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Kriegslogik oder: ein langer Marsch zum Frieden

Der Angriffskrieg Putins legt sich krakenhaft und mit grausamer Wucht über die Ukraine. Zerstörung, Tod, menschliches Elend, Vertreibung, Verzweiflung – nur mühsam und völlig unzulänglich können Worte zum Ausdruck bringen, was Wladimir Putin und seine Vasallen derzeit anrichten. Nichts, aber auch gar nichts davon ist in irgendeiner Weise gut. Nichts davon darf eine wie auch immer geartete Rechtfertigung erfahren. Nichts davon hat etwas mit Politik, Logik oder Vernunft zu tun. Alles ist ein einziges großes Verbrechen, das sich – Gott sei es geklagt! – täglich selbst reproduziert. Die unermessliche Tragik daran ist, dass an diesem Verbrechen schuldhaft auch die beteiligt sind, die in Russland zum Krieg gezwungen werden, denen in der Ukraine der Krieg aufgezwungen wird und die – wie wir in Deutschland – mittelbar von dem Krieg betroffen und in ihn involviert sind. Darum kennt auch dieser Krieg nur Verlierer. Diese Sicht ist allerdings nach wie vor umstritten.

Es ist sehr zu begrüßen, dass die derzeitige Bundesregierung darum bemüht ist, sich nicht in die unmittelbare kriegerische Auseinandersetzung hineinziehen zu lassen. Dennoch blicke ich sorgenvoll auf die Rhetorik so mancher Kommentator*innen des Geschehens in Gesellschaft und Kirche. Wieso soll eigentlich die Tatsache, dass vom russischen Präsidenten Putin ein brutaler Angriffskrieg geführt wird, der Grund dafür sein, der bisherigen Politik in Deutschland vom Pazifismus durchtränkte Blauäugigkeit zu unterstellen? Wieso wird die in der Friedensbewegung seit Jahrzehnten populäre Parole „Frieden schaffen ohne Waffen“ der Lächerlichkeit preisgegeben? Wieso wird die sog. „Friedensdividende“ für aufgebraucht erklärt? Wieso werden jetzt gigantische Aufrüstungsprogramme neu aufgelegt, wohlwissend, dass diese nach Einsatz drängen? Mit welchen Gründen traut man kriegerischen Auseinandersetzungen mehr zu als Gewalt mindernden Konfliktlösungsstrategien? Es stimmt, dass Kriege durch Kriegsbeteiligung beendet werden können. Nur: Herrscht dann Frieden? Und: Welcher Preis wird dafür bezahlt? Frieden basiert auf Vertrauen und Versöhnung. Beides kann nicht herbeigebombt werden, auch nicht in der Ukraine.

Deutschland hat im 20. Jahrhundert die bittere Erfahrung gemacht: Wer die Niederlage in einem Krieg mit nationalistisch-militaristischen Mitteln kompensieren will, potenziert den Irrsinn des Krieges. Genau das ist nach dem 1. im 2. Weltkrieg geschehen. So kam es nach 1945 zu einem aus Trümmern gewachsenen neuen Konsens: Niemals darf von deutschem Boden noch einmal Krieg ausgehen. Niemals darf Krieg weiter eine Option in der internationalen Politik sein. Das war der Ausgangspunkt für die Ablehnung der atomaren Bewaffnung in den 50er Jahren, für den Widerstand gegen den Vietnamkrieg in den 60er Jahren. Ebenso haben sich die Kirchen darauf besonnen, dass die Zeiten einer religiösen Rechtfertigung nationalistischer Waffengänge vorbei sein müssen. Denn Kriegsrechtfertigung ist nichts anderes als eine horrende Blasphemie/Gotteslästerung. Das soll jetzt falsch sein? Soll der konziliare Prozess für Gerechtigkeit, Frieden, Bewahrung der Schöpfung, den viele Christen*innen weltweit aus der Verkündigung Jesu und Vernunftgründen entwickelt haben, falsch gewesen sein? Wenn jetzt behauptet wird, der Ukraine-Krieg müsse die Deutschen aus ihrer Bequemlichkeit aufwachen lassen, und damit so getan wird, als seien die Deutschen in den vergangenen Jahrzehnten friedenstrunken und benebelt durch die Weltgeschichte gestolpert, so ist dies ein gefährlicher Zynismus. Nein, es besteht kein Anlass, den Deutschen oder Europäern Friedenswillen abzugewöhnen. Es besteht kein Anlass, Friedenserziehung aus dem Bildungskanon zu streichen. Es besteht kein Anlass, das Evangelium zu verbiegen.

Etwas anderes ist jetzt vonnöten: Wir haben dafür zu sorgen, dass bei uns die machtbesessenen, kriegsbereiten Putins, Trumps und Erdogans keine Chance haben. Wir haben alles zu tun, damit sich Nationalismus und Autokratismus nicht noch einmal in die Köpfe und Herzen der Menschen einnisten. Wir haben alles zu tun, „in einem geeinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen“ (Präambel des Grundgesetzes). Wir haben der Tatsache Rechnung zu tragen, dass alle Kriege nach 1945 verbrannte Erde, zerstörte Städte, Tod und Verderben aber keinen Frieden, keine Konfliktlösungen hinterlassen haben. Dauerhafter Frieden kann nur geschaffen werden, wenn wir auf den Einsatz kriegerischer Mittel weitgehend verzichten. Bleibt die Frage: Was ist, wenn ein Putin dennoch auf Krieg setzt und ihn überfallartig beginnt? Dann ist vor allem wichtig: sich nicht auf diese Ebene ziehen zu lassen; sich mit zivilen Mitteln den Kriegsverbrechern in den Weg stellen und den Einsatz von Gewalt auf das absolute Minimum zu begrenzen. Ich weiß, dass spätestens jetzt manche*r aufheult: Das ist nur noch naiv! Gegenfrage: Und was ist das, was wir derzeit erleben? Den Triumpf sollten wir also Putin nicht lassen, dass er unsere Bereitschaft zu einem friedlichen Zusammenleben in Europa zersetzt.

So komme ich zu einer sehr verwegenen Vorstellung: Müssten nicht jetzt Millionen Europäer*innen sich in Richtung Ukraine aufmachen und unbewaffnet, friedlich in das Land ein-demonstrieren (um das zweifelhafte Wort „einmarschieren“ zu umgehen)? Wäre das nicht die kostengünstigste und effektivste Maßnahme, um den Kriegsherren in die Arme zu fallen? Haben nicht Mahatma Gandhi 1930 mit seinem Salzmarsch und Martin Luther King 1965 mit den drei Märschen von Selma nach Montgomery gezeigt, wie erfolgreich solche Aufbrüche sein können? Müssten wir nicht in diese Richtung denken und handeln, um endlich aus der tödlichen „Kriegslogik“ herauszukommen? Wäre das nicht vernünftig – und erscheint dagegen nicht jeder kriegerische Einsatz schrecklich naiv?

