Am 29. März 1974, also vor über 50 Jahren, wurde der 38-jährige Pole Czeslaw Kukuczka am Grenzübergang Bahnhof Friedrichstraße in Ost-Berlin erschossen – einer von mindestens 140 Menschen, die an der Berliner Mauer ihr Leben ließen. Am vergangenen Montag wurde der mutmaßliche Täter, ein ehemaliger hochrangiger Stasi-Offizier, vom Landgericht Berlin wegen Mordes zu 10 Jahren Haft verurteilt. Das Urteil ist noch nicht rechtskräftig. Das Gericht stellt in seinem Urteil fest, dass es sich bei dem Mord nicht um „die Tat eines Einzelnen aus persönlichen Gründen“ handelt, sondern die Tat „von der Stasi geplant und gnadenlos ausgeführt“ wurde. Das Gericht hat nach Würdigung aller Unterlagen keinen Zweifel daran gelassen, dass der jetzt 80-jährige ehemalige Stasi-Offizier und Bürger der Stadt Leipzig die Tat, nämlich die Erschießung des Polen aus unmittelbarer Nähe, begangen hat. Dafür wurde er damals mit einem Orden der DDR ausgezeichnet. Das Gericht wertet die Tat nun als Mord und nicht als Totschlag. Im letzteren Fall wäre die Tat verjährt.
Nun kann man sich vorstellen, dass nicht wenige Bürger:innen insbesondere in Ostdeutschland dieses Urteil als weiteren Ausweis einer Benachteiligung und Herabwürdigung ostdeutscher Biografien ansehen. Wieso soll ein Mensch, der doch nur Befehle ausgeführt hat und inzwischen das Alter von 80 Jahren erreicht hat, den Rest seines Lebens im Gefängnis verbringen? Wem nützt das? Selbst die Angehörigen des Opfers, die als Nebenkläger aufgetreten sind, haben wohl ein Interesse an einem Schuldspruch, aber nicht daran, dass der verurteilte Täter seine Strafe absitzen muss.
Das Urteil des Landgericht Berlins erinnert stark an das Urteil des Bundesgerichtshofes vom August dieses Jahres. Da bestätigte dieses die Verurteilung der früheren, inzwischen 99 Jahre alten KZ-Sekretärin Irmgard F. wegen Beihilfe zum Mord in 10.505 Fällen und zum versuchten Mord in fünf Fällen zu zwei Jahren Jugendstrafe. Auch hier kann man zwei Fragen stellen:
- Wieso wird eine einfache Angestellte für Mord verantwortlich gemacht, wo sie doch lediglich auf Anweisung ihrer Vorgesetzten gehandelt hat und die angebliche Tat 80 Jahre zurückliegt?
- Was macht es für einen Sinn, wenn Menschen, die doch nur das gemacht haben, was von ihnen verlangt wurde, und nun in ihre letzte Lebensphase eingetreten sind?
Um diese Fragen zu beantworten, ist entscheidend, dass ein Grundgedanke des Rechtsstaates Beachtung findet: Für eine Straftat ist zuerst und vor allem der oder die verantwortlich, der oder die die Tat ausgeführt hat. Damit folgt der Rechtsstaat einem Menschenbild, das stark beeinflusst ist von biblischen Grundgedanken. Danach ist jeder Mensch für das verantwortlich, was er tut – unabhängig davon, dass jede:r im Zusammenhang mit anderen lebt und davon beeinflusst wird. Letzteres aber darf nicht dazu führen, die Verantwortung für das eigene Handeln auf andere abzuschieben. Die Verantwortung für das eigene Tun und Lassen ist Teil der Würde des Menschen! Das wird schon in der sog. Sündenfallgeschichte aufgezeigt (Die Bibel: 1. Mose 3). Als Adam von Gott dafür zur Rechenschaft gezogen wird, dass er entgegen des Verbotes die Frucht vom Baum der Erkenntnis gegessen hat, schiebt er die Schuld auf Eva und diese auf die Schlange. Aber das ändert nichts daran, dass Adam und Eva die Strafe für ihr Fehlverhalten zu ertragen haben.
