Egon Bahr (1922-2015), engster Mitarbeiter von Willy Brandt (1913-1992), konnte ihn damals nicht sehen, den Kniefall von Warschau vor 50 Jahren.

In seinen Erinnerungen (Egon Bahr, „Das musst du erzählen“. Erinnerungen an Willy Brandt, Berlin 2013) notiert er: „… vor uns eine Wand von Journalisten, als es plötzlich still wurde. Auf die Frage, was denn los sei, zischte einer: ‚Er kniet.‘“ (Seite 105) Dieser 7. Dezember 1970 ist mir noch in lebhafter Erinnerung. Gerade 21 Jahre alt, voller Euphorie der SPD beigetreten, an der Universität Heidelberg studierend und engagiert in der Studentenbewegung verspürte ich, als ich am Abend des 7. Dezembers die Bilder im Fernsehen sah, einen stillen, innigen Stolz: Dieser Willy Brandt, endlich Bundeskanzler, endlich einer, der nicht in die Naziherrschaft verstrickt war und mit dem ich mich identifizieren konnte, hat sich stellvertretend für Deutschland zur unermesslichen Schuld seines Volkes bekannt. Er ist vor dem Warschauer Mahnmal für die Opfer des Warschauer Ghettos in die Knie gegangen und verharrte einige Momente in dieser Pose. Damit hat Willy Brandt nicht nur den Weg bereitet für die Aussöhnung mit dem polnischen Volk (damals war es der erste Besuch eines Bundeskanzlers in Polen nach 1945). Er hat mit seiner Geste den mühevollen Weg zur europäischen Einigung geebnet. Brandt hat dies in einer Weise getan, die in dem Moment des Kniefalls keinen hämischen Zwischenruf, keine Beifallskundgebung, keinen einschränkenden, relativierenden Nebensatz zuließ und sich abseits aller protokollarischen Üblichkeiten bewegte. Er selbst sagte:
Der Kniefall von Warschau, den man in der ganzen Welt zur Kenntnis nahm, war nicht geplant. Unter der Last der jüngsten Geschichte tat ich, was Menschen tun, wenn die Worte versagen; so gedachte ich der Millionen Ermordeter. (Willy Brandt, Begegnungen und Einsichten. Die Jahre 1960-1975, Hamburg 1976, S. 525)
Mit Recht wird dieser Kniefall als Jahrhundertereignis gewertet. Denn Brandt hat (nicht nur hier) glaubwürdig miteinander verbunden, was leider viel zu oft auseinanderfällt: Politik und Moral. Historische Entwicklungen zu mehr Frieden, zu mehr Menschenwürde, zu mehr Demokratie können nur aus dieser Verbindung erwachsen.
Das Ganze geschah in der Anfangszeit der aus SPD und FDP bestehenden sozialliberalen Koalition. Sie war gerade ein Jahr im Amt, verfügte nur über eine knappe Mehrheit im Bundestag und sah sich einem Trommelfeuer der politischen Rechten und konservativer Medien vor allem der Springer-Presse ausgesetzt. Brandt war für viele ein Vaterlandsverräter, fünftes Rad am Wagen der Sowjetunion, „Willy Brandt an die Wand“ war ein Slogan der Rechtsextremisten. Aber Willy Brandt und sein engster Mitarbeiter Egon Bahr hatten ein Gespür dafür, dass 25 Jahre nach der Befreiung vom Faschismus die Zeit reif war für die neue Ostpolitik, für eine – damals heiß umstrittene – Anerkennung der sog. Oder-Neiße-Linie, also der nach 1945 Polen überlassenen Gebiete des „Deutschen Reiches“. Dennoch war die Bevölkerung in Westdeutschland, heute würde man sagen: tief gespalten. Laut einer im SPIEGEL im Dezember 1970 veröffentlichten Allensbach-Umfrage hielten 41 % der Bevölkerung den Kniefall für angemessen, 48 % meinten, diese Geste sei übertrieben. Der damalige Chefredakteur der BILD-Zeitung und spätere Regierungssprecher unter Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) Peter Boenisch kommentierte den Kniefall Brandts in der BILD am Sonntag am 13. Dezember 1970: „Dieses katholische Volk weiß, dass man nur vor Gott kniet. Und da kommt ein vermutlich aus der Kirche ausgetretener Sozialist aus dem Westen und beugt die Knie. Das rührt das Volk. Aber rührt es auch die Opfer des Stalinismus?“ Abgesehen von der BILD eigenen Perfidie dieses Kommentars – offensichtlich ahnte auch ein Boenisch, dass Brandt mit seiner eindringlichen Geste die Deutschen in West und Ost tief berührt, ergriffen hat und – wie sich später zeigte – mit seiner Aussöhnungspolitik überzeugen konnte, aller Propaganda der BILD-Zeitung zum Trotz.
