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Ohne eine Kugel? – Der Brexit zu Ende gedacht

Großbritannien tritt aus der EU aus. Das Ergebnis der Volksabstimmung ist eindeutig. An der demokratischen Legitimation dieser Entscheidung kann es keinen Zweifel geben. Dennoch ist der Beschluss verheerend und in höchstem Maß beunruhigend – nicht weil das Pfund an Wert verliert, nicht weil es möglicherweise zu wirtschaftlichen Problemen in Großbritannien kommt, nicht weil das Land eventuell vor Neuwahlen steht, nicht weil den Scheidungsprozess jetzt zwei Jahre lang die EU-Bürokraten bestimmen werden, mit denen man eigentlich nichts mehr zu tun haben will. Verheerend ist das Ergebnis, weil es die Folge von rassistischem Hass, angstbesessener Fremdenfeindlichkeit und mangelnder Klarheit ist. Gewonnen haben gestern diejenigen, die der Nationalisierung das Wort reden und darum die EU als politisches Programm zerstören wollen. Ein Boris Johnson wird schon heute spüren, dass nicht er der Gewinner der Abstimmung ist, sondern der Nationalist Nigel Farage und mit ihm Marine Le Pen, Geert Wilders, Heinz-Christian Strache, Viktor Orbán und ihre Claqueure von der AfD. Gelingen konnte das auch deshalb, weil die „Remain“-Kampagne nicht vermocht hat, die Wählerinnen und Wähler für Europa zu begeistern und für das Friedensprojekt Europa zu gewinnen. Dafür hat man sich darauf beschränkt, vor den negativen wirtschaftlichen Folgen eines Brexit zu warnen. Doch diese Folgen werden weniger gravierend sein als die jetzt schon eingetretenen politischen Verwerfungen. Denn mit der Nationalisierung der Politik versuchen sich Farage und seine Ukip, Le Pen und der Front Nationale, Wilders und die Partei der Freiheit, Strache und die sog. Freiheitlichen, von Storch und die AfD von dem heilsamen Zwang zu verabschieden, sich mit den Nachbarn zu verständigen und jede gewalttätige Auseinandersetzung in Europa auszuschließen. Wenn Farage nun den 23. Juni 2016 als „Unabhängigkeitstag“ ausruft, dann ist damit vor allem eines gemeint: Wir machen uns unabhängig, wir emanzipieren uns von den europäischen Grundwerten eines friedlichen und gleichberechtigten Zusammenlebens von Menschen unterschiedlicher Nationalität, Herkunft und kultureller und religiöser Überzeugung. Damit wird die Axt an das Friedensprojekt Europa gelegt und das reaktiviert, was bis 1945 die europäische Geschichte geprägt hat: Interessensauseinandersetzungen münden zuletzt in einen (Bürger-)Krieg. Niemand soll sich der Illusion hingeben, als sei die Rückkehr zu diesem katastrophalen Zustand ausgeschlossen. Wir haben in der Ukraine-Krise erlebt, wie schnell ein Konflikt in Europa zu einer militärischen Auseinandersetzung eskalieren kann.