Es ist folgerichtig, dass bei Mord der zeitliche Abstand zur Tat (Verjährung) keine Rolle spielen darf und auch nicht die Frage, ob man auf Befehl gehandelt hat, zu einer Tat verführt wurde oder sich in den Dienst eines Unrechtssystems gestellt hat. Jeder und jede hat die Möglichkeit, auch anders zu handeln. Es ist ein Verdienst beider Gerichte, dass sie durch ihre Urteile die deutliche Unterscheidung zwischen Täter und Opfer nicht verwischt haben. Denn die Täter waren nicht Opfer des Naziterrorsystems oder des Unrechtsstaates DDR. Sie waren auch mehr als Mitläufer. Sie haben an entscheidender Stelle dazu beigetragen, dass Menschen zu Opfern des Systems wurden und durch ihre Ermordung schweres Leid über die Familien der Opfer gekommen ist. Dieses auch nach Jahrzehnten durch ein Urteil festzustellen, ist nicht nur für die Angehörigen der Opfer eine Genugtuung. Es stärkt auch den Rechtsstaatsgedanken.
Bleibt die zweite Frage: Ist es sinnvoll, dass nach so langer Zeit die Täter strafrechtlich belangt werden? Müsste hier nicht Gnade vor Recht ergehen? Ja, der Rechtsstaat hat auch hier wichtige Gedanken der biblischen Botschaft aufgenommen. Denn diese geht grundsätzlich von einem gnädigen Gott aus, der trotz aller Verfehlung des Menschen diesem unverdiente Neuanfänge ermöglicht – so auch Adam und Eva nach der Vertreibung aus dem Paradies, so auch dem Kain, der seinen Bruder Abel erschlagen hat (Die Bibel: 1. Mose 4) so auch dem David, der in einen üblen Sex- und Crime Skandal verstrickt war (Die Bibel: 1. Samuel 11), so auch dem Mörder, der neben Jesus Christus gekreuzigt wurde (Die Bibel: Lukas 23). Alle genannten Personen mussten Verantwortung für das übernehmen, was sie angerichtet haben. Aber gleichzeitig widerfuhr ihnen das, was wir Gnade nennen, so dass sie einen Neuanfang wagen konnten. Gnade bedeutet also nicht „Schwamm drüber“, sondern Schulderkenntnis und Ermöglichung eines Neuanfangs jenseits aller Gnadenlosigkeit. Genau dem entspricht das Resozialisierungsgebot im Strafvollzug, ist aber auch Aufgabe der Gesellschaft.
Der in Berlin verurteilte Stasi-Offizier hat im Prozess jede Aussage verweigert. Von Schuldanerkenntnis kann keine Rede sein. Darum ist es auch nicht möglich, einfach Gnade gegenüber dem Täter walten zu lassen. Denn diese käme einer Verharmlosung der Tat gleich. Von daher gesehen ist es völlig unangemessen, das Berliner Urteil in die in eine völlige Schieflage geratene Ost-West-Diskussion einzuordnen. Hier geht es vielmehr um den Rechtsstaat, um den Gedanken der Resozialisierung und der Gnade und Barmherzigkeit auf der einen und Verantwortung für schuldhaftes Verhalten auf der anderen Seite. Es ist ein Segen, dass beide Gerichte durch ihre Urteile uns allen dieses ins Bewusstsein gerufen hat.
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Zum ganzen verweise ich auch auf meine letzte Predigt über 2. Mose 34,4-10. Da geht es auch um den Zusammenhang von Gnade und Strafe.
16 Antworten
Der Presse ist zu entnehmen, dass der verurteilte Täter einer Operativgruppe des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) der DDR angehörte, die mit der „Unschädlichmachung“ des Polen beauftragt worden war. Aus Spionagefilmen ist uns Zuschauern bekannt, wie es in Geheimdienstkreisen zugeht. Man könnte vermuten, dass das bei unseren Geheimdiensten in der Bundesrepublik ähnlich zugeht. Weit gefehlt:
Das Bundesverfassungsgesetz behandelte aufgrund einer Klage die Rechte des Geheimdienstes auf dem Gebiet der Telekommunikation im Ausland. In seinem Urteil vom 19.5.2020 (1BvR 2835/17) , bestätigte es ausdrücklich dass der Schutz der Grundrechte für sämtliche Staatsgewalt gilt, also auch den BND und das diese Verpflichtung nicht an der Staatsgrenze halt macht (Einzelheiten siehe https://www.bundesverfassungsgericht.de/SharedDocs/Downloads/DE/2020/05/rs20200519_1bvr283517.pdf?__blob=publicationFile&v=3
Damit wird deutlich, welcher Schutz des Einzelnen mit dem GG gegeben ist und in welchem Geiste die Rechtsprechung entscheidet.
