Aus Anlass seines 80. Geburtstages veranstaltete die Stiftung Friedliche Revolution und die Kirchgemeinde St. Nikolai am Sonntag, 05. März 2023, ein Benefizkonzert mit dem Orchester „Klänge der Hoffnung“ und Nikolaikantor Markus Kaufmann. „Klänge der Hoffnung“ ist ein Projekt der Stiftung Friedliche Revolution für geflüchtete Musiker:innen. Sie haben Kompositionen u.a. aus Syrien, Iran, Türkei gespielt. Markus Kaufmann hat auf der Ladegast-Orgel eine Komposition eines Enkels von Christian Führer, Ludwig Führer, uraufgeführt. Ich selbst habe eine Ansprache gehalten.
Wenn Christian Führer jetzt hier stehen würde, dann hätte er angesichts des Orchesters „Klänge der Hoffnung“ das Jesus-Wort aus dem Lukasevangelium zitiert: „Und es werden kommen von Osten und von Westen, von Norden und von Süden, die zu Tisch sitzen werden im Reich Gottes.“ Und er hätte sicher hinzugefügt: „… und werden Musik machen.“
Liebe Geburtstagsgesellschaft in der Nikolaikirche,
es gehört zu den segensreichen Momenten im Gedenken an einen viel zu früh verstorbenen Menschen, dass wir uns ihn als alte:n Mann oder Frau kaum vorstellen können. So steht uns heute Abend Christian Führer nicht als 80-Jähriger vor Augen, sondern als der wache Zeitzeuge der Friedlichen Revolution vor und nach 1989; in der immer gleichen Jeans-Kleidung unterwegs mit dem schwarzen, mit vielen Buttons der Friedensbewegung beklebten Aktenkoffer: der vorgereckte Kopf mit den wach-blitzenden Augen, auf dem Sprung zu einer nächsten Aktion, um das zusammenzubringen, was leider zu oft auseinanderklafft: Altar und Straße – statt Thron und Altar, wie es über Jahrhunderte der Fall war. Aber 1989 stand die Kirche auf der richtigen Seite der Barrikaden – auch dank Christian Führer und seiner Frau Monika, ohne deren umsichtiges Wirken er wenig hätte ausrichten können.
Christian Führer hat das große Verdienst, die Friedensgebete in der Nikolaikirche auch nach 1989/90 zu einem Kristallisationspunkt für das politische Gewissen der Stadtgesellschaft werden zu lassen. Ich erinnere mich noch sehr genau, wie wir im September 1992 das Jubiläum „20 Jahre Friedensgebete“ begingen. Christian hatte mich, den lupenreinen Wessi, zur Mitwirkung eingeladen – damals gerade ein halbes Jahr in Leipzig lebend und Pfarrer an der Thomaskirche, die sich 1989 nicht gerade mit Ruhm bekleckert hatte. So kam es zur ersten gemeinsamen Aktion zwischen Nikolai- und Thomaskirche, um dem Fremdenhass und Rechtsradikalismus, die Ende August 1992 in Rostock-Lichtenhagen mit einer erschreckenden Wucht aufbrachen, deutlich entgegenzutreten: mit einem Kerzenweg durch die Innenstadt nach den montäglichen Friedensgebeten.
Christian Führer ließ das Friedensgebet immer wieder zum Ausgangspunkt für politische Aktionen in und für die Stadt werden und bewahrte so die Friedliche Revolution vor der Mumifizierung. Dabei kam es ihm darauf an, das prophetische Wächteramt der Kirche wahrzunehmen und sich immer wieder der Niemöller-Frage zu stellen: „Was würde Jesus dazu sagen?“ Worin liegt jetzt unsere Verantwortung als Kirche, als Christen in der Welt? Christian hatte klare Vorstellungen von der Kirche: Sie muss unabhängig sein von staatlichen und wirtschaftlichen Einflüssen; sie muss das Freiwilligkeitsprinzip achten, darf Menschen nicht nötigen; sie muss einen Frei- und Schutzraum bieten für die die Mühseligen und Beladenen.