Die Nationalisten in Europa haben kein anderes Ziel, als sich stark zu machen auf Kosten von Schwächeren, Menschengruppen in den Gesellschaften gegeneinander aufzubringen und die sozial Schwachen dafür zu instrumentalisieren, nach innen und außen aufzurüsten, um notfalls (auch aufeinander) loszuschlagen. Moral, Grundwerte sind ihnen fremd, weil hinderlich für ihr Ziel, Gesellschaften zu uniformieren und gegen Fremde(s) abzugrenzen. Lügen und Verleumdungen gehören dabei zum üblichen Arsenal. Übertrieben? Nein, eher noch viel zu zurückhaltend formuliert. Man höre nur auf den einen Satz von Nigel Farage aus der vergangenen Nacht: „Wir haben gewonnen, ohne eine einzige Kugel abgefeuert zu haben.“ Das ist Kriegsrhetorik – und die eine Kugel ist auch schon abgefeuert worden. Sie tötete die Parlamentsabgeordnete Jo Cox, abgefeuert von einem Rechtsnationalisten, provoziert von denen, die jetzt Großbritannien aus der EU abmelden werden. Dass trotz dieses schrecklichen und keinesfalls zufälligen politischen Mordes 52 Prozent der Wählerinnen und Wähler dem Aufruf eines rechtsextremistischen Nigel Farage gefolgt sind – das muss jeden Demokraten zutiefst beunruhigen. Denn genau dieses Zusammenspiel von nationalistischer Politik, gezielter Gewaltprovokation und dem Schüren von Ängsten und Hass macht die Strategie der Parteien von Ukip über Front National bis zur AfD aus. Wenn es jetzt nicht gelingt, die riesigen Gerechtigkeitslücken in den europäischen Gesellschaften zu schließen (eine Ursache für Unzufriedenheit und Angst), eine Friedens- und Sicherheitsarchitektur unter Einschluss Russlands zu gestalten und für ein demokratisches Europa offensiv zu streiten, dann wird dieses Europa weiter zerfallen. Dass zu verhindern, gebieten nicht fallende Aktienkurse. Es ist die Aufgabe all derer, denen die Grundwerte unserer Verfassung am Herzen liegen und die weiter in einem geeinten Europa und in Frieden leben wollen – auch mit denen, die bei uns Schutz und Zuflucht suchen und die Freizügigkeit offener Grenzen nutzen. Diese Aufgabe sollten wir nicht verschämt, sondern als eine große Einladung an jeden Bürger, an jede Bürgerin klar und unmissverständlich kommunizieren. Es muss Schluss sein mit dem verständnisvollen Schielen auf die Rechtsextremisten Europas und der neuen Lust am Untergang: wir schleifen ein bisschen die Grundrechte, bauen schnell neue Mauern auf, um die Flüchtlingsinvasoren abzuwehren – und wenn’s zu lange dauert, lassen wir mit Brandsätzen nachhelfen (wird sich immer jemand finden). Vielleicht kommt Großbritannien spätestens dann wieder zur Besinnung, wenn sich bald auf der Insel genau dasselbe abspielt, was durch die gestrige Abstimmung der EU zugemutet worden ist: der Zerfall des Vereinigten Königreichs, wenn Schottland und Nordirland sich selbstständig machen, um Teil der EU bleiben zu können.