Das Gericht forderte den Gesetzgeber auf, eine Reihe von Gesetzen zu überarbeiten. Inwieweit das erfolgt ist, entzieht sich meiner Kenntnis.
Sehr geehrter Herr Wolff.
Ich finde es mutig, das Thema von 2 Menschen zu kommentieren, die nach dem Urteilde r Gerichte schuldig geworden sind für Taten, die sehr lange zurückliegen und die in Zeiten begangen wurden, als die Taten selbst nach der damaligen Rechtslage nicht strafbar waren. Das gilt sowohl für die scheußlichen Gräueltaten im KZ als auch für
die meuchelmörderische Beseitigung des flüchtenden Polen in Ostberlin. Erlauben Sie folgende Anmerkungen:
Hier geht es nicht um das Gottesgericht über den Menschen, sondern um ein weltliches Urteil unter den Bedingungen der Ist-Zeit.
Die von Ihnen genannten Beispiele über die Strafe/Gnade Gottes beziehen sich ausschließlich auf das Verhältnis Gottes zu den Menschen und zeigen Gottes Gnade. Da
die Botschaft an die Menschen noch nicht vollbracht war (Altes Testament) handelte Gott noch direkt und bestrafte. Wie lernen aber seit dem NT durch Jesus: GOTT schaut tiefer
und urteilt über den Einzelnen erst am Ende der Zeit unter Berücksichtigung aller Umstände. Er schaut nicht alleine, was geschehen ist. Selbst bei dem viel gescholtenen
und Judas ist nach dem Text des Matthäus Evangeliums nicht klar, ob Jesus ihm nicht das ewige Leben verspricht (siehe Mt. 26,29, vorher 26,24) obwohl dieser Selbstmord begeht.
Ich kenne keine Stelle in der Bibel, die sich direkt auf die weltliche Rechtsprechung bezieht. Die Verurteilung und Kreuzigung Jesus zeigt ja gerade, wie falsch das weltliche
Gericht lag, aus Gründen, die wir nachvollziehen können. Im NT jedenfalls stehen als Rat/Aufforderung an uns völlig andere Prinzipien im Vordergrund: Vergeben, Barmherzigkeit gegenüber anderen üben … im Vordergrund. Nicht Richten wird
gefordert.
Klar, aber hier ging es um Mord, einem absoluten Verstoß gegen eines der Zehn Gebote.Das ist eine Sünde im theologischen Sinne, unabhängig von der Rechtslage.
Hier geht es nur um die weltliche Beurteilung durch weltliche Gesetze.
Sie führen dann mit Recht aus, daß der Rechtsstaat dem Grundgedanken folgt, daß für eine Straftat zuerst und vor allem der oder die verantwortlich ist, der oder die die Tat
ausgeführt hat.
Das Besondere dieses Falles- wie auch die der Mauerschützenprozesse und Urteile zu den Verbrechen im Dritten Reich war die Abweichung vom Prinzip der
Rückwirkung (Nulla poena sine lege, oder „Keine Strafe ohne Gesetz). Dies hätte nämlich keine Bestrafung zugelassen, weil sowohl in der DDR als auch im 3. Reich die Taten durch Rechtsakte gedeckt waren und daher nicht strafbar waren. Dies ist ein fundamentales, bewährtes Prinzip aller Rechtsstaaten und findet auch im Völkerrecht Anwendung
https://de.wikipedia.org/wiki/Nulla_poena_sine_lege
Die Rechtsprechung des BverfG hat aber entgegen dem Rückwirkungsverbot des Grundgesetzes Art. 103 Abs. 2 GG und §2 StGB eine neue Sichtweise entwickelt, das Recht weiter entwickelt ,-basierend auf der Radbruchschen Formel siehe
https://de.wikipedia.org/wiki/Radbruchsche_Formel (siehe dort auch das Für und Wider).