Dabei konnte jeder und jede, der Christian Führer begegnet ist, staunen und lernen, welche Hoffnungskraft seiner so unmittelbaren Jesus-Frömmigkeit innewohnt und welche Wirkmächtigkeit davon ausgeht. Davon zeugen viele Eröffnungsworte, die Christian von dieser Stelle aus zu Beginn der Friedensgebete gesprochen hat. Er vermochte in kurzen Sätzen den Raum mit Zuversicht und Klarheit zu füllen. Damit setzte er die Herzen der Menschen im Innersten in Bewegung – so auch im Februar 1989: „Es gibt keine aussichtslosen Situationen im Leben, sondern nur Menschen, die die Hoffnung aufgegeben haben. Ich lade uns alle heute erneut ein zu CHRISTUS, der Hoffnung über den Ideologien.“
Für Christian Führer war klar, welchem Ziel das Gebet und das Tun des Gerechten (Bonhoeffer) dienen sollten: Frieden zu fördern, Gerechtigkeit zu mehren, den Menschen das Rückgrat zu stärken und damit Zeichen für Jesu rettende Botschaft in der Stadt zu setzen. So machten wir uns 1993 gemeinsam auf Weg, um eine geplante Waffenbörse zu verhindern oder den Streikenden bei Siemens und in den Kirow-Werken beizustehen – für Christian zunächst eine ungewohnte Richtung: raus aus dem Schutzraum Kirche hinein in den Aktionsraum säkulare Welt. Für Christian Führer war aber unstrittig: Der Aufbruch zur Demokratie beinhaltet, Beteiligung zu ermöglichen und zu praktizieren. Das aber setzte voraus, dass der von ihm so genannte „zweite Teil“ der Friedlichen Revolution in Gang gesetzt werden muss: Teilen und gerechte Teilhabe an Arbeit, Einkommen, Bildung, Wohnen. Auch das für ihn Konsequenzen aus der Botschaft Jesu.
Um diese ging es auch bei den Protesten gegen die Aufmärsche des Neonazi Christian Worch. Der wollte ab 1997 bis 2014 an jedem 1. Mai und 3. Oktober in Leipzig aufmarschieren, um ans Völkerschlachtdenkmal zu gelangen. Nach etlichen Jahren ist Christian Führer dann den durchaus riskanten Weg gegangen und hat sich mit Worch zu einem Gespräch getroffen. Worch gab dann 2007 auf. Da wurde ein wichtiger Wesenszug von Christian Führer sichtbar: Er wollte – wie Jesus – Menschen zusammenführen und sie aus ideologischer Gefangenschaft befreien. Darum hat er die Stasi-Leute, die am 9. Oktober 1989 in die Nikolaikirche abkommandiert waren, willkommen geheißen als solche, die nun mit ihm im gleichen Boot, nämlich im Kirchenschiff, saßen. Darum nagelte er Menschen nicht auf das fest, was sie einmal gesagt oder getan haben. Anfang 1992 rief er das überparteiliche Gespräch ins Leben, zu dem sich abgewickelte SED-Genossen, Kulturschaffende, einige Protagonisten der Friedlichen Revolution trafen. Ich durfte als einziger Westdeutscher dabei sein. Bei diesen Aktivitäten verlor Christian nie seinen Kompass. Dieser hatte einen Namen: Jesus von Nazareth.
Wir erinnern an Christian Führer in einer aufgewühlten Zeit. Mancher wird sich fragen: Wie würde sich der Pfarrer Führer heute positionieren? Doch darauf eine Antwort zu finden, ist genauso müßig, wie sich Christian Führer als alten Mann vorzustellen. Erinnern aber möchte ich an das für uns beide so wichtige Grundsatzpapier „Das Schweigen überwinden – Friedenspolitik neu gestalten. Ein Aufruf zu Umkehr und Orientierung“ aus dem Jahr 1995. Damals intervenierte Russland kriegerisch in Tschetschenien – und nichts rührte sich in Europa, in Deutschland. Das wollten wir nicht auf sich beruhen lassen und haben der fortschreitenden Militarisierung der Politik „den befreienden und realistischen Auftrag Jesu zur Gewaltlosigkeit“ entgegensetzt. Wir haben eine aktive Friedenspolitik eingeklagt – jenseits von Nationalismus, Aufrüstung und imperialen Ansprüchen. Wer das Papier heute liest, der bekommt eine Ahnung davon, was wir in den vergangenen 30 Jahren versäumt haben. Doch das Versäumte macht aus richtigen Erkenntnissen keine falschen. So sollten wir uns auch heute dem verpflichtet sehen, was das Leben von Christian Führer geprägt hat: die befreiende Botschaft Jesu und der unbedingte Anspruch „Keine Gewalt“. Was für ein segensreiches Vermächtnis, das uns Christian Führer hinterlassen hat. Danke!
