots nicht vertretbar nur innerhalb der Gruppe der COVID-19-Erkrankten und nicht zulässig aufgrund des kalendarischen Alters, aufgrund sozialer Merkmale oder aufgrund bestimmter Grunderkrankungen oder Behinderungen und auch nicht aufgrund des SARS-CoV-2-Impfstatus.“ (https://www.divi.de/joomlatools-files/docman-files/publikationen/covid-19-dokumente/211125-divi-covid-19-ethik-empfehlung-version-3-vorabfassung.pdf)

Es gehört nicht viel Phantasie dazu, welche Debatten nun auf uns zukommen. Wie soll im Gesundheitswesen in Zukunft mit Rauchern, Alkoholikern, Übergewichtigen, Extremsportlern, Strafgefangenen umgegangen werden, die alle durch „eigenes Verhalten“ in eine prekäre Lebenssituation geraten sind? Schon will der bayerische Gesundheitsminister Klaus Holetschek (CSU) Ungeimpfte an Krankenkosten beteiligen oder ihnen das Krankengeld streichen. Heute sind es die Ungeimpften, bei denen man den Gleichheitsgrundsatz nicht mehr gelten lassen will – und morgen? Kann das Grundrecht auf Leben abhängig gemacht werden vom „eigenen Verhalten“? Keine Frage: Das ist ein gefährlicher, verfassungsrechtlich ungangbarer Weg. Denn das Grundgesetz geht von der Gleichwertigkeit und Schutzwürdigkeit eines jeden Leben aus. Die Würde des Menschen umfasst sehr viel mehr als Gesundheitsschutz. Einer „Volksgesundheit“ dürfen nicht die Individualrechte geopfert werden. Es wird also höchste Zeit, dass wir uns nicht in den Strudel eines völlig unnötigen und kontraproduktiven Ungeimpftenbashings hineinziehen lassen, in den sehr schnell andere Bevölkerungsgruppen mitgerissen werden.

2022 begleitet die Christen in Mitteleuropa als Jahreslosung ein Wort Jesu aus dem Johannesevangelium: „Wer zu mir kommt, den werde ich nicht abweisen.“ (Die Bibel: Johannes 6,37) Nicht abweisen – das ist eine Handlungsmaxime, die wir dem Leben und Wirken Jesu verdanken. Bei ihm findet jeder Mensch eine offene Türe und erfrischende Zuwendung. Herkunft, Geschlecht, Alter, Gebrechlichkeit, Lebensgeschichte spielten keine Rolle. Allerdings: Der Weg zu ihm liegt in der Möglichkeit und Verantwortung eines jeden Menschen. Die Gewissheit aber, dass diejenigen, die zu ihm kommen, angenommen und nicht abgewiesen werden, die ist gegeben. Davon zeugen die vielen Geschichten, in denen sich Jesus Menschen begegnet ist und mit ihnen das Brot geteilt hat – auch mit solchen, die von anderen ausgegrenzt, vor die Tür gesetzt, verachtet wurden. An diesem faszinierenden Auftreten Jesu haben sich zu allen Zeiten Menschen innerhalb und außerhalb der Kirchen orientiert. Von diesem Geist Jesu sind Gott sei Dank auch unser Grundgesetz, auch Teile unserer Gesellschaft geprägt. In diesem Geist wachsen nach wie vor Kinder und Jugendliche auf und werden so auf ein menschenfreundliches Leben vorbereitet. Aber wir spüren auch, dass davon nichts selbstverständlich ist. Schon bei der sog. Flüchtlingskrise wurde deutlich, dass mancher ein Interesse daran hat, den Menschen diesen Geist Jesu auszutreiben. Das sollten wir nicht fortsetzen, indem wir die Gesellschaft weiter segmentieren. Denn wenn wir Spaltungen überwinden, Ausgrenzungen stoppen und Gräben zuschütten wollen, wenn wir weniger Alltags-Triage praktizieren wollen, dann sollten wir uns die Jahreslosung zu Herzen nehmen. Welcher Segen kann von einer Begegnung mit Menschen ausgehen, die wir nicht abweisen!