In einer Zeit, in der wieder die Relativierer der deutschen Schuld unterwegs sind und die politische Rechte vom „Kriegsschuldkult“ sprechen, ist es wichtig, dass wir an dieses Ereignis vor 50 Jahren erinnern: nicht um einer historischen Reminiszenz willen; vielmehr ist dieser Kniefall eine bleibende Mahnung zu einer dauerhaften Friedenspolitik, zum unbedingten Verzicht auf kriegerische Gewalt, zur europäischen Einigung. Der Schriftsteller Navid Kermani sagte in seiner großen Rede zum 65. Jubiläum des Grundgesetzes am 23. Mai 2014 im Deutschen Bundestag:
Denn wann und wodurch hat Deutschland, das für seinen Militarismus schon im 19. Jahrhundert beargwöhnte und mit der Ermordung von 6 Millionen Juden vollständig entehrt scheinende Deutschland, wann und wodurch hat es seine Würde wiedergefunden? Wenn ich einen einzelnen Tag, ein einzelnes Ereignis, eine einzige Geste benennen wollte, für die in der deutschen Nachkriegsgeschichte das Wort ‚Würde‘ angezeigt scheint, dann war es … der Kniefall von Warschau. (https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2014/280688-280688)
Es sollte nicht nur für die Sozialdemokratie täglicher Ansporn sein, in diesem Geist auch heute die Außen- und Friedenspolitik zu gestalten und den Zusammenhang von Politik und Moral nie aus den Augen zu verlieren.
20 Antworten
Herr Schwerdtfeger, die einen begreifen es und die anderen eben nicht. Und, mit Schaum vorm Mund lässt sich schlecht debattieren. Man könnte es mit dieser Feststellung bewenden lassen. So einfach will ich es mir aber nicht machen. Deshalb versuche ich es hiermit noch einmal.
Ich denke, keinen Zweifel daran gelassen zu haben, dass es Politiker gibt, die sich in ihrem Handeln überwiegend von moralischen Grundsätzen leiten lassen. Willy Brandt gehörte dazu. Das ist die eine Seite der Ambivalenz. Mein Anliegen war es, auf die problematischen Seiten einer Moralisierung von Politik hinzuweisen.