Ich weiß, dass nicht wenige abwinken werden: absurd. Aber was bleibt uns in allgemeiner Erschütterung, Wut und Ratlosigkeit anderes, als auf den Glauben zu vertrauen, der Berge versetzen kann, „der Bogen zerbricht, Spieße zerschlägt und Wagen mit Feuer verbrennt“ (Die Bibel: Psalm 46,10)? Das erscheint mir menschen- und wirklichkeitsnäher zu sein als weiter wie ein Blinder im Teufelskreis der Kriegslogik zu verharren.

27 Antworten

  1. Für die Einlassungen zu meinem Beitrag vom 15. März möchte ich mich bedanken und meiner Genugtuung Ausdruck verleihen, dass scharfsinnige Einschätzungen wie „Putin-Versteher“ oder „Whataboutism“ dabei keine Rolle gespielt haben. Mit einem Übermaß an Zustimmung habe ich selbstverständlich nicht gerechnet. Einige wenige Punkte möchte ich aber hiermit präzisieren. Da ich nicht auf jeden Kommentar getrennt eingehen möchte, bitte ich darum, die Überlänge zu tolerieren.

    Noch einmal: Wenn wir nicht genauer nach den Ursachen und Hintergründen des Ukraine-Krieges fragen und bei der gebotenen Verurteilung der russischen Aggression stehen bleiben und uns mit nichts anderem mehr beschäftigen als mit Inbrunst und heiligem Zorn auf Russland einzudreschen, beschränken wir uns in den Möglichkeiten, in Zukunft ähnlichen Ereignissen vorzubeugen. Für den aktuellen Krieg hat eine solche Ursachenforschung wahrscheinlich kaum noch Bedeutung. Die sich immer stärker verfestigenden Standpunkte erlauben keine Relativierung, bedeuteten sie doch deren Aufgabe. Fragen und ehrliche Antworten zu den Ursachen des Krieges könnten aber Wege zum Frieden leichter finden lassen.

    Wer der Meinung ist, dass dieser Krieg aus unerfindlichen Gründen von einem durchgeknallten russischen Autokraten vom Zaun gebrochen worden ist, kann nur auf einen zweiten Stauffenberg hoffen, sich eine Palastrevolution herbeisehnen oder sich den Fantasien eines friedlichen Kreuzzuges hingeben (Ist dabei an die Passierscheinfrage gedacht worden? Einen Bischof, der durch den Stacheldrahtzaun kriecht, kann ich mir schlecht vorstellen). Für infantil halte ich diese Sichtweise deshalb, weil es dem Denken schlichter Gemüter und eben auch dem von Kindern entgegenkommt, dem Bösen Gestalt zu verleihen, früher solchen mit Hörnern und Pferdefuß und heute eben in Form der Verteufelung einzelner Politikerpersönlichkeiten. Konstruktives Potential für eine Konfliktlösung kann ich dabei nicht erkennen.

    Ich empfinde es als katastrophalen Mangel, auch in Hinblick auf mögliche Friedenslösungen, dass stärker denn je die Sicherheitsbedürfnisse Russlands ignoriert werden. Das will natürlich derzeit keiner hören. Wenn man nicht an die finale Niederwerfung Russlands glaubt und auch für die Zeit nach dem Krieg die Frage nach dem richtigen Umgang mit Russland als relevant ansieht, wird man nicht umhin kommen, sich mit der Zurückweisung russischer Sicherheitsinteressen als einer der denkbaren Kriegsursache zu befassen. Noch Anfang Februar wurde in einer Studie der regierungsnahen Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP, https://www.swp-berlin.org/publications/products/aktuell/2022A11_ukraine_russland_nato.pdf ) dargelegt, wie sich seit 2002 das militär-strategische Kräfteverhältnis zwischen USA/NATO einerseits und Russland andererseits sukzessive zuungunsten Russlands verschlechtert hat. Es stellt sich nun als äußert dumm heraus, dieses ignoriert zu haben. Die fortschreitende Konfrontation war markiert durch die einseitige amerikanische Kündigung des ABM-Vertrags 2002, die Verhinderung der Ratifizierung des erweiterten KSE-Vertrags durch die USA (AKSE) 2004 (Es war die Voraussetzung für potentielle neue Stationierungsräume im Baltikum, die keinen rechtsgültigen Rüstungskontrollregeln unterliegen), die Schaffung einer ständigen amerikanischen Militärpräsenz am Schwarzen Meer 2007 (Rumänien und Bulgarien), Vereinbarungen über die Errichtung von Raketenabwehrsystemen mit Polen und Tschechien 2007 (Dabei handelt es sich um MK41-Abschussrampen, die auch für den Start atomwaffenfähiger ‚Tomahawk‘-Raketen ausgelegt sind und in 7-10 min Moskau erreichen können), die georgisch-amerikanische Militärkooperation (Train and Equip Program), die wahrscheinlich den damaligen georgischen Präsidenten Saakaschwili 2008 zu seinem desaströsen Militärabenteuer ermutigt hat, und auch die Kündigung des Open Sky – Vertrags durch die USA 2020 (fast alles Punkte, die hier nicht nur einmal zur Diskussion standen).

    Es ist sicherlich kein Zufall, dass sich gerade in den letzten Monaten die Entwicklung dermaßen zugespitzt hat, so dass sie letztendlich im Krieg endete. Auf Ralf Ostners Webseite „Global Reviews“ findet man dazu einen detaillierten Überblick (https://www.global-review.info/2022/03/12/russland-ringt-um-seine-behauptung-als-strategische-macht-amerika-um-deren-erledigung/). Auch ohne formelle NATO-Mitgliedschaft wurde die ukrainische Armee sukzessive auf NATO-Standard gebracht, massiv am Ausbau von Flughäfen, Radarstationen und Marinebasen gearbeitet, das ukrainische Truppenkontrollsystem in die NATO integriert und im Rahmen von NATO-Dauermanövern am Standort Ukraine nächtliche Landungsoperationen bis zum Raketenabschuss auf russische Machtzentren geübt. Das Dekret Präsident Selenskyjs vom 24. März 2021 zur Zurückeroberung der Krim hat dann möglicherweise Moskau endgültig vor die Alternative Zurückweichen oder Eskalation gestellt. Das alles ist keine Rechtfertigung für den russischen Überfall auf die Ukraine (man fühlt sich genötigt, diese Selbstverständlichkeit andauernd zu wiederholen), zeigt aber, dass es eine Logik in der Entwicklung gab. Grund genug zur Frage, was von allen beteiligten Seiten zur Verhinderung des Krieges hätte getan werden können.