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14 Antworten

  1. Und wieder sieht der „demokratische Diskurs“ so aus, daß den Argumenten Ihrer Diskussionspartner (falls Sie zB Dr von Heydebreck und mich überhaupt als solche ansehen) das totale Schweigen folgt. Dabei wären doch wichtige Widersprüche aufzuklären:
    1. Noch vor wenigen Monaten haben Sie, Herr Wolff, anläßlich einer London-Reise die religiöse Toleranz, das mulitikulturelle Ambiente, die wunderbare Art des internationalen Zusammenlebens gepriesen und waren ganz begeistert, daß im Bus eine Muslimin für Sie aufstand. Nun plötzlich stellen Sie fest, daß das Referendumsergebnis „Folge von rassistischem Hass, angstbesessener Fremdenfeindlichkeit und mangelnder Klarheit“ sei. GBR hat also Ihrer Meinung nach innerhalb von sechs Monaten eine Komplett-Wendung gemacht?
    2. Sie sind der Meinung, daß ein 52:48 Ergebnis dann in Frage gestellt werden darf, wenn „zwei Landesteile“ dadurch überstimmt werden. Ich meine mich zu erinnern, daß Ihre Ansicht ganz anders war, als das Bundesland Bayern mit dem Bund nicht übereinstimmte. Damals waren Sie doch der Meinung, Bayern könne im demokratischen Diskurs nicht zählen.
    3. Der Ausdruck der „Lügenpresse“ ist nach Ihrer Meinung eine schlimme Verleumdung, die jeden, der ihn nutzt, zum Nazi macht. Nun schreiben Sie über „die ach so gebildeten Journalisten in den (englischen) Massenmedien“: „Sie haben gelogen, daß sich die Balken biegen.“ Verstehe ich Sie richtig, daß Sie die „Lügenpresse“ in GBR verorten (und man nicht Nazi ist, wenn man das auch ausspricht), – in Deutschland aber nicht?
    4. Sie haben etwas zu sagen, so behaupten Sie – wir reden hier ja wohl von Politik, denn das diese Aussage für Ihre Haupttätigkeit als Pfarrer zutrifft, ist unumstritten – und sehen sich gerne als großen Analytiker, Sie „denken zu Ende“ und „ordnen ein“, Sie lehnen den Ausdruck „hetzen“ für Ihre Beiträge ab. Dies alles würde Sachlichkeit und Argumente erfordern – wo sind sie?
    5. Richtig ist doch, daß Sie jeder Kritik an Ihren Tiraden mit einem Hinweis auf Ihr demokratisches Recht zu dieser Kritik, zur Wortmeldung oder Demonstration, zur Verbreitung Ihrer Meinung begegnen (dies meist noch in etwas beleidigtem Unterton) – einem Recht, das Ihnen ja niemand je bestritten hätte. Schön wäre es ja, wenn Sie dieser überflüssigen, weil unumstrittenen Betonung Ihrer Rechte auch Ihre sachlichen Argumente folgen liessen.
    Ich warte also weiter und grüße Sie derweil,
    Andreas Schwerdtfeger

    1. Da Sie offensichtlich unter „Entzug“ leiden, will ich gerne auf ein paar Punkte eingehen – zumal Sie offensichtlich jede Zeile im Blog lesen (was mich sehr freut!):
      1. Wieso ist das ein Widerspruch? Die Bevölkerung Londons hat meine Beobachtungen durch das dortige Wahlergebnis voll bestätigt. Ich weiß von etlichen Freunden in London, dass diese das Gesamtergebnis des Referendums genauso einschätzen. Außerdem bezieht sich der von Ihnen zitierte Gedanke darauf, dass die Protogonisten der „Leave“-Bewegung genau auf dieser Klaviatur gespielt haben.
      2. Das Ergebnis des Referendums stelle ich nicht infrage. Das ist, wie es ist. Die Folgen dieses Ergebnisses aber können in Zweifel gezogen werden. Das Problem wird gerade von der schottischen Regierung angegangen. Sie prüft, inwieweit sie ein Veto-Recht hat. Ansonsten wissen Sie selbst gut genug, dass das Verhältnis zwischen Bund und Ländern sehr kompliziert ist und dass schon so manches Bundesgesetz vom Verfassungsgericht gekippt wurde, weil es in die Kompetenzen der Länder eingegriffen hat.
      3. Ach, lieber Herr Schwerdtfeger, es ist das eine, bestimmte Medien wegen ihrer Berichterstattung zu kritisieren. Etwas anderes ist es, wenn pauschal „Lügenpresse“ geschrieen wird und Medienvertreter/innen bei der Ausübung ihres Berufs körperlich angegriffen und massiv eingeschüchtert werden. Es ist nicht besonderes kreativ, künstlich Gegensätze zu konstruieren.
      4. Das lassen wir einfach so stehen und überlassen es dem/der geneigten Leser/in zu beurteilen, was sachlich und was Hetze ist.
      5. Auch hier kann ich eigentlich nur zustimmen – auch wenn ich eigentlich nur sehr selten beleidigt bin. Ansonsten bemühe ich mich, meine Meinung und Ansichten mit sachlichen Argumenten zu unterlegen und – wo nötig – mit der gehörigen Portion Polemik vorzutragen.
      Aus vielfältigen Reaktionen weiß ich, dass viele Leser/innen des Blogs die Beiträge nicht immer mit Zustimmung, wohl aber mit Gewinn zur Kenntnis nehmen. Genau das ist das Ziel: Debatten anzuregen und zur Klärung von Vorgängen beizutragen. Ich hoffe, dass dies auch bei Ihnen der Fall ist. Beste Grüße Christian Wolff