Sie präsentieren mit großem Eifer eine lange Liste tatsächlicher oder eher vermeintlicher chinesischer Missetaten (und russischer Demokratiedefizite). Ich will darauf gar nicht weiter eingehen, obwohl die Versuchung groß ist. Es ist heute nicht mein Punkt. Um ein wie vieles länger und gravierender wäre eine solche Liste, geschrieben zu Zeiten kommunistischer Gewaltherrschaft in der damaligen UdSSR und in China? Die Gesellschaften in der damaligen Sowjetunion aber auch in China waren um Größenordnungen diktatorischer als sie es heute sind. Und trotzdem kam es zu einem respektvollen Miteinander, das über Jahre den Frieden in Europa gesichert hatte. Deswegen mein Verweis auf den Jahrestag der Unterzeichnung des Moskauer Abkommens vor 50 Jahren. Gewiss gab es damals schon Leute, die liebend gern zu einem Kreuzzug gegen Bolschewismus, gegen das „Reich des Bösen“ und für Menschenrechte aufgebrochen wären. Die Machtverhältnisse gaben es nicht her. Ich wollte meine Sorge nachvollziehbar machen, dass möglicherweise bei manchen Zeitgenossen die Hoffnung gewachsen ist, unter den heute veränderten Bedingungen und in der Überschätzung eigener Stärke vielleicht doch mittels Subversion oder Gewalt die Welt nach eigenem (selbstverständlich moralisch determiniertem) Gusto ordnen zu können. Was werden die Abenteurer unserer Tage (z. B. Stefan Meister, „Das Ende der Ostpolitik“, https://dgap.org/de/forschung/publikationen/das-ende-der-ostpolitik) erreichen? Unter äußerem Druck werden autokratische Gesellschaften eher illiberaler. In Russland ist diese Entwicklung deutlich zu beobachten. Repressionen in China haben sicherlich auch damit zu tun, dass die KPCh ihre Lehren aus der Inszenierung und dem Verlauf diverser Farbenrevolutionen gezogen hat. Einfach wird es mit einem Regime-Change in Russland und China nicht werden. Und sollte es doch passieren, dass unter dem Banner von Humanität und Menschenrechten militärische Konflikte vom Zaun gebrochen werden, wird das ganze Regionen in den Abgrund stürzen. Hillary Clinton war mit der Propagierung von Flugverbotszonen in Syrien nicht weit davon entfernt.
Deswegen, und da wiederhole ich mich, ist meiner Meinung nach eine glaubhafte Berücksichtigung der Bedrohungswahrnehmungen der gegnerischen Seite bei aller Kritik an den Zuständen in deren Län-dern unabdingbar, will man nicht verheerende Schäden in der Welt riskieren. So meine Lehren aus der Brandt’schen Ostpolitik, deren Prinzipien, so wird es immer deutlicher, offenbar auch heute noch ihre Aktualität nicht eingebüßt haben.
PS: In Zeiten hybrider Kriege sind die Anforderungen an Rüstungskontrolle und vertrauensbildende Maßnahmen besonders kompliziert. Es gibt sie aber schon die Leute, die ohne ideologischem Brett vorm Kopf agieren und sehr wohl in der Lage sind, die Sicherheitsbedürfnisse aller Parteien, also auch z. B. die Chinas, sachlich und fair zu adressieren. Ein gutes Beispiel dafür ist die „Körber Strategic Stability Initiative“ der Körber-Stiftung im Verein mit der Universität Hamburg (Liana Fix und Ulrich Kühn, „Strategische Stabilität im 21. Jahrhundert“, http://www.laender-analysen.de/russland-analysen/393/strategische-stabilitaet-im-21-jahrhundert/). Interessant auch ein Beitrag von Alexander Graef („Konventionelle Rüstungskontrolle und militärische Vertrauensbildung mit Russland“, http://www.laender-analysen.de/russland-analysen/393/ruestungskontrolle-mit-russland/), der die Möglichkeiten von vertrauensbildenden Maßnahmen in politisch schwierigen Zeiten aufzeigt. Also, ehe man hier desorientiert und mit obskuren Thesen hausieren geht, sollte man sich erst einmal tiefgründiger mit der Materie befassen. Was ist meine Kritik. Ich kritisiere, dass in der offiziellen Debatte das Thema Abrüstung kaum noch vorkommt. Für diese Tendenz steht die unsägliche und von mir kritisierte AKK-Rede. Es geht nur noch um Rüstung, Rüstung und nochmals Rüstung. Besonders grotesk die Idee, eine Fregatte der Bundesmarine in südchinesische Gewässer zu beordern, um „Flagge zu zeigen“. Wilhelm Zwo lässt grüßen.