    Der Ausbruch des Krieges bedeutet für manche m. E. deshalb eine Niederlage, weil es nicht gelungen ist, auch nicht durch die vehemente Drohung mit schärfsten Sanktionen, die Russen zur Kapitulation zu zwingen, also die Zurückweisung ihrer bekannten Forderungen nach formellen Sicherheitsgarantien widerstandslos hinzunehmen. Dass die gewaltigen Investitionen zur militärischen Ertüchtigung der Ukraine erst einmal futsch sind, kommt noch dazu. Ich läge falsch mit meiner Einschätzung, wenn Sie zu Recht unterstellten, dass es das strategisches Ziel war, Russland in die Eskalationsfalle zu treiben mit all den negativen Folgen für das Land, die wir erleben. Eine Studie der Rand Corporation von 2019 (Overextending and Unbalancing Russia, Assesing the Impact of Cost-Imposing Options, Zusammenfassung hier: https://www.rand.org/pubs/research_briefs/RB10014.html), an die dieser Tage aus gutem Grund wieder mal erinnert wird, stützt übrigens eine solche These. In der Studie werden Strategien erörtert, wie Russland gezwungen werden könnte, übermäßig zu expandieren, um es letztendlich zu destabilisieren und zu Fall zu bringen. Das Eskalationspotential einer Ukraine-Krise spielte damals schon in den Betrachtungen eine Rolle.

    Noch wenige Bemerkungen zu den Sanktionen: Die Äußerung des französischen Finanzministers Bruno Le Maire „man werde die russische Wirtschaft zum Zusammenbruch bringen“, und damit auch die russische Bevölkerung leiden lassen, ist entlarvend. Sie erinnert an die Worte Madeleine Albrights, mit denen sie den Tod einer halben Million Kinder als Folge der Irak-Sanktionen gerechtfertigt hatte. Und was das Hoffen auf die russischen Oligarchen angeht, die russische Bevölkerung wird nicht leiden, wenn diese ihre schönen Jachten einbüßen und zukünftig nur noch Urlaub auf der Krim oder in Sotschi machen können. Die Quellen deren Reichtums sind ja im Lande verblieben.

    Wenn Sie mich fragen, wo meine Empathie für das ukrainische Volk bleibt, kann ich nur sagen, dass mir die Ukrainer, nicht alle, in tiefster Seele leidtun. Man hat sie so richtig in das Unglück hineingeritten. Helfen wir mit, dass diese Tragödie so schnell wie möglich beendet wird. Dafür braucht es aber nicht nur Herz, sondern auch Hirn.

    1. Lieber Herr Lerchner,
      es ist bezeichnend, dass Sie sich den Menschen, die jetzt von Putins Raketen gejagt werden, am Schluss Ihrer langen Ausführungen einen peinlichen Satz widmen: dass Sie Ihnen leid tun. Kein Wort, kein einziges Wort dazu, dass die Ukrainer keine armen Trottel sind, die willenlos von wem auch immer „in das Unglück hineingeritten“ wurden, sondern dass sie seit 1990 einen langen Weg zu mehr Demokratie, mehr Freiheit, mehr Rechtsstaatlichkeit zurückgelegt haben. Vor diesem Weg, vor allem vor dem Ziel des Weges, eine demokratische Ukraine, hat Putin panische Angst. Diesen Weg zu stoppen, dienen sein Verbrechen des Krieges und der gewaltsame Abbau aller Freiheitsrechte im eigenen Land. Alles andere, was Sie als Erklärung und/oder Rechtfertigung für den Krieg aufführen, ist abgehoben akademisch, nur scheinbar „sachlich“ und derzeit völlig deplaziert. Dieser völlig unsinnige und – wie jeder Krieg – verbrecherische Krieg, ist allein (!!!) von Putin und seinen Vasallen verschuldet. Putin lässt jeden Tag massenhaft zerstören und töten und folgt da seinem Killerinstinkt. Mit Logik, Ratio oder sonstigen Überlegungen hat das nichts zu tun. Mit krimineller Energie aber sehr viel. Hören Sie bitte auf, dieses Verbrechen weiter zu beschönigen bzw. zu rationalisieren! Das ist unerträglich angesichts des verbrecherischen Irrsinns, den Putin zu verantworten hat. Putin muss niemand mehr „verteufeln“, er verkörpert das Böse kalt und skrupellos und spielt glänzend auf der Klaviatur, die alle Despoten beherrschen: die Umwertung der Werte.
      Gerne lasse ich mich zu den „schlichten Gemütern“ und „Kindern“ zählen, lasse mir auch infantile Sichtweisen unterstellen. Kinder und „schlichte Gemüter“ verfügen nach meiner Erfahrung zumeist über einen sehr klaren, ungeschminckten, unverbogenen moralischen Kompass und können sehr schnell erfassen, was Recht und Unrecht ist.Es wäre viel gewonnen, wenn auch Politiker*innen und Wissenschaftler*innen ab und zu „werden wie die Kinder“. Jesus hat das nicht von ungefähr den Menschen empfohlen, um das Wesentliche in den Blick zu bekommen. Das Wesentliche ist: Dass dieser Krieg ganz schnell beendet und dem Kriegsverbrecher Putin das Handwerk gelegt wird. Dazu dienen weniger bewaffnete Asueianandersetzungen als vielmehr ziviler Widerstand auf breiter Front: in Russland, in der Ukraine und bei uns. Und darum ist die Vorstellung, dass in den nächsten Tagen hintereinanderweg die Regierungschefs der westlichen Länder und Religionsführer sich auf den Weg nach Kiew machen, gar nicht so absurd, wie es zunächst erscheinen mag. Jedenfalls traue ich dem mehr zu, als in irgendeiner Weise das schändliche Wirken Putins noch dadurch zu adeln, dass man sich von ihm auf die Ebene des Verbrechens Krieg ziehen lässt. Beste Grüße Christian Wolff