    2. Lieber Herr Schwerdtfeger, Ihre Kommentare gefallen mir so, dass ich Sie gern persönlich kennenlernen möchte. Wo leben Sie? In Leipzig? Vielleicht senden Sie mir mal ein E-Mail an: hansgeorg@von-heydebreck.de.
      Viele Grüße Ihr Hans v. Heydebreck

  2. Lieber Herr Wolff,
    es ist schade – wieder einmal – daß Sie bei so vielen richtigen Gedanken es eben nicht lassen können, alle Politik nur noch unter dem verzerrten Winkel Ihrer politisch-ideologischen Phobie zu sehen und den bösen Rechten (sie sind es wirklich aber eben nicht für alles zuständig) in die Schuhe zu schieben. Es ist wahr, die englische Bevölkerung hat ihrem Parlament einen Auftrag erteilt – nämlich den, den Austrittsbeschluß zu fassen –, den ganze Landesteile nicht mittragen, der eine Abwendung von der EU signalisiert, der Europa ärmer macht. Aber im Gegensatz zu Ihrer leider oberflächlichen Analyse ist es eben in Wahrheit so, daß wesentliche Teile der britischen Gesellschaft, auch der demokratischen, der EU seit lange vor Farage mit einigen sehr grundsätzlichen – und im übrigen auch nachvollziehbaren bis richtigen – Bedenken gegenüberstanden und -stehen, die erheblich sind:
    – die Briten sind in eine Handelsunion eingetreten; sie haben von Anfang an klargestellt, daß sie eine politische Vertiefung oder gar Union nicht wollten;
    – die Briten kritisieren den undemokratischen Aufbau, der Union, ihre auswuchernde Bürokratie, ihre Kleinkariertheit in Bereichen, die sie nichts angehen (Wattzahl bei Staubsaugern als ein Beispiel), ihre Einmischung in britisches Recht, ihre Unfähigkeit zum „großen politischen Wurf“. Das sind alles Kritikpunkte, die die Mehrheit der Deutschen wohl mittragen würde;
    – „Wir machen uns unabhängig, wir emanzipieren uns von den europäischen Grundwerten eines friedlichen und gleichberechtigten Zusammenlebens von Menschen unterschiedlicher Nationalität, Herkunft und kultureller und religiöser Überzeugung.“ – so beschreiben Sie, auf Ihre Interpretation von Farage gestützt, die britische Haltung und galoppieren, wie so oft, damit in die falsche Richtung. GBR hat eine demokratische und interkulturelle Tradition (schon durch das Empire / Commonwealth), die jahrhundertealt ist und die durch dieses Votum kaum berührt ist. Die britische Bevölkerung hat sich mit diesem Beschlußvorschlag für das Parlament nicht von den demokratischen und friedlichen Prinzipien Europas verabschiedet. Wer das behauptet, der versteht nichts von der Sache. Insofern stimmt Punkt 2 Ihrer Antwort an Dr von Heydebreck nicht.
    – die Briten fordern zu Recht die Hoheit über die Entscheidung, wer unter welchen Umständen und zu welchen Bedingungen in ihr Land einreisen und dort bleiben darf. Die EU, allen voran Deutschland, hat sich überheblich und einseitig dafür entschieden, in dieser Frage ein natürliches Hoheitsrecht Menschen aus anderen Räumen zu überlassen, dadurch für sich und, wie es glaubte durchsetzen zu können, für andere EU-Länder die politische Initiative fatal aus der Hand gegeben und dabei auch noch geglaubt, die Kosten verteilen zu können; diese Politik scheitert nicht nur in GBR sondern im gesamten Osten der EU.