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Alle Zitate aus: Christian Führer, frech-fromm-frei. Worte, die Geschichte schrieben, Leipzig 2013
Siehe auch die Würdigung von Christian Führer anlässlich seines Todes am 30. Juni 2014.
4 Antworten
Unbestritten, lieber Christian, ist Christian Führer eine der sehr entscheidenden Pfarrerpersönlichkeiten in Leipzig mit tiefen menschlichen Qualitäten DER Mann zur Zeit des Foiedlichen Herbstes gewesen! Vergleichbar, geht dies in diesen Kategorien überhaupt, wäre aus meiner Erfahrung Christof Ziemer hier in Dresden. Eine sollte wir jedoch nicht übersehen und vergessen: Jens Wonneberger, einst der „Pfarrer ohne Worte“ war der Wegbereiter in Leipzigs St. Nicolaikirche! Das war mir an dieser Stelle wichtig, darauf hinzuweisen.
Bleibe weiterhin aktiv und ja: „KEINE GEWALT“ – dies ohne weitere Worte! Ohne diese Grundhaltung führender Kirchenleute mit aufrechtem Gang hätte es damals `89 in der SED-STASI-DDR wohl Gewalt von der anderen Seite gegeben. Übrigens sollte man den Begriff „Wende“ nicht verwenden; ein Schlagwort eines gewissen Egon Krenz, der einst der Auffassung war, die Gewalt in China gegen das eigene Volk auf dem Platz des Himmlischen Friedens sei nötig und tu gewesen. Dein Jo.Flade
Ich hatte das große Glück, Führer einmal persönlich in der Nikolaikirche kennen zu lernen, als ich diese mit englischen Freunden besuchte. Er war so freundlich, mit diesen Engländern eine Zeit lang zu sprechen und ihnen einen Eindruck von der Wende zu vermitteln, was sehr beeindruckend war.
Wenn er sich allerdings, wie Lerchner schreibt, im Rechtsstaat mit Sicherheitskräften „angelegt“ habe, so war er dort auch einmal im Unrecht.
Und richtig ist, lieber Herr Wolff, daß der Anspruch „keine Gewalt“ gelten muß. Um so wichtiger ist die richtige Aussage der estnischen Ministerpräsidentin Kallas: „Die Freiheit muß immer besser bewaffnet sein als die Tyrannei“.
Andreas Schwerdtfeger
Egal, aus welcher politischen Himmelsrichtung man kam, dieser Mann nötigte jedem Respekt ab! Und vor allem, er war kein Opportunist, keiner, der sich durch die neuen Verhältnisse hat korrumpieren lassen. Ich denke z. B. an seine energischen Bemühungen, den Protest der neuen Arbeitslosen auf die Straße zu bringen. Einmal stand ich zufälligerweise direkt hinter ihm bei einer der turbulenten Anti-Worch-Blockaden in Leipzig. Er hatte sich gerade mit Sicherheitskräften angelegt, die die Aufgabe hatten, Worch und Kameraden den Weg frei zu machen.
Lieber Herr Wolff, schön, dass Sie wieder online sind. Wissen Sie, wer die Hacker waren, und welche Motive sie hatten. Ein Dummerjungenstreich wird es ja wohl nicht gewesen sein. Vielleicht eine finanzielle Erpressung oder gar politische Motive?
Pfarrer Führer sagte am 9. Oktober 1989 auch zu den Stasileuten: „Die Empore bleibt für das arbeitende Proletariat reserviert!“
Ich war verblüfft als ich einen anderen 1989 sehr aktiven Pfarrer in der ZDF-„heute-show“ kurz auf der Wagenknecht/Schwarzer-Demo interviewt sah: Christoph Wonneberger.