  2. Ja, Herr Lerchner, so geht es einem, wenn man in einer Diskussion zur Lage einen sachlich ausgewogenen Beitrag und eine „ehrliche Analyse“ versucht. „Scheinbar abgewogene Gedanken“, „weigere ich mich …“, „völlig inakzeptabel“, „billig und lenkt davon ab“, „völlig daneben“, „mir wird physisch schlecht“ – das sind die Kommentare unseres politisch so versierten Pfarrers, der ansonsten immer betont, er suche die faire Diskussion. Kein einziges Gegenargument vermag er allerdings ins Feld zu führen und bleibt also bei seiner Methode, immer unhaltbare Forderungen aufzustellen und dann zurückzurudern oder eben zu beleidigen. Ich stimme nicht allen Ihren Aussagen zu, aber sie sind „zur Sache“ – und nun vergleiche man mit dem oben von mir zitierten Gewäsch.
    Gut, daß wenigstens nicht wieder die Länge Ihres Beitrages als letzte unsachliche Kritik übrig bleibt. Plätzsch ist hier clever: Er schreibt einfach zu jedem Beitrag eine Kurzstory – addiert ist er auch recht langatmig (und jetzt schon auf dem Witze-Niveau gelandet). Flade und Käfer sind auch lang, der eine wie immer unbedeutendes Echo und nur abschreibend; der andere nicht lösungsorientiert, weil nur beschreibend, was alle schon wissen. Zum Thema „strukturelle Defizite der Bundeswehr“, das Käfer genau kennt, hat er sich aber in Schweigen gehüllt, weil er wohl zunächst das GG studiert, um nicht nochmal kenntnislos „erwischt“ zu werden.
    Wolffs Beitrag bleibt die ständige Beschimpfung Putins (und aller, die nicht seiner “Meinung“ sind) und so verständlich diese Beschimpfung ist, so kontraproduktiv ist sie eben auch und überdies erstaunlich, wenn man zugleich – hier im blog ebenso wie über den ganzen Globus verteilt – doch den Frieden predigt. Aber hier sind ja alle die die größten Friedensexperten, die am lautesten beleidigen und am ständigsten aggressiv belehren.
    „Wer sich gegen eine nüchterne Analyse sträubt, wird zu keinen vernünftigen Reaktionen fähig sein“, schreiben Sie und dies ist der Grund, warum man hier so wenig Vernünftiges liest, wie uns Wolff selbst beweist (siehe oben). Und “nüchtern“ ist hier: Putin wird seinen Krieg nur beenden, wenn er entweder keine weiteren Ressourcen mehr hat oder wenn er eine Art „Sieg“ vortäuschen kann, zB eine Landbrücke zwischen Donetsk und der Krim oder ein Abschneiden der Ukraine vom Schwarzen Meer. Die Nato tut gut daran, sich militärisch heraus zu halten, hätte allerdings vorher die Ukraine nicht ins Messer laufen lassen dürfen, indem sie ermutigte, was sie weder wollte noch halten konnte. Die ganzen Demonstrationen bei uns sind Corona-Spreader und ansonsten Alibi für eine verfehlte Haltung der nicht gewollten Verteidigungsbereitschaft, die Putin überhaupt erst ermutigt hat. Die jetzt zu kaufenden F-35-Flugzeuge sind die schnellste Methode, dies zu ändern (und anderes mehr) und ihr Beitrag zur Verteidigung ist offensichtlich – aber nur für die, die vorurteilslos „Verteidigung“ analysieren und nicht ihren ideologischen Träumen nachlaufen. Thukydides läßt in der Tat grüßen!
    Was großartig ist, ist die Hilfsbereitschaft allenthalben. Aber es bleibt der schale Geschmack, daß hinterheriges Helfen immer nur die zweitbeste Lösung gegenüber vorherigem Vermeiden ist. Daß man zu Letzterem die Mittel braucht und nicht nur frommes Schwatzen, ist offensichtlich. Und Wolffs ursprünglicher Beitrag hier, fällt leider in diese letztere Kategorie: „Wir haben dafür zu sorgen, dass bei uns die machtbesessenen, kriegsbereiten Putins, Trumps und Erdogans keine Chance haben“ welch‘ schöner Satz – und wie immer bleibt er inhaltsleer bzw führt nur zum abschreiben von vor vielen Jahren schon geäusserten (ironischen) Gedanken anderer (Pfarrer statt Soldaten).
    Andreas Schwerdtfeger

  3. Durchaus lesenswert dieser Beitrag von Peter Richter, erschienen in der Süddeutschen Zeitung, 12.03.2022, Ausgabe Deutschland, S. 15 / Ressort: Feuilleton
    „Haus der Angst
    Angelikastraße, revisited: Eine Rückkehr in das Dresden von Wladimir Putin“
    Und vielleicht kann der eine oder andere Kommentator dieses Blogs dem folgenden Text etwas abgewinnen:
    „Mit den bloßen Händen. So stehen sie da, schreien, rufen, ballen die Fäuste, halten die blaugelben Fahnen hoch, als die Panzer kommen. Das Video ist verwackelt, aber eindeutig. Die Panzer rollen langsam auf sie zu, bremsen und bleiben stehen. Die wütenden Menschen gehen schrittweise auf die Kolonne zu, ein schweres Gerät hinter dem anderen. Und sie: einfache Menschen, Männer und Frauen. Unbewaffnet.
    Mit den bloßen Händen wehren sie ab. Damoi, damoi. Fahrt nach Hause, rufen sie auf Russisch. Das muss man selbst im Panzer hören.
    Der Mut der Verzweifelten. Frauen schreien, Männer brüllen. Es ist Angst in der Luft und Wut, heiße Wut. Und immer dabei der Wunsch, die im Panzer mögen hören, etwas fühlen. Das sind doch auch Menschen, die ein Herz haben, die verstehen müssen, was hier passiert.
    Im Schritttempo drängen die Panzer voran. Doch die Menschen gehen auf sie zu, legen die Hände auf die Panzer und wollen sie abhalten, zurückschieben.
    Mit den bloßen Händen.
    Wie David gegen Goliath.
    Und man spürt, wie die im Panzer ringen und überlegen. Befehl ist Befehl, aber das hier sind Menschen, sie sprechen meine Sprache. Die kann ich doch nicht überfahren. Schießen aus der Ferne wohl. Da sieht man die Opfer nicht so. Aber direkt überfahren, wehrlose Menschen?
    Das eine Video zeigt, wie die Panzer es nicht wagen. Und sich zurückziehen.
    David gewinnt. Großer Jubel!
    Ein anderes Video – gleiches Thema, andere Stadt – zeigt, wie die schweren Militär-LKW trotz Hupen und Blaulicht erst nicht weiterkommen, dann aber doch langsam anfahren, Menschen zur Seite drängen und den Weg ebnen in die Stadt. Wütend und verzweifelt schreien Hunderte ihnen hinterher.
    Goliath gewinnt.
    Die bloßen Hände reichen. Und sie reichen nicht.
    Menschlichkeit kann siegen – und sie kann verlieren.
    Es gibt keine Garantie, zu gewinnen. Wie immer du dich verhältst: Es ist ein Wagnis.
    Nimmst Du eine Waffe in die Hand, machst du dich schuldig. Kommst du mit bloßen Händen, hast du im Zweifelsfall keine Chance.
    Oder?
    Den Frieden muss man wagen, sagt der Theologe und Widerstandskämpfer Dietrich Bonhoeffer. Der Friede lässt sich nicht sichern, denn Frieden ist das Gegenteil von Sicherheit, sagt er. Der Friede, der aus Christus kommt, ist ein Wagnis.
    Bonhoeffer weiß: Der Einzelne kann ihn nicht erreichen. Auch eine Kirche allein könne ihn nur bezeugen, aber „die Mächte der Welt können wortlos über sie hinwegschreiten.“
    Bonhoeffer ruft deswegen auf, dass alle Kirchen zusammenstehen. Einig darin, dass der Grund des Glaubens dieser Friede ist. Nur wenn es alle Kirchen zusammen deutlich machen, müsse die Welt das Wort vom Frieden „zähneknirschend“ zur Kenntnis nehmen. Das wäre dann wirklich eine frohe Botschaft, weil, wie Bonhoeffer wörtlich sagt, „die Kirche Christi ihren Söhnen im Namen Christi die Waffen aus der Hand nimmt und ihnen den Krieg verbietet und den Frieden Christi ausruft über die rasende Welt.“ *
    Die beiden Klitschko-Brüder werden Bonhoeffer vermutlich nicht kennen. Aber so ähnlich sprechen sie es dieser Tage auch in die Kamera und senden es in die Welt. Sie fordern die Religionsführer aller Länder auf, in die Ukraine zu kommen, Papst Franziskus, den Dalai Lama, Patriarch Kyrill von der russisch-orthodoxen Kirche, dazu alle Menschen guten Willens, sie mögen kommen und sich vor die Panzer stellen.
    Wie wäre das, wenn am kommenden Sonntag zur Gottesdienst-Zeit Tausende Geistliche aus aller Welt in Kiew auf die Straße gingen. Männer in beeindruckenden Soutanen, je dicker die Kreuze auf ihrer Brust, um so besser, Frauen in bunten Talaren, Rabbinerinnen, Imame, Schamaninnen, Zen-Lehrer, Menschen aller Glaubensrichtungen. Seite an Seite mit denen, die jetzt um ihr Leben bangen. Und die Kameras der Welt sind dabei. Sie mögen beten in ihrer Sprache, Lieder anstimmen, Gott um Hilfe rufen mit allen seinen Engeln.
    Es gibt keine Garantie, dass das gut geht. Es wäre ein Wagnis.
    Aber ein Schritt hin zum Frieden – mit bloßen Händen.“
    *(D. Bonhoeffer, Gesammelte Schriften Band I 1958 S. 216-219)
    DLF-Morgenandacht, 15.3.2022