    Immerhin freue ich mich, daß Sie „eine Friedens- und Sicherheitsarchitektur unter Einschluss Russlands“ fordern – eine für Sie erstaunlich richtige Erkenntnis.

    Das britische Referendum zeigt folgende Tatsachen auf:
    – die Briten behalten die politische Initiative: Cameron wie Johnson haben angekündigt, die Anrufung des Art 50 Lissabon eher zu verzögern. Das ist clevere Strategie, der die EU wieder mal nichts entgegen zu setzen haben wird;
    – die ältere Generation GBRs hat einen nicht eingestandenen aber ausgeprägten Minderwertigkeitskomplex gegenüber Deutschland und dessen angebliche „Dominanz“, was den ewigen Rekurs auf den 2. Weltkrieg durch diese Generation erklärt. Diese Wähler haben sich durchgesetzt und damit ihrer Jugend ein Stück Zukunft genommen – ebenso wie es ganz Europa mit der fatalen Schuldenmacherei tut; in Wirklichkeit haben die Briten gegen ihr eigenes Ziel gewählt, die angenommene deutsche Dominanz zu verhindern;
    – Deutschland hat – bei allem Respekt und aller Francophilie – über Jahrzehnte den Fehler gemacht, in der Öffentlichkeit den Eindruck zu erwecken, daß der „deutsch-französische Motor“ die EU antreibe. In Wirklichkeit waren und sind die britischen Interessen bezüglich der Achitektur und Verantwortung der EU (mit Ausnahme der politischen Integration, die aber die Franzosen auch nicht wollen) deutlich eher mit den deutschen vereinbar als die französischen, die stets vom Eigennutz geprägt waren und es noch sind. Hätte Deutschland nicht mit Rücksicht auf französische Individualinteressen eine mit GBR koordinierte EU-Politik ins zweite Glied der Prioritäten eingeordnet – es wäre vielleicht nicht zu diesem Votum gekommen.

    Und schließlich: Finger weg von Referenden. Die Bevölkerung kann sich bei regulären Wahlen profilieren und wir haben ja in DEU insgesamt auch genug davon. Das Referendum in GBR hat wieder gezeigt: Eine Ja-Nein-Frage führt zu noch mehr Polarisierung, Popularisierung und Emotionalisierung. Und was Emotionalisierung für sachliche Politikbewertung tut, sieht man ja an Ihren Beiträgen.
    Ich grüße Sie,
    Andreas Schwerdtfeger

  3. Ja, lieber Herr Pfarrer i.R. Wolff,

    ich gebe Ihnen Recht: Es ist traurig, dass die nationalistischen Kräfte den Ausgang der soeben erfolgten Entscheidung, dass Großbrittanien aus der Europäischen Union austreten möge, versuchen werden, für Ihre Sache zu vereinnahmen. Das ist zwar ihr gutes Recht, weil sie eben für dieses Votum ihre Argumente ins Feld gebracht haben, das macht es aber eben auch nicht weniger gefährlich.

    Nichts desto trotz muss deutlich darauf verwiesen werden, dass es sehr wohl einen historisch nachweisbaren Unterschied gibt zwischen Europa und der EU.
    Während also das Vereinigte Königreich, ergo die Gesamtheit seiner Bewohner, entschieden hat, sich des Konstruktes der Europäischen Union zu entledigen, so besteht doch andererseits kein Zweifel daran, dass die britischen Inseln so oder so immer ein Teilnehmer und Baumeister Europas bleiben werden.

    Dem gegenüber steht jedoch nicht mehr oder weniger als die Frage, welche Strukturen, Organe und Prozesse dieses Europa derzeit ausmachen und zukünftig ausmachen sollen.