Es ist bemerkenswert, Herr Lerchner, wie Sie jedem Argument ausweichen und stattdessen „Schaum vor dem Mund“ unterstellen, wo man Ihnen dies zu Recht vorhält. Sie kritisieren also, daß das Thema „Abrüstung“ kaum noch vorkommt – toll! Ich habe ja genau darauf hingewiesen, daß dies im Falle China von dort abgelehnt wird; im Fall von Rußland sieht es insofern anders aus, als Putin eben augenblicks überall dort in politische Vakuen vorstößt, wo der Westen Positionen oder Interesse aufgibt: Ukraine, Weißrußland, Syrien, Afghanistan, Libyen – die Liste liesse sich fortsetzen. Dieses Arument müssten Sie zumindest inhaltlich zurückweisen können durch konkrete Politikvorschläge – stattdessen bleiben Sie im Schaum von wohlklingenden Floskeln stecken. Und Ihr strategischer Überblick scheint auch unter Ihrer Ideologie zu leiden (ganz abgesehen von unhistorischen Vergleichen): Internationale Solidarität und gemeinschaftliches sicherheitspolitisches Handeln von Alliierten und Freunden als „Geben und Nehmen“ in der gemeinsamen Verteidigung wichtiger Ziele in einer globalisierten Welt (wie zB Handelsinteressen, Verteidigung von Menchenrechten, Verhinderunge von Vakuen, etc) ist das genaue Gegenteil von Willy Zwo. Aber wer nicht global denkt, wer nicht realpolitisch die Lage beurteilt, der kann sich eben immer nur in ideologische Wolken retten. Mein Argument jedenfalls, daß „Moral in der Politik“ durch konkrete Verträge mit Rechtssicherheit, Verifikation und Multilaterismus am besten bedient wird, haben Sie (noch) nicht widerlegt – und auch nicht, daß China dies bisher verweigert. Auch Ihr „Argument“, es ginge nur um „Rüstung, Rüstung, Rüstung“ ist ja nicht wirklich überzeugend: Wir leben in einer Welt, in der sich alles verändert, weiter entwickelt wird, neu erfunden wird. Da ist es logisch, daß dies auch auf dem Sektor der Verteidigung geschehen muß. Nach Ihrer These würde der Westen also dem mit Raketen gerüsteten Gegner noch mit Pfeil und Bogen gegenüberstehen – ganz überzeugend!
Andreas Schwerdtfeger
Es diene der Offizier und es predige der Priester.
Keinem der Beiden sollte man die Möglichkeit zur olitischen Debatte geben!
Wer mit denen politisch diskutiert, will es nicht besser
OK, dann mache ich es konkreter. Vielleicht werde ich damit verständlicher. Springender Punkt ist für mich, dass es keinen vernünftigen Weg bei der Befriedung der internationalen Beziehungen gibt, außer dem, die Bedrohungswahrnehmungen aller Parteien im globalen Spiel hinreichend zu berücksichtigen. Ich versuche, das ausführlicher zu erläutern. Gemäß klassischer Definition resultiert strategische Stabilität aus dem „Gleichgewicht des Schreckens“. Damit impliziert ist die für alle Seiten zugesicherte Fähigkeit, im Falle eines gegnerischen Kernwaffenüberfalls einen nuklearen Zweitschlag durchzuführen. Früher stellten sich die Verhältnisse recht übersichtlich dar, man brauchte nur die Interkontinentalraketen und Mehrfachsprengköpfe der Amerikaner und Sowjets abzuzählen (britische und französische fielen unter den Tisch), in START I (1990) wurde das codifiziert. Um die Zweitschlagfähigkeit zu gewährleisten, erfolgte eine Beschränkung der Raketenabwehrsysteme (ABM-Vertrag).