    Guten Abend!

  4. Es stimmt wohl schon, dass ich als unbedarft im Westen Sozialisierter nicht so richtig in der Lage bin, „zwischen den Zeilen zu lesen“ und mich daher der Wucht der Propaganda der Mainstream-Medien (in meinem Fall sind das primär die öffentlich-rechtlichen) widerstandslos hingebe und deren Meldungen als „richtig“ annehme.
    Bin ich dadurch ein kleiner oder gar großer McCarthy, des Nachdenkens nicht fähig? Ziemlich rat- und hilflos bin ich bestimmt.

    Meine Überzeugung ist:
    • am 24.2. war es Wladimir Putin, der völkerrechtswidrig und als Aggressor in die Ukraine eingefallen ist und dies weder durch seine Sicht der Geschichte noch durch NATO-Bedrohung rechtfertigen kann
    • es ist Putin (und Lawrow), der gewählte Politiker anderer Staaten noch bis unmittelbar vor seinem Invasionsbefehl dreist belogen hat
    • es sind russische Waffen und Streitkräfte, die Krankenhäuser, Wohngebiete, Atomkraftwerke, Fluchtkorridore usw. in der Ukraine angreifen und nicht ukrainische „Saboteure“
    • Putin hat in Russland freie Medien, die Justiz, das Recht auf freie Meinungsäußerung und Demonstration unterdrückt und die internationale Zusammenarbeit massiv gestört
    • Putin hat sich seit dem 24.2. diverser Kriegsverbrechen schuldig gemacht und muss dafür zur Verantwortung gezogen werden

    Ich glaube, dass Putin
    • die Widerstandskräfte in der Ukraine absolut falsch eingeschätzt hat
    • den Zusammenhalt von EU und NATO absolut falsch eingeschätzt hat
    • die militärischen Fähigkeiten seiner Streitkräfte nicht richtig eingeschätzt hat
    • strategische und taktische Fehler bei der Planung des Überfalls auf die Ukraine begangen hat
    • sowohl in der Ukraine als auch in Russland selbst mittelfristig scheitern wird

    Große Sorge bereitet mir, dass
    • der Krieg an Brutalität (insbesondere auch gegen die Zivilbevölkerung) wohl noch deutlich zunehmen wird
    • die Gefahr einer nuklearen Eskalation besteht (sei es durch ukrainische AKWs oder taktische Atomwaffen)
    • Szenarien denkbar werden könnten, kriegerische Handlungen auch über ukrainische Grenzen hinaus auszuweiten
    • derzeit kein geeigneter, von allen Beteiligten akzeptierter Vermittler in Sicht ist

    Abschließend betone ich nochmals, dass ich die grundsätzlichen und weitgehenden Entscheidungen der Ampel-Regierung in den vergangenen Tagen für richtig halte.
    Über die Höhe des Sondervermögens und dessen Verwendung (F 35?), die Bekämpfung der Kriegsfolgen (z.B. die unsägliche Debatte um eine „Spritpreisbremse“, aber auch die Abwägung, wie mit Weizen- oder Speiseöl-Knappheit umzugehen ist) und „die Neuausrichtung der Politik nach dieser Zeitenwende“ werden wir noch lange und intensiv – auch in diesem Blog – streiten !

    1. „Bin ich dadurch ein kleiner oder gar großer McCarthy, des Nachdenkens nicht fähig? Ziemlich rat- und hilflos bin ich bestimmt.“
      ===================================================================

      Selbstverständlich nicht, lieber Herr Käfer, denn Ihre Informationsquellen sind seriös und berichten differenziert. Sie können sich glücklich schätzen, nie „zwischen den Zeilen“ lesen zu müssen.

      Kannten Sie den Unterschied zu Sowjetzeiten zwischen den Zeitungen „Prawda“ (Wahrheit) und „Iswestja“ (Nachrichten)? In der Prawda gab es keine Iswestja, und in der Iswestja keine Prawda.

      Bei einem Wettlauf zwischen US-Präsident Nixon und KPdSU-Chef Breschnew gewinnt doch tatsächlich Nixon. Was steht in der „Iswestia“?
      „Nach einem ausgezeichneten Lauf belegte unser Staatsoberhaupt einen hervorragenden zweiten Platz. Der Chef der imperialistischen USA wurde Vorletzter.“

  5. Zurück in Europa traure ich dem Privileg nach, die hiesigen Ereignisse eine Zeit lang in relativer Isolation und aus zehntausend Kilometer Entfernung verfolgt haben zu dürfen. Obwohl ich geahnt hatte, was mich in Deutschland erwartet, war ich dann doch beeindruckt von der Wucht der mich empfangenden Propaganda und auch von den zahlreichen kleinen und großen McCarthys, die ihre Zeit nunmehr für gekommen halten, jede Nachdenklichkeit bereits im Keim zu ersticken. Ich denke dabei an die jüngsten Diffamierungen Eugen Drewermanns und an das Geschmiere in der Leipziger Volkszeitung über den angeblich zu russlandfreundlichen Ministerpräsidenten Sachsens. Das nur nebenbei.

    Eigentlich wollte ich mich eine Zeit lang an keiner öffentlichen Ukraine-Debatte beteiligen. Zahlreiche kluge Stimmen, die es ja trotzdem immer noch gibt, haben mich jedoch ermutigt und umdenken lassen (Literaturhinweise s. u.).