Danach kann vom Rückwirkungsverbot abgewichen werden, wenn bestimmte Handlungen schon immer gegen fundamentale Prinzipien der Menschlichkeit verstoßen haben, auch wenn sie zum damaligen Zeitpunkt in den nationalen Gesetzen als legal
galten oder nicht verfolgt wurden.
Die Richter argumentieren, bezogen auf die Schießbefehle der DDR und Handlungen im Dritten Reich-, dass die Handlungen bereits im Zeitpunkt ihres Geschehens gegen das Völkerrecht und die Prinzipien der Menschlichkeit verstoßen hätten und damit jetzt strafbar sind. Nach Artikel 7 der Europäischen Menschenrechtskonvention ist eine solche Sichtweise gedeckt.
Diese Sicht ist keineswegs unumstritten und weltweit akzeptiert, noch überall praktiziert und umgesetzt in nationalem Recht. (Wie könnte es sonst z. B. sein, dass in Ländern auch der westlichen Welt noch Todesurteile vollstreckt werden?) Die genannte Sichtweise entwickelte sich im Zuge der Nürnberger Prozesse und wird
heute angewandt im Völkerrecht. Dass sie in nationales Recht umgesetzt wurde, ist eine deutsche Spezialität (so mein Verständnis).
Dass dies eine gute Entwicklung vielerlei Hinsicht ist, ist zweifelsfrei, wie ich meine. Es erlaubt so die Bestrafung schlimmster Verbrechen bis hin zu den wirklich
Verantwortlichen, welche die Gesetze verantwortet haben. Sie befriedet auch die Gesellschaft, die Unrecht gesühnt sieht und die Angehörigen der Opfer.
Ob die Urteile dem Täter verständlich sind und ob sie ihm gegenüber gerecht sind im absoluten Sinne, ist eine andere Frage. Das wird nach der Bibel Gott entscheiden. Er wird
alle Aspekte und Umstände berücksichtigen, die uns Menschen verborgen bleiben.
„Taten, die sehr lange zurückliegen und die in Zeiten begangen wurden, als die Taten selbst nach der damaligen Rechtslage nicht strafbar waren. Das gilt sowohl für die scheußlichen Gräueltaten im KZ als auch für
die meuchelmörderische Beseitigung des flüchtenden Polen in Ostberlin“
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Selbstverständlich war die Erschießung Czesław Kukuczkas im Jahr 1974 auch nach damaliger Rechtslage strafbar. Es hätte theoretisch auch die Todesstrafe im Raum gestanden, denn sie wurde erst im Jahr 1987 abgeschafft.
Es mag sein, dass dieser Fall nicht wie die Mauerschützenprozesse zu behandeln ist. Prinzipiell geht es aber um die gleiche Grundproblematik. Zum besseren Verständnis der Rechtslage und Rechtsentwicklung in Deutschland empfehle ich folgenden Podcast: https://www.swr.de/swrkultur/leben-und-gesellschaft/die-mauerschuetzenprozesse-true-crime-toedliche-republikflucht-100.html Es wird deutlich, dass die NS-Verbrechen in D lange Zeit nicht nach diesen Kriterien beurteilt wurden.
Mir gelingt es nicht, eine Vergleichbarkeit der Tätigkeiten in einen Massenvernichtungslager des deutschen Reichs mit derjenigen in einem Grenzübergang im Berlin des kalten Kriegs zu erkennen.
Davon abgesehen: Der hier besprochene Sachverhalt ist mir unklar. Wenn der Schütze davon ausgehen musste, dass der Getötete im Begriff war, mit einer Bombe in der Aktentasche den öffentlichen Raum in Westberlin zu betreten, wäre es seine Aufgabe, das zu verhindern und auch die Zündung der Bombe in der Grenzübergangsstelle zu vermeiden.
Ohne dieses Detail zu kennen, kann ich mir keine Meinung zum Urteil bilden.
Für einen Hinweis oder einen Link zum Urteil wäre ich dankbar.