ABM wurde 2002 einseitig von den Amerikanern gekündigt, ein Raketenabwehrsystem gegen den Protest der Russen in Osteuropa stationiert und das im Mittelmeerraum aktive Aegis-System geschaffen. Auf russischer Seite gibt es neuerdings den Hyperschall-Gleitflugkörper „Awangard“ und die neue Interkontinentalrakete „Sarmat“ sowie als substrategische Waffen den Marschflugkörper „Burewestnik“, das Langstreckentorpedo „Poseidon“ und das Kinshal-Raketensystem, alles begründet mit einer zunehmenden Bedrohungswahrnehmung infolge neuer US-Raketenschirme (Prompt Global Strike Systeme) und amerikanischer konventioneller Aufrüstung. Und damit der Gefährdung der russischen Zweitschlagkapazität. Wie man lesen kann, ist Russland an einem Dialog über nicht-nukleare strategische Waffensysteme interessiert und betrachtet die genannten Systeme als Faustpfand in entsprechenden Rüstungskontrollverhandlungen. Noch schwieriger wird es mit Blick auf nukleare Gefechtsfeldwaffen. Obwohl von westlichen Beobachtern bestritten, unterstellen die Amerikaner den Russen in ihrer Militärdoktrin einen „escalate to de-escalate“-Ansatz, also durch Einsatz kleiner Nuklearsprengköpfe eine Eskalationsdominanz in regionalen Konflikten mit der NATO erzwingen zu wollen. Letzterem soll gemäß US Nuclear Posture Review 2018 durch Entwicklung sogenannter Mininukes begegnet werden. Einseitige Schuldzuweisungen in Sachen Aufrüstung bzw. Abrüstungsverweigerung sind also ganz sicher fehl am Platz.
Das trifft in besonderer Weise auch auf China zu. Es ist richtig, die Welt hat sich geändert, die Anzahl der maßgeblicher Akteure ist erheblich größer geworden und es gibt eine zunehmende Asymmetrie in der Bewaffnung (größere Nuklearwaffenarsenale auf Seiten der USA und Russlands; Vorteile bei konventionellen bodengestützten Raketen Chinas). Die USA haben INF sicherlich nicht nur wegen neuer russischer Mittestreckenraketen gekündigt, sondern auch mit der Absicht, freie Hand für eine Neutralisierung des chinesischen Mittelstreckenraketenpotentials zu erhalten. Aus amerikanischer Sicht stellen die konventionellen regionalen Fähigkeiten Chinas eine Bedrohung deren Allianzverpflichtungen in Ostasien dar. Andererseits reklamiert aber auch China gegenüber den USA die Akzeptanz des Prinzips der wechselseitigen nuklearen Verwundbarkeit. Deshalb wird wohl mit Recht die Entwicklung und Stationierung amerikanischer Raketenabwehrsysteme als Bedrohung wahrgenommen (THAAD-Raketensystem, stationiert in Südkorea und Japan). Um das chinesische Raketenarsenal wegverhandeln zu können, wird es umfangreicher vertrauensbildender Maßnahmen bedürfen. Und wie will man den Chinesen einreden, dass die 30 0000 Mann United States Forces Korea und regelmäßige amerikanisch-indische Marineübungen zur Blockade der Straße von Malakka (Transfer von 75% der chinesischen Ölimporte) niemals gegen China gerichtet sein werden? Das Trauma der Küstenblockade Chinas durch die USA während des Korea-Krieges ist nicht vergessen. Dass die Chinesen unsinkbare Flugzeugträger als Gegengewicht zur 6. Flotte (und zukünftig auch reaktivierten 1. Flotte) der US-Marine in umstrittenen Gewässern des Südchinesischen Meeres errichten, ist andererseits völkerrechtlich fragwürdig.
Ich will mir selbstverständlich nicht anmaßen, konkrete Lösungsvorschläge für die vorhandenen, konkreten Interessenkonflikte zu haben. Ich denke jedoch, dass es hinreichend Gründe gibt, die Positionen aller Seiten gebührend zu würdigen. Und besonders wichtig erscheint mir dabei, dass das Streben nach strategischer Unverwundbarkeit nicht auf Kosten anderer Akteure verfolgt werden darf.
Noch ein letztes Wort, auch wenn mein Beitrag bereits etwas länglich geworden ist: Sie sagen, „dass ‚Moral in der Politik‘ durch konkrete Verträge mit Rechtssicherheit, Verifikation und Multilateralismus am besten bedient wird“. Wenn ich diesen Satz konstruktiv interpretiere, kann ich so große Differenzen zwischen uns nicht erkennen. Ja, es ist auch meine Meinung, dass es letztendlich auf faire, interessenausgewogene Verträge und Vereinbarungen ankommt.