    Dass die hier im Blog vorgefundene Diskussion von tiefer Hilf- und Ratlosigkeit durchdrungen ist, wundert mich nicht. Es wäre aber dumm, sich vom Gerede von „Pazifismus durchtränkter Blauäugigkeit“, „die Deutschen … seien friedenstrunken und benebelt durch die Weltgeschichte gestolpert“ oder von den „knieweichen Idealisten, die wieder einmal der Entspannungspolitik und sonstigen Tagträumen längst verblichener Zeiten nachhängen“ (Greiner, Blätter 3/22) zu sehr beeindrucken zu lassen. Es sind dies in meinen Augen lediglich blindwütige Reflexe einer Niederlage. Für mich ist nach wie die Maxime gültig, dass es „auf Dauer keine Sicherheit gegen Konkurrenten gibt, sondern nur mit ihnen. Und dass alle gemeinsam verlieren, wenn sie nicht zusammen gewinnen.“ (Greiner, ebenda).

    Zu sagen, dass „nichts davon (von diesem Krieg) etwas mit Politik, Logik oder Vernunft zu tun (hat)“, halte ich für falsch. Auch die These, dieser Krieg kenne nur Verlierer, ist nicht haltbar (s. Aktienkurse). Wer sich gegen eine nüchterne Analyse sträubt, wird zu keinen vernünftigen Reaktionen fähig sein. Wie man sieht. Als ich vor einigen Wochen zum Entsetzen einzelner auf das Telepolis-Interview mit dem russischen Politologen vom Waldai-Klub hingewiesen habe, hatte ich nicht gedacht, dass sich seine Worte so bald in der brutalen Wirklich widerspiegeln werden. Russland setzt seine (vermeintlichen) Interessen durch, weil es die Macht hat bzw. weil die Macht des Westens an der Grenze der Ukraine endet. Wenn es hart auf hart geht, setzen alle Mächte ihre Interessen auch mit Gewalt durch, sofern sie dazu in der Lage sind. Das nicht richtig eingeschätzt zu haben und die Ukraine letztendlich hilflos einer geostrategischen Konfrontation ausgesetzt zu haben, bestimmt nun leider deren tragisches Schicksal (Richter, Blätter 3/2022). Ich hoffe, dass dieses das Gewissen einiger Politiker noch lange belasten wird. Die ständige Fokussierung auf die Person Putins halte ich dagegen für infantil. Von den „machbesessenen, kriegsbereiten Putins, Trumps und Erdogans“ zu reden, ist auch seltsam. Wenn ich mich nicht täusche, war Trump bisher der einzige US-Präsident, der keinen Krieg angezettelt hat. Der sanfte, freundliche Obama dagegen hat wesentlich mehr getötete Zivilisten auf dem Gewissen als es bisher solche im Ukraine-Krieg gibt.

    Den Zusammenhang zwischen „Stoppt den Krieg!“ und „Waffen nieder!“ (Haspelmath) gibt es wohl, gerade in diesem Krieg. Er resultiert aus dem oben genannten Kräfteverhältnis. Herr Plätzsch hat Recht, dass dieses Menschen mit Fleisch und Blut schwer vermittelbar sein kann. Und die These „viele (außer Putin) akzeptieren nur einen Siegfrieden“ ist auch nicht so falsch (G. Mascolo, ARD-Presseclub am 13.03., „die Russen dürfen nicht gewinnen“). Dann scheint manchen Intellektuellen in Deutschland der Krieg noch nicht heiß genug zu sein (Prof. Karl Schlögel, FAZ 12.03.22; Prof. Klaus Steigleder, FAZ 10.03.22). Greiner formuliert treffend: „Intellektuelle, die ansonsten gerne den weiten Blick einfordern, (haben) kraftmeiernd im Schützengraben ihren Ort gefunden.“ (Greiner, ebenda). Wenn die von Herrn Plätzsch genannten, von Selensky auf den Tisch gelegten Verhandlungspunkte sich in einem Friedensvertrag wiederfänden, wäre ich sehr froh. Das entspräche dann aber wohl im Wesentlichen den russischen Kriegszielen. Für die These, „er (Putin) will die Ukraine so zerstören, wie er einst Tschetschenien dem Erdboden gleich gemacht hat“, fehlen m. E. die Belege. Bei den Kriegen im Nahen Osten und in Libyen wurde in der Regel als erstes die zivile Infrastruktur systematisch zerbombt (Elektrizitäts- und Wasserversorgung). Dergleichen ist aus der Ukraine bisher nicht bekannt. Für die Behauptung, bei einem Frieden nach Putins Wünschen würden die Ukrainer einem faschistischen Joch überlassen (von Heydebreck), interessierte mich ebenfalls die Begründung. Vielleicht sollten Sie sich eher mal mit den Rechtsradikalen des „Asow“-Regiments befassen (s. Baud-Interview).

    Bei aller Empörung über den brutalen russischen Überfall auf die Ukraine (ich selbst fühle mich maßlos frustriert), Schnappatmung und blinder Hass sind kein Ersatz für eine ehrliche Analyse. Bleibt diese aus, darf man sich niemand wundern, wenn man beim nächsten Konflikt wieder orientierungslos dasteht. Der Ukraine-Krieg ist möglicherweise nur das Vorspiel größerer, die Welt umwälzender Veränderungen. Thukydides lässt grüßen. Welche Kriege sollen eigentlich mit den neuen F35-Fliegern geführt werden? Verteidigungskriege?

    Hier die Literaturhinweise:
    Bernd Greiner „Alleintäter Russland: Wie man Feuer mit Benzin löscht“, Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2022, S. 50-52.
    Wolfgang Richter (Oberst a. D., ehem. militärischer Leiter der deutschen Vertretung bei der OSZE) „Im Spannungsfeld von Nato und Russland“, Blätter für deutsche und internationale Politik 3/2022, S. 53-60.
    Eine Zusammenfassung beider Texte (Bezahlschranke!) ist auf Telepolis zu finden: https://www.heise.de/tp/features/Ukrainekrieg-Unerhoerte-Stimmen-aus-der-Bundeswehr-6547358.html
    Interview mit Jacques Baud (ehem. Mitarbeiter beim Schweizerischen Strategischen Nachrichtendienst, zahlreiche Funktionen bei UN-Unterorganisationen wie UNHCR, DPKO, CIGHD): https://zeitgeschehen-im-fokus.ch/de/newspaper-ausgabe/nr-4-vom-15-maerz-2022.html