Gleichwohl ist die Diskussion zum Thema „Verantwortung“ im Hinblick auf die aktuellen Grenztoten, Waffenlieferungen und Kriege dringend, interessant und wichtig. Die Maßstäbe scheinen auf breiter Front zu verrutschen, Morde werden zu Tötungen verharmlost, Tötungen werden zu Sicherheitsmaßnahmen, Völkermord zur Normalität.
Wegsehen entbindet aber ebenso wenig von der eigenen Verantwortung wie der selbstverschuldete Glaube an Narrative aller Art.
– Einen Link zu etlichen Hintergründen des Falls finden Sie im Blog-Beitrag. Was die Bombendrohung angeht, so ist auffällig, dass der Pole, der erschossen wurde, unbehelligt, aber von der Stasi beschattet, aus der Botschaft Polens bis zum Bahnhof Friedrichstraße gehen konnte.
– Der Vergleichspunkt zwischen den beiden Urteilen liegt darin, dass beide nach Jahrzehnten gesprochen wurden und der:die Täter:in darauf berufen haben, auf Befehl gehandelt zu haben. Die Taten als solche sind unvergleichbar.
Lesen Sie die Ausführungen des Historikers Dr. Hubertus Knabes. https://ogy.de/1y68
„Nach der Schilderung des Tathergangs und der Würdigung der Zeugen und Dokumente kam Richter Miczajka auf den wohl heikelsten Punkt in diesem Prozess zu sprechen: War es nicht legitim, auf einen Mann zu feuern, der damit gedroht hatte, eine Bombe zur Explosion zu bringen? Nein, so das Gericht, denn der Geschädigte hätte bereits alle Grenzkontrollen hinter sich gehabt. „Der Angeklagte hatte den Geschädigten an sich vorbei laufen lassen. Er hatte nach unserer Überzeugung auch gesehen, dass von Geschädigten keinerlei Gefahr mehr für die DDR ausging.“ Zudem hätte es ausgereicht, ihn bewegungsunfähig zu machen, statt gezielt auf den unteren Brustkorb zu schießen.“
„Der in Berlin verurteilte Stasi-Offizier hat im Prozess jede Aussage verweigert. Von Schuldanerkenntnis kann keine Rede sein.“
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Der Angeklagte hat bestritten, dass er der Schütze war. In der Logik dieser Verteidigungsstrategie liegt es, dass er seine Schuld nicht anerkennen konnte.
Ich stimme Ihnen zu, Herr Wolff, vor allem dem Hinweis, dass Jeder für das verantwortlich ist, was er tut oder unterlässt – und das gilt natürlich auf allen Gebieten des Lebens, nicht nur im Strafrecht, sondern auch im Sozialen, in der Kindererziehung, im Straßenverkehr, in der Versicherung seines Hauses, in der Absicherung des Alters und und und. Ewige Hinweise auf „die Politik“ sind also unangebracht, weil Abschiebung von eigener Verantwortung.
EINEN Aspekt, finde ich, haben Sie unerwähnt gelassen und auch wenn er zugegebenermaßen an Ihren richtigen Aussagen nichts ändert, so muss er doch im Urteil Berücksichtigung finden: Nämlich, dass es ein Unterschied ist, ob man seine Straftat „in freier Selbstbestimmung“ in einem Rechtsstaat ausführt, der den Täter in einem korrekten Verfahren nicht nur verurteilt, sondern ihm durch die Achtung aller seiner Verteidigungsrechte zugleich auch Schutz bietet. In einem Unrechtsstaat dagegen, ist der Täter UND auch sein persönliches Umfeld, Familie, Freunde, etc, durch die Missachtung des Rechts durch sein Gegenüber, den Staat, in ganz anderer Weise bedroht, der Rekurs auf das Argument des Befehlsnotstandes also vielleicht keine Entschuldigung, aber doch Ausweis eines Dilemmas, dem nur Wenige standhalten können. Und dies gilt insbesondere für die sogenannten „kleinen Leute“ – die Sekretärin zum Beispiel, während es sicherlich von an führender Stelle handelnden Personen – eben auch hohen Offizieren zum Beispiel oder führenden Angehörigen der Sicherheitsorgane, Justiz, Verwaltung, Lehre und Kirche – durchaus weniger umfänglich gelten kann.