Man kann nur erstaunt sein: Herr Wolff beschreibt den Kniefall von Warschau als glaubwürdige Verbindung von Politik und Moral, aus der einzig mehr Friede, mehr Menschenwürde, mehr Demokratie entstehen könne. Herr Lerchner nutzt diese „Vorlage“ zu einer Apologie Chinas und Rußlands und formuliert als – ich nehme mal an – strategisches Ziel den „Abbau von Misstrauen und ein Ende der Pathologisierung des Gegners“. Nichts eiligeres hat Herr Wolff dann zu tun, als sich für diesen Beitrag zu bedanken.
Nun ist Rußland nicht gerade ein Beispiel für Menschenwürde und Menschenrecht und sein Präsident vielleicht doch nicht so ganz „lupenreiner Demokrat“. Im Falle Chinas steht fest, daß es sich um ein menschenrechtsverachtendes Regime nach innen und ein politisch-diplomatisch recht rücksichtsloses System nach außen handelt. China hat schon seit längerem die kleineren Länder in seinem Süden fest unter Kontrolle und drangsaliert sie nach Belieben mit seinen völlig absurden Ansprüchen im südchinesischen Meer; China betreibt in Afrika eine Kolonialpolitik, die ihresgleichen (auch in der Geschichte) sucht; China beherrscht über die Shanghai-Organisation den zentralasiatischen Raum (und bis zu einem gewissen Grade auch Rußland) und stützt dort recht unappetitliche Regime; China schließlich manipuliert die Vereinten Nationen in seinem Sinne und sorgt zB dafür, daß deren Menschenrechtsausschuß eine Karikatur seiner selbst ist. Sind das alles die Ideale des Brandt’schen Kniefalls?
China greift derzeit – nicht etwa nur nach meiner Meinung sondern nach internationalem Konsensus – die Demokratien insbesondere auf drei Wegen erfolgreich an:
– wirtschaftlich dadurch, daß es immer mehr Staaten in eine erhebliche Abhängigleit treibt und dabei deren Naivität, Gier und Uneinigkeit ausnutzt (die BRI ist hierfür nur ein Beispiel) und dadurch, daß es sich zunehmend in deren Know-how einkauft und dadurch gleichzeitig auf legalen und illegalen Wegen enormes, auch nachrichtendienstliches Wissen aquiriert (Huawei ist dafür auch nur ein Beispiel).
– psychologisch-mentalitätsmäßig und durch Medien- und Universitäts-/Stiftungs-Einflüsse, indem es zunehmend eindringt in westliche Wissenschafts- und Forschungskreise und diese zumindest teilweise unter seinen Einfluss / seine Kontrolle bringt (man kann das alles in dem Buch „Hidden Hand“ von Hamilton/Ohlberg nachlesen).
– politisch-militärisch durch stetige Aufrüstung und durch die Bereitschaft zum Einsatz seiner Streitkräfte (derzeit insbesondere der Marine) zur Einschüchterung aller Staaten im westlichen und südlichen Pazifik sowie zunehmend im Indik.