    1. Lieber Herr Lerchner, es fällt mir sehr schwer, Ihren scheinbar so abgewogenen Gedanken zu folgen. Bei Putin haben wir es eben nicht mit einem rational durchschaubaren Politiker, sondern mit einem Killer-Typen zu tun, der genauso „logisch und rational“ handelt wie ein Krimineller oder Geiselnehmer. Angesichts des ungeheuren Leides, das auf Befehl dieses Killers über ein Land und seine Bevölkerung ausgegossen und gebombt wird, weigere ich mich, mich auf eine solch abgehobene, eben nur scheinbar abgeklärte Diskussionsebene zu begeben, wie Sie sie vorschlagen. Das erweckt den Eindruck einer „Normalität“ von Politik, die ich nicht bereit bin zu akzeptieren. Denn normal ist an diesem Krieg nichts. Darum ist es für mich auch völlig inakzeptabel, der These „Krieg kennt nur Verlierer“ die steigenden Aktien der Rüstungsindustrie entgegenzusetzen. Das ist billig und lenkt davon ab, dass Kriegführen Ausdruck von menschlicher Niedertracht ist und unzählige Opfer verursacht. Völlig daneben ist Ihr Hinweis, dass es in der Ukraine bis jetzt noch nicht genug Zerstörung gebe, um diesen Angriffskrieg mit Tschetschenien zu vergleichen. Dabei reichen die ungeheuren, unglaublichen Zerstörungen aus, um die Absicht Putins zu erkennen, alles dem Erdboden gleich zu machen. Ich höre hier auf, denn mir wird physisch schlecht, so etwas zu lesen – während ein Kriegsverbrecher weiter ein Land zerbombt und rücksichtslos Menschenleben auslöscht. Christian Wolff

    2. Beim Kaspertheater sind die Rollen klar verteilt: der Teufel ist der Böse, der Kasper ist der Gute. Je länger es dauert, desto tosender wird der Applaus für jeden Schlag auf den Bösen.
      Erwiese sich am Ende der Kasper als Stratege und riefe: „Wollt Ihr den totalen Krieg“ – das JAAA hallte weit in die Welt hinaus.

      Es ist der große Konflikt hinter dem Theater, dessen Fortgang über die Zukunft der Menschheit entscheidet.

      Herzlichen und uneingeschränkten Dank für Ihren Beitrag.

  6. Und, lieber Christian, zu Deiner Reaktion auf Nichtträumer: die unglaublich mutige und entschlossene, hochgefährliche Aktion der russischen Redakteurin eines der stattlich-russischen TV-Senders von gestern Abend während der Nachrichtensendung (sie hielt ein Plakat in die Kamera: Krieg – Propaganda – Lüge) wird ganz sicher weit, weit über alle medialen Grenzen hinweg mehr ausrichten als Waffen. Bob Dylan: „Ja, und wie viele Tote muss es geben, bis er merkt, dass zu viele Menschen gestorben sind? Die Antwort, mein Freund, sie verweht der Wind, die Antwort verweht der Wind.“ Erst, wenn die Waffen schweigen, kann Frieden werden – eine Weisheit nach vielen leidvollen Erfahrungen und dies seit seit Jahrtausenden.

  7. Vor einigen Jahren schon, lieber Herr Wolff, schrieb ich Ihnen im Zusammenhang mit dem Kampf gegen den IS, daß man es ja mal mit der Entsendung von vielen Pfarrern mit der Bergpredigt unter dem Arm anstelle von bewaffneten Soldaten versuchen könne. Sie haben das damals nicht kommentiert – wohl weil Sie selbst die Absurdität erkannten. Um so mehr wundert mich, daß Sie diese Idee nun aufgreifen und als ganz neu hinstellen. Die Absurdität freilich bleibt. Man sieht ja übrigens hier in vielen Beiträgen schon, wie wenig friedensfähig einige hier sind, die es immer nur mit Angriffen auf die Person und Belehrungen versuchen, anstatt in der Sache zu diskutieren.
    Waffen sind in der Welt. Sie abzuschaffen wäre zwar schön, geht aber nunmal nicht, denn Ideen, die in der Welt sind, sind nicht abschaffbar. Die Frage ist also nicht, ob ja oder nein zu Waffen; sie ist vielmehr, wie damit umgehen.
    Und ziviler und friedlicher Widerstand gegen Gewalt ist nur möglich und erfolgreich, wenn der die Gewalt Ausübende in irgendeiner Form bereits geschwächt ist, so zB bei der Friedlichen Revolution, wo äussere Umstände und u.a. auch der militärische Druck des Westens die Regierungen der Warschauer-Pakt-Staaten bereits geschwächt hatten. Wo dies nicht der Fall ist, zB in Belarus im letzten Jahr, seit Jahren schon in Venezuela oder beim Tian’anmen-Aufstand 1989, ist ziviler Widerstand hilflos – leider.
    Also: Meine von Ihnen jetzt aufgegriffene Idee, damals eher ironisch gemeint, wird wohl in der realen Welt scheitern. Aber träumen Sie und Ihre Freunde weiter.
    Mit friedlichem Gruß,
    Andreas Schwerdtfeger

  8. Geniale Idee, nur leider ein Wunschdenken. Dann bin ich eher bereit auf gewohnten zu verzichten. 1989 haben wir von Wertewandel gesprochen, wenn die Kirchen darüber wieder ernsthaft diskutieren, wären sie auch bald wieder voll.

  9. Statt „Stoppt den Krieg“ müsste man sagen „Die Waffen nieder!“ (auch wenn man dann als Putin-Versteher, als AfD-nah oder als Querdenker verunglimpft wird). Denn alle wollen ja ein Ende des Krieges, aber viele akzeptieren nur einen Siegfrieden. Übrigens gab es vor ein paar Jahren eine soziologische Untersuchung, nach der ein Drittel aller Ukrainer gewaltlosen Widerstand favorisieren, aber nur ein Viertel Widerstand mit Gewalt wollten. Gewaltlosigkeit ist bei geopolitischen Spannungen generell das beste. https://www.nonviolent-conflict.org/blog_post/ukrainians-vs-putin-potential-for-nonviolent-civilian-based-defense/

    1. „Denn alle wollen ein Ende des Krieges“ schreiben Sie – und das in vollem Wissen, dass Putin genau das nicht will. Er will die Ukraine so zerstören, wie er einst Tschetschenien dem Erdboden gleich gemacht hat.

    2. Zitat @Prof. Haspelmath: „…viele akzeptieren nur einen Siegfrieden“
      ===============================================================
      Benennen Sie bitte konkret die „vielen“. Ich kenne nur einen: W. W. Putin. Immerhin hat Herr Selenskyi für Friedensverhandlungen einiges auf den Tisch gelegt:

      – Verzicht auf einen NATO-Beitritt
      – Status der sog. Volksrepubliken
      – Waffenstillstand
      – Sicherheitsgarantien
      – Abzug der russischen Truppen

      Sollte sich erwartungsgemäß der Kriegsverlauf unumkehrbar zugunsten Rußlands wenden, könnten die Ukrainer evtl. sogar auf die Krim verzichten. Das würde den Status Quo anerkennen, der ohnehin von der Ukraine nicht geändert werden kann.