14 Antworten

  1. Nach dem Urteil habe ich die Diskussion so erwartet und kann mich den Forderungen nicht anschließen. Ich bin allerdings der Meinung, dass es den Ungeimpften nahe gebracht werden sollte, wenn Krebsoperationen, Behandlungen von Herzproblemen oder Schlaganfällen u.ä. aufgeschoben werden müssen, weil ungeimpfte Covid-Patienten in den Intensivbetten liegen. Auch aufschiebbare Operationen können den Betroffenen Leid bescheren. Wenn ich mit dieser Meinung auch Ungeimpftenbashing betreibe, tut es mir leid aber das kann ich dann nicht ändern. Individuelle Freiheit sollte sich auch daran messen lassen, was man den Schwächeren antut.

  2. Mich beschäftigen die Gedanken, Herr Wolff, die sie über die ‚alltägliche Triage‘ äußern, sehr und es beschämt mich, solcherart Empfindungen auch beimir selbst zu entdecken.
    Aus christlich-humanistischer (oder auch humanistisch-christlicher – wie auch immer) Sicht
    gehe ich mit ihnen konform – selbst geimpft oder ungeimpft; Coronaleugner oder Coronaakzeptierer kann -ja d a r f hier keine Rolle spielen. Jesus als Beispiel finde ich an dieser Stelle gut. Vielen Dank, Herr Wolff und ein gesegneetes und vor allem gesundes 2022 wünsche ich ihnen

  3. „…Eines ist klar: Diesen Spielraum zu strukturieren will Karlsruhe nicht einmal den medizinischen Fachgesellschaften überlassen, geschweige denn der praktischen Klugheit der Ärzte und Pfleger. So bleibt es nicht bei der Überschätzung der Möglichkeit des Gesetzgebers, tragische Entscheidungssituationen zu typisieren und zu normieren, und das auch noch auf einem solch heterogenen Feld wie „Behinderung“.

    Mindestens so irritierend ist das Misstrauen in die Fähigkeit der Intensivmediziner, der multiprofessionellen Teams sowie der lokalen Ethikkommitees auch unter Pandemiebedingungen Diagnosen und Prognosen zu stellen, die den spezifischen Bedürfnissen von Menschen mit Behinderungen (oder auch anderen Risikopatienten) gerecht würden. Dem Vertrauen in das Gesundheitssystem hierzulande ist diese Entscheidung aus Karlsruhe weder zweckdienlich noch zuträglich“.

    https://www.faz.net/aktuell/politik/inland/irritierender-triage-beschluss-vom-bundesverfassungsgericht-17704683.html

  4. Lieber Herr Wolff, ich folge Ihren Gedanken gerne. Die Triage Diskussion kommt immer wieder auf – wir hatten sie ja auch bei Rauchern und Lungenkrebs. Ich folge gerne auch der Jahreslosung, aber was macht nun der Mediziner oder die Medizinerin damit, wenn er oder sie diese furchtbare Entscheidung treffen muss?

  5. Wenn ich ehrlich und gerecht vor mir selber bleibe mit all meinen Widersprüchen, Schatten und Vermögen und diese aushalten kann , ohne mich oder mein Gegenüber verwerfen zu müssen, ist die Chance möglicherweise etwas günstiger, mich in mein Gegenüber einzufühlen und somit Indias was ihn hindert, sich in andere einzufühlen, die nicht fühlen wie ich. Rechne ich mich den Gerechten zu , gibt es nur noch ein Oben- unten Gefälle. Spannung und Widersprüche aushalten zu vermögen ist die Basis jeder Kultur zwischen uns Menschen. Das fordert alles in uns und wir können das nur aufbringen, wenn wir uns in unsrem So- Sein gehalten und begleitet fühlen können, wenn also Inter- esse( etwas zwischen uns) da ist, wirkt, dass Toleranz ermöglicht. Das ist und bleibt für mich ein sehr hoher Anspruch, dem ich vielleicht auch nicht immer entsprechen kann. Das muss ich aushalten und damit zu leben versuchen. Jeden Tag neu, mich nicht darin beirrender entmutigen lassen und mir zugleich meine sehr bewusste Unzulänglichkeit verzeihen können, ohne in die eingebildete Versuchung zu geraten, meine Hände in Unschuld waschen zu wollen. Arrogante , also nicht hinterfragte Gewissheiten stehen jedem Austausch auf Augenhöhe entgegen. Ob ein Blog immer das angemessene Mittel ist für einen solchen Austausch im Vertrauen? Nun ich versuche , das eine und das andere: der direkte Austausch, Auge um Auge ist mir dann doch vertrauter und zwingt mich mehr In die unmittelbare Verantwortung . So kann ich mich nicht hinter wohlfeilen Worten und Bekundungen verstecken. Immerhin macht der Blog auf das allgemeine Problem aufmerksam und fokussiert mich auf meine persönliche Verantwortung, da , wo und wie ich lebe.