Dies alles sind nachweisbare Fakten, die also nichts mit „Pathologisierung“ zu tun haben. Was nun das strategische Ziel des Abbaus von Mißtrauen angeht, so ist dieses richtig. Lerchner versäumt aber, diese Ziel nun in seiner Argumentation in konkrete Politikvorschläge umzusetzen – man muß unterstellen, daß es ihm nur auf das Schlagwort ankommt und er keine Vorstellung von einer realpolitischen Umsetzung hat. Diese aber ist offensichtlich: Abbau von Mißtrauen in der internationalen Politik erfolgt über ausgewogene, beiderseitig vorteilhafte Verträge, die durch klare Rechtsbestimmungen und -vereinbarungen sowie – im sicherheitspolitischen Bereich – durch detaillierte Verifikationsregime ergänzt und untermauert sind und möglichst des Multilateralismus bedürfen. Verifikation und Rechtssicherheit sind die Schlüssel zum Abbau von Mißtrauen. Beides verweigert China sei Jahren und das Mißtrauen, wenn es denn besteht, geht also von dort aus. Man hätte diese simple Schlußfolgerung von Lerchner erwarten dürfen; man hätte diesen Hinweis auf praktische Umsetzung eines Schlagwortes in Realpolitik von Wolff erwarten dürfen – stattdessen wie immer Schweben im Raum. Und dies in ihren Kernanliegen: Friede, Würde, Recht. Wie ich schon schrieb: Moral muß, um diese hehren Ziele zu verfolgen, in praktische, realisierbare Politik, also in konkrete Verträge umgesetzt werden, sonst führt sie in ihr Gegenteil, wie uns Lerchner aufzeigt: ein paar Schlagworte, kein Konzept, ein bißchen eigene Schuldübernahme als Appeasement und auf diese Weise die stetige Vertiefung des Problems. Aber das kommt davon, wenn man „Entspannungspolitik und vertrauensbildende Maßnahmen“ nur als Einknicken, Zweideutigkeiten und Angst definiert. Die beste Entspannung sind rechtliche Verbindlichkeit, multilaterale Einbindung und Verifikation – China verweigert alle drei (und weiß dabei, daß es sich auf die Lerchners in der westlichen Welt verlassen kann).
Und auch wenn Lerchner AKKs Vortrag nicht mochte: Der Namensgeber der Universität hätte ihn begrüßt – und das scheint wichtiger.
Ich wünsche eine frohe Weihnacht, die ja in diesem Jahr etwas einsamer ausfallen wird und somit dem Wort „besinnlich“ wichtige Wendung gibt: Man könnte mal nachdenken.
Mit herzlichem Gruß,
Andreas Schwerdtfeger
Ja, auch heutzutage gibt es immer noch einige, die am Ansehen des Politikers Willy Brandt kratzen möchten. So hat dieser Tage der ebenfalls bedeutende und bekannte Michael Wolffsohn, vormals Professor für Neuere Geschichte an der Universität der Bundeswehr München, in der Neuen Züricher Zeitung vom 05.12.2020 (https://www.nzz.ch/feuilleton/es-bleibt-die-frage-nach-brandts-handlungsspielraum-ld.1589931) aus Anlass des Warschauer Kniefalls eine Verbindung zwischen der Brandt‘schen Ostpolitik und angeblich damals aufkommender bundesdeutscher Distanzierung von Israel herzustellen versucht. „Auf dem Altar der <> von Willy Brandt wurden die traditionell projüdische Staatsräson der Bundesrepublik Deutschland sowie, daraus abgeleitet, die proisraelische Nahostpolitik geopfert“ schreibt er. Von der Unterstellung strukturellen Antisemitismus‘, wie man heute sagt, ist das nicht weit entfernt.
Nur, Herr Lerchner, daß die Aussagen von Wolffsohn in dem Artikel inhaltlich allesamt richtig und nachweisbar sind und natürlich daß nach Wolff’scher Interpretation Jordanien ja nach dem 6-Tage-Krieg die Westbank und Jerusalem den Israelis „überlassen“ hat. Wenn man bei Trump überhaupt etwas Positives finden kann, dann ist es seine Israel-Politik: Endlich die Aufgabe des längst vollständig toten „Zwei-Staaten-Prinzips“ zugunsten Israels und die Anerkennung der Tatsache, daß die Palästinenser über viele Jahrzehnte die Chance zum Frieden zu – fast vollständig (Ausnahme Jerusalem) – ihren Bedingungen hatten, aber in völliger Fehleinschätzung ihrer arabischen „Brüder“ den Terrorismus bevorzugten. Es ist bemerkenswert, daß die territorialen Ergebnisse des 2. Weltkrieges (bezogen auf Deutschland) so demütig hin- und als richtig angenommen werden, die territorialen Ergebnisse des 6-Tage-Krieges aber angebliches Unrecht sein sollen. Es wird im Nahen Osten erst Frieden einkehren, wenn der Westen endlich die Chimäre „2-Staaten“ aufgibt.