  10. Lieber Christian – genau darum muss es in aller Welt gehen: FRIEDEN SCHAFFEN OHNE WAFFEN; auch ich wäre dabei!
    Und es müssten die Vertreter aller KIRCHEN mittun, wie hier im Blog bereits angesprochen!
    Zur Erinnerung: 1959 schenkte die damalige Sowjetunion die viel später als Symbol für die Bürgerbewegung in der DDR so bedeutende Plastik: „Schwerter zu Pflugscharen“, vor dem UNO-Gebäude in New York stehend. Dieses Denkmal bezieht sich auf Micha 4, 3: „Sie werden ihre Schwerter zu Pflugscharen und ihre Spieße zu Schein machen“.
    Und ich würde eine Plakette mit diesem Symbol mitnehmen und somit demonstrieren: Herr Putin: Wenn Sie schon die alte SU reformieren wollen, dann sollten Sie konsequent sein und an Micha denken und sich und Ihren Patriarchen daran erinnern, was FRIEDEN bedeutet – Krieg NICHT!

  11. „Was ist, wenn ein Putin dennoch auf Krieg setzt und ihn überfallartig beginnt? Dann ist vor allem wichtig: sich nicht auf diese Ebene ziehen zu lassen; sich mit zivilen Mitteln den Kriegsverbrechern in den Weg stellen und den Einsatz von Gewalt auf das absolute Minimum zu begrenzen.“
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    Sie lassen sich immer eine Hintertür offen, Herr Wolff. Die Ukrainer sind allein schon wegen Waffenmangels gezwungen, „den Einsatz von Gewalt auf das absolute Minimum zu begrenzen.“

    Der Friedensbeauftragte der EKD, Bischof Friedrich Kramer, ist nach wie vor gegen Waffenlieferungen an die Ukraine und radikaler Pazifist:

    „Ich wäre bereit zu sterben für Demokratie und Freiheit. Aber ich bin nicht bereit, dafür zu töten.“

    https://www.mdr.de/religion/ukraine-krieg-pazifismus-kirche-friedrich-kramer-interview-100.html

    Es gibt auch Stimmen, die die Ukraine zu sofortiger Kapitulation auffordern, weil sie ohnehin der russischen militärischen Überlegenheit auf Dauer nicht standhalten kann und so viele Menschenleben gerettet werden würden.

    Manchmal denke ich, diese Leute glauben, es mit Robotern zu tun zu haben und nicht mit Menschen aus Fleisch und Blut, die große Emotionen haben: „Helft uns, liefert Waffen!“

    1. Ich versuche zu unterscheiden zwischen den Reaktionen der Opfer (in diesem Fall der Ukrainer) und derer, die die Täter (in diesem Fall Putin und seine Vasallen) von ihrem zerstörerischen Tun abhalten wollen. Darum habe ich absolutes Verständnis für die Forderung der Ukrainer, ihnen mögen Waffen geliefert werden. Dennoch sehe ich darin keinen Ansatz zur Konfliktlösung.

      1. „Dennoch sehe ich darin keinen Ansatz zur Konfliktlösung.“
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        Der bulgarische Politologe, Ivan Krastev, Leiter des ‚Centre for Liberal Strategies‘ in Sofia und Fellow am Institut für die Wissenschaften vom Menschen (IWM) in Wien, hat in einem Interview mit dem SPIEGEL vom 12. 3. 22 auf eine Harvard-Studie über den Ausgang asymmetrischer Kriege hingewiesen: „In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts waren es in 55 % der Kriege die militärisch Schwachen, die sich durchsetzten.“ Krastev glaubt zwar auch, dass die Ukraine auf Dauer nicht bestehen könne, dass jedoch auch eine dauerhafte Besetzung der Ukraine unmöglich ist. „Wegen der zu berwartenden Aufstände und auch der ökonomischen Kosten einer solchen Besatzung.“ Aufstände aber können nur bewaffnet Erfolg haben.

  12. „Wieso werden jetzt gigantische Aufrüstungsprogramme neu aufgelegt, wohlwissend, dass diese nach Einsatz drängen?“
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    Da mache ich ein großes Fragezeichen dahinter. Wie ist das mit dem Küchenmesser, mit dem man einen Menschen töten kann?
    Völlig ausschließen lässt sich allerdings nicht, dass auch hierzulande einmal ein Putin an die Macht kommt. Aber erstmal ist eine Ampel an der Regierung, und das lässt mich sehr ruhig schlafen.

  13. Zu Ihren rhetorischen Fragen zu Beginn Ihres Aufsatzes, lieber Herr Wolff, gibt es eine einfache Antwort: Die von Ihnen zitierte „naive Blauäuigkeit“ hat dazu geführt, dass das Gleichgewicht der Kräfte, auf dem der jahrzehntelange (relative) Frieden bisher beruhte, durch die einseitige faktische Abrüstung Westeuropas, vor allem Deutschlands, nach dem Ende des kalten Krieges sträflich vernachlässigt wurde, so dass Putin nach dem für ihn weitgehend folgenlosen Handstreich 2014 eine Masseninvasion eines neutralen Landes wagen konnte, wie sie die Welt nach dem zweiten Weltkrieg nicht mehr gesehen hatte.

    Ihren Lösungsvorschlag eines friedlichen unbewaffneten Einmarsches aller friedliebenden Europäer in die Ukraine sehen Sie wohl selbst nur als eine rhetorische Lösung an. Nicht einmal Jesus hat das gegen die römischen Truppen unter Pilatus vorgeschlagen und weder Mahatma Gandhi noch Martin Luther King marschierten gegen eine schwer bewaffnete angreifende Invasionsarmee aus einem anderen Land.

    Nein, die Anwendung Ihrer Parole „Frieden schaffen ohne Waffen“ würde leider bedeuten, die armen Ukrainer ihrem von Putin gewünschten Schicksal eines „Friedens“ unter seinem faschistischen Joch zu überlassen. Jetzt kommt es auf eine kluge und diplomatische Politik der ganzen demokratischen Welt an, der Ukraine in ihrem gerechten Abwehrkampf zu helfen, ohne dass dieser Konflikt zu einem neuen Weltkrieg ausartet. Da haben sich alle NATO-Mitglieder einschließlich unserer Bundesregierung m. E. bisher vorbildlich verhalten.

  14. Die Idee einer friedlichen „Ein-Demonstration“ in die Ukraine ist verwegen–genial, aber auch sehr riskant, nicht nur wegen der Gefahr, dass Putins Truppen nach dem chinesischen Vorbild von Tianmen friedlichen Protest mit blutiger Gewalt unterdrücken. Putin könnte das Eindringen westlicher Demonstranten auch als Bestätigung seiner These darstellen, dass der Westen versucht, die Ukraine zu unterwandern und das Ganze eine von westlichen Regierungen gelenkte Inszenierung ist.
    Ich lasse meiner Phantasie freien Lauf: Wie wäre es, wenn in vorderster Linie der Demonstranten namhafte Repräsentanten der christlichen (katholischen, protestantischen, orthodoxen) Kirchen aus verschiedensten Ländern zusammen mit Vertretetn anderer Religionsgemeinschaften, vielleicht sogar einigen Friedensnobelpreisträgern marschieren würden, begleitet von einem großen Tross an Medienleuten? Ich könnte mir vorstellen, dass Putins Militär- und Propagandaapparat den nicht mehr gewachsen wäre und ein Prozess in Gang gesetzt würde, der die Logik militärischen Machtdenkens aushebelt.

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