    Schaut man heute in die einschlägigen Medien, wird einhellig, wenn auch überwiegend bestürzt festgestellt, dass die demokratische Entscheidung so ausgefallen ist, wie sie eben ausgefallen ist, nicht ohne jedoch mit spitzer Zunge auf den großen und wahlweise eskalierend als bedauerlich, engstirnig oder nationalistisch apstrophierten Einfluss der Älteren und weniger Gebildeten hinzuweisen.
    Die erste Frage, die da auftaucht ist: Sind diese benannten Gruppen denn weniger Wert in ihrer Entscheidungsfähigkeit? Mit welcher Berechtigung gewichtet eine medial oder politisch zu verortende Bildungs- oder Geld-Elite denn die Bürger eines Landes solchermaßen?

    Ist es nicht vielmehr so, dass das Moloch „EU“ in vielen Bereichen mittlerweile sich als deutlich bürgerfern, autokratisch und bisweilen sogar anti-demokratisch herausgestellt hat. Waren wir nicht schon einmal weiter in unserer Erfahrung der Gefahren einer Zentralisierung von Gesetzen, Überwachung und Meinungsbildung?
    Und ist es nicht so, dass die wählenden Bürger Großbrittaniens das Stahlkorsett „EU“ entlarvt haben als das was es im Kern ist, ein grenzenloser Spielplatz lobbygesteuerter Interessenpolitik mit einem alles bestimmenden, mono-dimensionalen, ja quasi-religiösen Wertesystem, der ökonomischen Verwertbarkeit?

    Ich halte die Briten für überaus mutig, diesen in seinen Konsequenzen zunächst unabsehbaren Schritt zu gehen!
    Im Sinne eines agilen Politik-Managements, an dem es uns in der EU so bitter fehlt, also der nachträglichen Auswertung durch Gegenüberstellung von ursprünglichen Zielen zu tatsächlich erreichten Lösungen – im Gegensatz zu dem derzeitig praktizierten und unreflektierten ’Weiter-so‘ einer Sachzwang geleiteten Technokraten-Clique, werden vielleicht die originären Tugenden und Werte – und Schatten! – eines geeinten Europas wieder sichtbar werden und in den Vordergrund rücken.
    Damit die wertvolle, kulturelle Diversität wieder erblühen kann, ein an objektiven Maßstäben nachhaltiges (= enkeltaugliches) Denken und Handeln wieder die Oberhand gewinnt und der Mensch als Teilnehmer und Bewahrer seiner Lebensgrundlagen und „Nächster“ das Primat der Poltik darstellt.
    Ich wünsche unseren Freunden auf den Nachbarn-Inseln alles erdenklich Gute und hoffe, dass diese deutliche Breitseite den selbstgefälligen Damen und Herren in Brüssel und Straßburg eine Lehre sein möge!

    p.s. Die von Ihnen richtigerweise als solches entlarvte Kriegsrhetorik wird von der Gegenseite übrigens genauso effizient angewandt, allerdings viel unsichtbarer, versteckter und subtiler. In der Politik nennt man dieses Vorgehen „nudging“, im Krieg ist es schlicht „strategic communication“ – davon weiß ich ein Lied zu singen…

    1. Lieber Herr Besic, ich stimme Ihnen in zwei Punkten voll und ganz zu: 1. die EU und ihre Institutionen sind für viele Bürger/innen undurchschaubar. Es fehlen in der EU-Politik demokratische Transparenz, parlamentarische Kontrolle und Bürgernähe. Auch kommt der offene Diskurs viel zu kurz. 2. Das Abstimmungsergebnis in GB ist ein Reflex darauf. Allerdings sehe ich Punkt 1 nicht nur auf die EU bezogen. Das trifft auch auf die einzelnen Ländern, zumindest auf Deutschland zu. Es besteht also eine Wechselbeziehung. Darum ist es ein Trugschluss, die Probleme durch den Brexit lösen zu können. Punkt 2: Das Abstimmungsergebnis hat nichts zu tun mit einer verbohrten älteren Generation oder ungebildeten Schichten. Die Verantwortung für die nationalistischen und rassistischen Unter- und Obertöne tragen die „Gebildeten unter den Verächtern der EU“ wie ein Nigel Farage oder Boris Johnson und die ach so gebildeten Journalisten in den Massenmedien. Sie haben gelogen, dass sich die Balken biegen. Und darum wird es wieder einmal so sein: Wenn sich jetzt die sozial Ausgegrenzten an die Brust derer werfen, die sie zum Brexit veranlasst haben, wird es Ihnen noch schlechter gehen (Nur die allerdümmsten Kälber …). So viel in aller Kürze. Ihr Christian Wolff