Gibt es nicht vielleicht auch hierfür Beispiele in der Bibel? Sie führen Adam und Eva oder auch Kain an als Menschen, die aus freier Entscheidung falsche Entschlüsse fassten. Sind nicht aber andere Beispiele durchaus Ausdruck für das von mir angeführte Dilemma: Petrus, der seinen Freund und Meister dreimal verriet, weil er (nachvollziehbar) Angst um sich selbst hatte (vielleicht ähnlich der Sekretärin)? Judas, den die Angst vor den Folgen des Kurses seines rebellischen Rabbis und auch der Mammon antrieben (zumindest in letzterer Hinsicht ähnlich dem Stasi-Offizier)?
Es ist vielleicht alles nicht ganz so einfach und einseitig, wie Sie es gerne dar- und ja auch nur zur Diskussion stellen, ganz ohne Anspruch auf „einzig richtig“.
Andreas Schwerdtfeger
Noch einmal: Natürlich gibt es für die Erklärung einer Straftat viele Faktoren. Aber das ändert grundsätzlich nichts an der Verantwortung, die der Straftäter für seine Tat trägt. Vor allem dürfen Erklärungen nicht mit der Rechtfertigung einer Straftat verwechselt werden, und der Täter nicht mit dem Opfer. Das gilt unabhängig von den gesellschaftspolitischen Bedingungen. Dain liegt ja gerade die Bedeutung der beiden Urteile.
Was den Vorwurf der „Einseitigkeit“ angeht, möchte ich nur darauf verweisen, dass die Verantwortung des Einzelnen für seine (Straf-)Tat einhergeht mit der Forderung/dem Angebot der Gnade. Diese kommt im Resozialisierungsgebot zum Ausdruck: Der:die verurteilte Straftäter:in soll darauf vorbereitet werden, in der Gesellschaft wieder ein normales Leben führen (neu anfangen) zu können, ohne dass er:sie ständig wegen seiner Straftat Benachteiligungen oder Ausgrenzungen erfährt. Darin liegt eine große Herausforderung – für den:die ehemalige:n Straftäter:in, weil ihm:ihr eine Schuldanerkenntnis abverlangt wird; für die Gesellschaft, die von jeder Form von Gnadenlosigkeit Abstand nehmen muss.
Ihre biblischen Beispiele (Petrus und Judas) zeigen auf: Menschen machen sich schuldig, obwohl sie beste Absichten verfolgen. Die Schulderkenntnis ist bitter, aber gleichzeitig die Voraussetzung für einen Neuanfang. Allerdings verläuft dies alles nicht widerspruchsfrei und glatt – wie gerade das Beispiel Judas zeigt.
Sie schreiben zu Recht, dass Erklärung nicht mit Rechtfertigung verwechselt werden darf – dem stimme ich ausdrücklich zu. Vielleicht aber zeugt der Versuch der Erklärung von einer gewissen Demut des Bewertenden, der schließlich nicht wissen kann, wie er selbst in einem schwerwiegenden Dilemma entscheiden und dann handeln würde, insbesondere wenn die Folgen seiner Entscheidung nicht „akademisch“ sind, sondern ihn und sein Umfeld unmittelbar betreffen. Deshalb ist es ja richtig, wenn sie das Urteil gegen die Sekretärin als rechtsstaatlich begrüßen. Über sie aber zu schreiben „Denn die Täter waren nicht Opfer des Naziterrorsystems“ (ich lasse hier den Stasi-Mann bewusst aus, denn seine Berufsentscheidung, so muss man annehmen, war freiwillig) – über sie also so zu schreiben, erscheint mir als „einseitig“, denn es berücksichtigt eben nicht das ungeheure Dilemma dieser damals jungen Frau (die sicherlich keinen großen Entscheidungsspielraum hatte). Ich bestreite nicht, was Sie schreiben, aber ich mahne Demut an, weil niemand von uns wohl weiß, wie er in solchen Zwangslagen reagieren würde – es steht eben Gewissen gegen Angst und toll derjenige, der sich schon vorab zum Nawalny erklären kann.