    1. Sie haben vollkommen recht: Ein Blog-Beitrag ersetzt nicht das persönliche Gespräch. Aber er kann eigene Sichtweisen ergänzen, Argumente liefern und so Gespräche bereichern. Ein Ersatz bzw. eine Alternative für die analoge Kommunikation ist er ganz sicher nicht.

  6. Dass in Deutschland im Zusammenhang mit der Intensivbehandlung von Covid-19-Patienten über Triage diskutiert wird, ist ein Skandal. Ich erinnere mich an ein FAZ-Interview mit einem chinesischen Mediziner im letzten Jahr, der überhaupt nicht verstehen konnte, wieso Triage eine Frage sein kann. Als entsprechender Bedarf bestand, wurde eben innerhalb von Tagen ein komplettes Hospital errichtet. All diese arroganten Großschnauzen hier bei uns im Lande, die sich tagtäglich über ach so autokratische Gesellschaften erheben, sollten sich bemühen, Probleme aus der Welt zu schaffen und dadurch Humanität zu praktizieren anstatt Missstände zu verwalten.

    1. Sehr geehrter Herr Lerchner,
      ich finde es sehr gut, dass bei uns über die Triage diskutiert wird. Denn in China wird darüber nicht diskutiert, dort wird es einfach praktiziert. Und wir möchten beide nicht wirklich wissen, welche Kriterien dabei angewendet werden. Ich habe 2,5 Jahre in Nordchina gelebt und einige Indizien dafür gesehen: Fahrzeuge von Parteifunktionären haben eine spezielle Hupe – wenn die erklingt, machen alle anderen Verkehrsteilnehmer Platz, rote Ampeln existieren nicht, etc. Dafür halten Krankenwagen mit Blaulicht an der Ampel, wenn diese Rot zeigt. Die Frau eines Kollegen wurde mit akutem Herzinfarkt drei Stunden im Eingangsbereich des Krankenhauses ohne jede Versorgung liegen gelassen, bis der Ehemann 30000 Yuan in bar beschafft hatte – was wenn sie gestorben wäre? Achselzucken. Ja, ein Notkrankenhaus wird in wenigen Tagen aus dem Boden gestampft, so etwas habe ich auch erlebt. Sind Sie sich auch sicher, dass das pflegerische und ärztliche Personal dafür vorhanden ist? In den siebziger Jahren hatte Mao tausende „Barfußärzte“ zur Revolutionierung der ärztlichen Versorgung auf dem Land buchstäblich aus dem Boden gestampft – ihre einzige Qualifikation bestand in einem Blatt Papier mit der Bestätigung, dass sie Barfußärzte seien.
      Und last but not least denken Sie an die Hunderttausende bis vielleicht Millionen Zwangsabtreibungen (zum Teil bis zum 9. Monat) zur Durchsetzung der Einkind-Politik.
      Der schnelle Krankenhausbau und diese Beispiele gehören zusammen, weil beides nur auf der Grundlage möglich ist, dass es keine Möglichkeit gibt, gegen eine staatliche Verfügung Einspruch einzulegen. da es keinVerwaltungsrecht gibt.
      Also wie gesagt, mir ist es sehr recht, dass bei uns über Triage gesprochen wird.
      Wolfgang Denk

        1. „Da muss man für Werte eintreten, und wer diese Werte nicht vertritt, der kann jederzeit dieses Land verlassen, wenn er nicht einverstanden ist. Das ist die Freiheit eines jeden Deutschen.“ © Walter Lübke

        2. Die Sterbezahlen sind sicher nicht vergleichbar. Während in China vermutlich aus politischen Gründen die Zahlen sehr niedrig gehalten werden als Zeichen, dass die KP alles im Griff hat, zählt man in Deutschland ja recht großzügig alles, was auch nur entfernt
          durch Covid verursacht sein könnte.

      1. Und was mein eigentliches Anliegen betrifft: Warum nimmt man im reichen Deutschland so viele Corona-Tote in Kauf (!) und diskutiert eher das Verwalten von Sterben (Triage)? Die gleiche Frage könnte man übrigens auch stellen bezüglich der jährlich mehr als zehntausend vermeidbaren Sepsis-Toten in deutschen Krankenhäusern.

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