  4. „Gewonnen haben gestern diejenigen, die der Nationalisierung das Wort reden und darum die EU als politisches Programm zerstören wollen.“ Sagen Sie. Warum verunglimpfen sie die Mehrheit derer, die abgestimmt haben? Warum sind alle Engländer, die nicht in der EU sein wollen schlechter als alle Schweitzer, die nicht in der EU sein wollen? Sie machen es sich wie fast immer zu einfach und sien dabei zu einseitig. Das leider die Saat für mehr statt weniger Hass.

    1. Lieber Herr Löbler, wieso verunglimpfe ich die Mehrheit derer, die abgestimmt haben, wenn ich ihr Votum deute? Auch Mehrheitsentscheidungen dürfen der Kritik unterzogen werden. Haben Sie heute Morgen nicht die Äußerungen von Farage, Le Pen, von Storch, Wilders gelesen oder gehört? Geht es denen um etwas anderes als um die Zerstörung der EU? Einseitigkeit, die Sie mir vorwerfen, ist zunächst eine legitime Haltung und nichts Ehrenrühriges. Ja, gegenüber Nationalisten a la Farage bin ich grundsätzlich einseitig – und wünschte mir andere wären es auch. Heute kommt ja nun heraus: Boris Johnson hat es gar nicht eilig mit dem Brexit und Farage hat hauptsächlich Lügen im Wahlkampf verbreitet. Soeben hat mir eine hochbetagte, in Leipzig geborene Dame jüdischen Glaubens, die 1938 aus Deutschland nach London geflüchtet ist, gemailt: „Wir sind entsetzt und enttäuscht, dass hier nicht mehr Intelligenz vorhanden war. Wir – und alle in Europa – werden lange unter diesem Fehler leiden müssen. Nur Donald Trump und Putin sind sicher erfreut.“ Wie recht sie doch mit dieser Einseitigkeit hat. Beste Grüße Ihr Christian Wolff

      1. Sehr geehrter Herr Wolff, wenn Sie nicht merken, dass sie häufig Menschen verunglimpfen, die anders denken als Sie, ist das bedauerlich. Als würde es Arroganz besser machen, abenteuerlich!. Ich werfe Ihnen nicht einseitugkeit vor. Das wäre sowieso vergebene Liebenmühe. Ich werfe Ihnen vor dass Sie unter dem Dekmantel des demokratischen Kritisierens Hass säen anstatt zu befrieden. Das ist sehr bedauerlich!

  5. Klar ist das ein ganz schlechter Tag für Europa, an dem eine Mehrheit der Briten aus der EU ausscheiden will. Aber deshalb gleich wieder die Rassismus-Keule zu schwingen? Da begrüße ich doch die abgewogenen Worte unserer Kanzlerin und bin froh, dass Sie und Leute Ihres Schlages in Deutschland und Europa zum Glück noch nichts zu sagen haben.
    Wenn Sie diese bittere und uns enttäuschende demokratische Entscheidung einer der ältesten Demokratien Europas und der Welt vor allem auf rassistischen Hass und angstbesessene Fremdenfeindlichkeit zurück führen, dann tun Sie genau das, was Sie Ihren Gegnern vorwerfen: Sie hetzen und predigen Hass, anstatt nach den wirklichen Ursachen der britischen Unzufriedenheit zu fragen und zu friedlicher Auseinandersetzung aufzurufen.
    Und schauen Sie mal im Geschichtsbuch nach, in welch schlechter Gesellschaft Sie sich mit Ihrer Erwartung des Zerfalls des Vereinigten Königreichs befinden!

