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Israel am Scheideweg

Darf die Regierung Israels, darf die Bevölkerungsmehrheit in Israel wegen der Siedlungspolitik in den besetzten Gebieten und der Kriegführung in Gaza kritisiert werden? Natürlich darf sie das. Sie muss es sogar! Israel ist eine Demokratie, ein Rechtsstaat. Dort gelten Meinungs- und Religionsfreiheit, Gewaltenteilung, Gleichberechtigung von Mann und Frau, freie und geheime Wahlen. Israel ist geprägt von der jüdischen Glaubenstradition. Zu dieser gehört das, was Grundlage der Zivilisation ist: die Achtung des Schwachen, die Nächstenliebe, der Kompromiss als Voraussetzung eines sozial gerechten, friedlichen Zusammenlebens. Darum muss es normal sein und es ist geboten, dass die Politik der Regierung unter Ministerpräsident Netanjahu einer scharfen Kritik unterzogen wird – völlig unabhängig davon, ob ich Amerikaner, Franzose, Chinese oder Deutscher bin. Entscheidend für die Kritik ist, dass Israel den eigenen Ansprüchen nicht mehr genügt – allein im Blick auf das, was durch die Regierungspolitik den israelischen Arabern angetan wird.

Israel wird schon seit Jahrzehnten seinem Auftrag, seiner Mission nicht gerecht: nämlich Vorbild zu sein für eine zukunftsträchtige Entwicklung im Nahen Osten. Dieser befindet sich seit einigen Jahren im Aufruhr und im Aufbruch zu dem, was in Israel schon teilweise verwirklicht ist (siehe oben). Wenn Israel in dieser Entwicklung voller Widersprüche eine Aufgabe hat, dann die: sich nicht gegen seine Nachbarn abzuschotten, sondern Vorreiter zu sein in einem Prozess für Frieden und Zusammenarbeit im Nahen Osten. Die Chancen dafür standen in den vergangenen drei Jahren durchaus nicht schlecht. Denn es wurde sichtbar: Das Feindbild Israel, das über Jahrzehnte die autoritären Systeme in der arabischen Welt zusammenhielt, funktioniert nicht mehr. Die innergesellschaftlichen Widersprüche sind viel zu groß, als dass sie mit diesem Feindbild übertüncht werden können. In diesem Moment hätte Israel sich als stabile Friedensmacht profilieren können. Stattdessen deutet Israel alle Zeichen der Veränderungen in der arabischen Welt nur als Bedrohung: der politische Aufbruch im Iran ebenso wie der Versuch, dass die beiden verfeindeten palästinensischen Organisationen Fatah und Hamas sich zusammenschließen.

Unstrittig ist: Mit Einseitigkeiten kommt man nicht weiter. Es gibt nach wie vor ein aggressives Verhalten gegenüber Israel. Aber es gibt vor allem tiefgreifende Veränderungen in der arabischen Welt, auf die die Politik Israels endlich reagieren muss. Stattdessen beteiligt sich Israel an der Aufrüstung autoritär regierter Länder wie Saudi-Arabien, die sich morgen schon als eine reale Bedrohung Israels erweisen können. Stattdessen schottet sich Israel immer weiter ab und geht mit brutaler Härte gegen die Palästinenser im Gaza vor. Was dort geschieht, hat mit einem Friedensprozess nichts zu tun. Vielmehr wird die fatale Strategie verfolgt: Problemlösung durch Problemvernichtung. Dieser tödlichen Strategie wird schon im hebräischen Teil der Bibel heftig widersprochen – besonders mit der Geschichte von Kain und Abel. Israels Politik wird derzeit von einer Gewaltideologie beherrscht, die sich nicht mehr durch die eigene Glaubenstradition infrage stellen lässt.

Mit Antisemitismus hat diese Kritik solange nichts zu tun, solange man sie nicht verbindet mit dem Gedanken: typisch jüdisch (von manchen ekelhaften, judenfeindlichen Parolen auf Demonstrationen ganz zu schweigen). Nein, an der Kriegführung Israels im Gaza ist nichts typisch jüdisch. Es ist typisch für eine angstbesessene Machtpolitik, die nur noch in militärischen Kategorien denkt. Es ist typisch dafür, dass man sich nicht mehr einen Kompromiss vorstellen kann. Es ist typisch für einen religiös-nationalistischen Herrschaftsanspruch, der Nachbarn nur noch als Gefahr, aber nicht als gleichberechtigte Partner ansieht. Auch das widerspricht der jüdischen Glaubenstradition, nach der die Welt von Gott geschaffen und jeder Mensch unabhängig von seiner körperlichen Beschaffenheit, seiner Nationalität, seiner religiösen und kulturellen Herkunft und politischen Überzeugung ein Geschöpf Gottes ist – mit Recht und Würde gesegnet. Antisemitisch wird dann die Kritik an Israel, wenn man Israels Politik gleichsetzt mit dem Naziterror und diesen damit nivelliert oder ihm gar eine Scheinrechtfertigung verleiht. Dem muss deutlich widersprochen werden. Aber dieser Widerspruch darf nun nicht mit einer Rechtfertigung von Israels Gewaltpolitik verbunden werden. Genau in dieser Gefahr steht der Zentralrat der Juden in Deutschland und erweist sich damit einen Bärendienst.

Nun weiß ich, dass mir entgegengehalten wird: Du hast keine Ahnung. Du hast keine Vorstellung davon, was es bedeutet, in Tel Aviv nach Sirenengeheul in die Bunker zu eilen. Das ist richtig: Davon habe ich genauso wenig eine Ahnung wie von dem, was sich im Gaza an Grausamkeiten ereignet. Aber gerade weil für viele Menschen in Israel und im Gaza die Lage dramatisch bedrohlich ist, muss alles unternommen werden, damit wenigstens ein respektvolles Nebeneinander von Israelis und Palästinensern möglich ist. Ein nüchterner Blick auf die vergangenen vier Jahrzehnte zeigt: Nichts ist besser geworden. Israel wehrt sich aggressiver denn je gegen Länder, die aufgrund des inneren Aufruhrs immer unberechenbarer werden. Auf der Strecke geblieben sind Visionen, wie sich denn ein friedliches Zusammenleben im Nahen Osten gestalten soll. Wir können nur hoffen und beten, dass in Israel langsam diejenigen (wieder) eine Mehrheit gewinnen, die sich ein Israel, Palästina, Libanon, Jordanien, Syrien, Ägypten in einer Staatengemeinschaft vorstellen können, die sich verpflichten, ihre Konflikte am Verhandlungstisch und nicht auf dem Schlachtfeld auszutragen. Für diese Vorstellung und für nichts anderes sollten in diesen Tagen viele Menschen auf die Straße gehen.

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