Andreas Schwerdtfeger
„ich lasse hier den Stasi-Mann bewusst aus, denn seine Berufsentscheidung, so muss man annehmen, war freiwillig“
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Mit dem Eintritt in das MfS war keineswegs die allgemeine Bereitschaft verbunden zu morden. Dieser Stasi-Angehörige hat sich bereiterklärt vor aller Augen auf den Polen zu schießen. Da waren westdeutsche Jugendliche in Sichtweite, die hernach Probleme hatten, das Gesehene zu verarbeiten. Gegen das Urteil hat er Revision eingelegt.
Danke Christian- für diesen Kommentar. Mord verjährt nicht. Jedoch- kann auch in unserem Justizsystem Gnade und Milde gewährt werden. Allerdings nur, wenn von Seiten des Mörders und der Mörderin Einsicht in ihre Taten und Reue vorhanden sind.
Man wundert sich- ich wundere mich- über soviel Starrsinn . Nicht einmal ein wenig Alterseinsicht oder Altersweisheit sind bei beiden vorhanden.
Und daher wäre gewährte Gnade, Gnade die im Gießkannenprinzip gewährt wird.
Das wunderbare, zutiefst christliche Prinzip der Gnade würde so dem Ausverkauf, ja der Lächerlichkeit preisgegeben.
Gnade und Barmherzigkeit sind Grundpfeiler christlichen Selbstverständnisses. Darum geht es im NeuenTestament und in der Nachfolge Jesu immer wieder auf` Neue. Wie gut, dass Jesus geschwisterlich und voller Erbarmen demjenigen Menschen begegnet, der sein Tun aufrichtig überdenkt und bereut.
In der Nachfolge von Jesus Christus wollen wir gern die heute so altmodischen, ethischen Standarts wie Gnade und Barmherzigkeit auf`s neue in die Welt tragen und immer wieder deutlich machen, dass es jenseits von Gesetz und juristischer Gerechtigkeit menschliches Handeln gibt, das aus Gnade gewährt wird und aus christlicher Sichtweise geboten ist.
Allerdings- Gnade und Barmherzigkeit leben davon, dass sie zwischen Menschen gewährt werden. Sie leben davon, dass Reflexion und Einsehen vorhanden sind. Erst dadurch wird Gnade zu dem , was sie in Wirklichkeit ist: ein wunderbares, unerwartetes, ja unverdientes Geschenk.
Wer Gnade -nach dem Gießkannenprinzip ohne Reue und Schuldeingeständnis -gewährt , gibt Gnade der Lächerlichkeit preis.
Nur so sind die beiden Urteile der Gerichte, die vielen hart erscheinen mögen, zu verstehen.
Danke Christian für Deine Klarstellung.
Bedauerlich, dass die Staatsanwaltschaft den Mord im Jahr 2017 zunächst als Totschlag einstufte und das Verfahren wegen Verjährung einstellte. Nur beharrliche Nachforschungen Polens und die Erwirkung eines europäischen Haftbefehls führte im vergangenen Jahr dazu, dass die Staatsanwaltschaft Berlin erneut Anklage gegen den Stasi-Schergen erhob. Absurd die Argumentation der Strafverteidigerin, das Opfer habe angesichts seiner zuvor inszenierten Bombendrohung nicht arglos sein können, und somit sei das Mordmerkmal der Heimtücke nicht erfüllt und es handele sich um Totschlag. Nach dem Einigungsvertrag kommt bei Straftaten in der DDR das mildeste Recht zur Anwendung. In der DDR betrug die Mindeststrafe für Mord 10 Jahre, und so hat das Gericht auch ausgeurteilt. Nach bundesdeutschem Recht wäre zwingend eine lebenslange Freiheitsstrafe auszusprechen gewesen.
„Es sei ihren Mandanten nie um eine bestimmte Strafe oder Rache gegangen, betonten die Anwälte der drei Kinder – eine Tochter und zwei Söhne – sowie einer Schwester des getöteten Polen. „Man wollte einfach nur ein Urteil“, so Anwalt Rajmund Niwinski. Die Nebenkläger seien dem Gericht, dem deutschen Staat dankbar, dass es dieses Verfahren gab.“
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Danke für diese scharfsinnige Klarstellung.