    1. 1. Leider irren Sie: „Leute meines Schlages“ haben etwas zu sagen und werden sich daran auch nicht hindern lassen.
      2. Ich hetze nicht, sondern analysiere und ordne ein.
      3. Auch eine der ältesten Demokratien muss sich fragen lassen, ob zwei Landesteile, die in einer so wichtigen Frage anders als die Gesamtbevölkerung abgestimmt haben, einfach überstimmt werden dürfen.

      1. Zu 1) Da die deutsche Sprache mehrdeutig ist, habe ich mich wohl missverständlich ausgedrückt, daher hier noch einmal etwas klarer: Natürlich können Sie – im Rahmen der Gesetze – sagen, was Sie wollen. Aber zum Glück haben Sie in Deutschland und Europa noch nichts zu befehlen!
        Zu 2) Seien Sie ehrlich: „Verheerend ist das Ergebnis, weil es die Folge von rassistischem Hass, angstbesessener Fremdenfeindlichkeit … ist.“ Dieser Satz soll „Analyse“ und „Einordnung“ sein? Ausgerechnet der Mehrheit der Engländer Rassismus vorzuwerfen, in deren Land schon viel, viel länger als bei uns Millionen Menschen aller Rassen, vor allem aus dem Commonwealth, friedlich zusammen leben, weil sie sich gegen die ungeordnete Zuwanderung von Menschen mit fremder Muttersprache, aber eigener Hautfarbe wehrt? Das ist gerade nicht die durchaus erforderliche Kritik, sondern billige Hetze und Populismus.
        Zu 3) Auch ich ziehe aus vielen Gründen die repräsentative Demokratie vor, die von den Vätern des Grundgesetzes in unsere moderne föderale Verfassung geschrieben wurde. Aber undemokratisch kann man deshalb die bei den Briten wie bei den Schweizern gebräuchliche direkte Demokratie der Volksabstimmung nicht nennen. Wie die Abstimmung in Schottland vor kurzem gezeigt hat, haben die Landesteile in Großbritannien dadurch mehr Möglichkeiten, sich notfalls selbständig zu machen, als die Bundesländer bei uns.

        1. 1. Ja, die Zeiten von Befehl und Gehorsam sind – Gott sei Dank – vorbei. Sorgen wir dafür, dass dies so bleibt.
          2. Wenn Sie das, was ich schreibe, als „Hetze und Populismus“ bezeichnen, verstehe ich, dass Sie in den von mir angesprochenen politischen Vorgängen diese nicht erkennen können.
          3. Ich habe nicht die Volksabstimmung als „undemokratisch“ bezeichnet. Ich habe lediglich auf das Problem hingewiesen, dass diese Volksabstimmung jetzt für zwei mit Eigenständigkeit ausgestattete Landesteile Konsequenzen hat, die von der Mehrheit der jeweiligen Bevölkerung abgelehnt wird. Aber das hätten die Briten vor dem Referendum klären müssen.

  6. Danke für Ihren Beitrag. Ich finde auch, dass dies ist schlechter Tag langfristig für uns alle ist. Eine lose-lose Situation. Auch wenn die politischen und wirtschaftlichen Folgen nicht abzusehen sind, und es mühselig ist darüber zu spekulieren, so müsste aber doch jedem einleuchten, dass es immer schlecht ist wenn man im Groll auseinandergeht, anstatt sich zusammenzuraufen und die Dinge zu überwinden die zwischen einem stehen. Es ist derzeit viel leichter Zwietracht zu sähen, als Zusammengehörigkeit zu ermöglichen.
    Ich frage mich warum: Vielleicht weil viele von uns echtes Leid nicht mehr kennen. Die Leiden des zweiten Weltkriegs und dessen Folgen, sowie das Leid derer die in den letzten Jahren zu uns gekommen sind. Wenn man dieses Leid verstehen würde, dann würde man alles dafür tun zusammenzuhalten.

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