Andreas Schwerdtfeger
Vielen Dank, lieber Herr Plätzsch! Ich muss gestehen, das Görlitzer Abkommen und Georg Dertinger bislang nicht gekannt zu haben – ja, es ist wohl mal wieder der klassische Fall einer westlichen Sicht der Nachkriegsgeschichte.
Sie, ebenso wie Frank Richter, haben sicherlich Recht, dass der Kniefall Brandts, so bewegend und bedeutend er 1970 auch war, zusammen mit dem Görlitzer Abkommen von 1950 gesehen und bewertet werden sollte. Die Geschichte des wiedervereinigten Deutschlands bedarf wohl nicht nur in dieser Frage noch einiger Korrekturen/Ergänzungen.
Niemand will und sollte den Bewunderern Brandts ihr Idol nehmen, lieber Herr Wolff, und daß Sie zu ihnen gehören, ist ja bekannt. Aber das darf aus historischer Sicht natürlich nicht die Realitäten zuschütten.
Brandt war, erstens, kein Widerstandskämpfer. Er verließ das Land rechtzeitig, kam einmal kurz zurück und blieb dann für die Dauer der Diktatur im Ausland. Das ist keine Kritik an seinem Verhalten, aber es schließt aus, daß man ihn ernsthaft als Widerstandskämpfer bezeichnen könnte. Es käme ja auch niemand auf die Idee, Thomas Mann oder Lion Feuchtwanger zum Widerstand zu zählen.
Brandt war, zweitens, ein hochemotionaler Mensch – der Kniefall ist dafür Ausdruck und durchaus beeindruckend. Er war getrieben von seinen beiden antipodischen innerparteilichen Rivalen: Wehner, der ihn wo es ging demontierte und gegen den er sich aus seinem Wesen heraus nicht wehren konnte; Schmidt, dessen Ehrgeiz und Realpolitik ihn immer wieder auf den Boden zurück holten und überflügelten. Er war politisch abhängig von seinem Alter Ego Bahr, dem Spiritus Rektor seiner Politik, und von persönlichen Freundschaften, wie sie zB ihn an Guillaume band.
Brandt war, drittens, ein Mensch der Widersprüche: „Mehr Demokratie wagen“ und „Extremistenbeschluß“ (sog. Radikalenerlaß); festes Abstützen auf die Rückversicherung der NATO-Abschreckung (hinter den Kulissen) bei gleichzeitiger „Absetzung“ von dieser Versicherung in seiner öffentlich gezeigten Sympathie für deren Gegner; Politik der Versöhnung mit den östlichen Nachbarstaaten (Polen, UdSSR) bei gleichzeitiger Verwischung der Diktatur auf eigenem Boden in der „DDR“.
Der Kniefall fand statt am Denkmal für das Ghetto – für den Aufstand der eingepferchten jüdischen Bevölkerung Warschaus gegen die Nazi-Mordpolitik 1943; das Denkmal für den Aufstand der Polen gegen die Nazi-Besatzung ein gutes Jahr später (1944) wurde erst 1989 errichtet. Brandt hatte vorher einen Kranz am Denkmal für den Unbekannten Soldaten nach üblichem diplomatischen Protokoll niedergelegt. Der Kniefall war insofern Ausdruck der deutschen Bitte um Vergebung für die Shoah (siehe auch Ihr Zitat von Kermani).
Historisch falsch ist Ihre Formulierung: „ … also der nach 1945 Polen überlassenen Gebiete des ‚Deutschen Reiches’“. Die Anführungsstriche sind überflüssig – der Staat hieß Deutsches Reich – und die Gebiete wurden nicht „überlassen“, was eine gewisse Freiwilligkeit andeutet, sondern sie waren Teil einer vom Sieger festgelegten Ordnung, die im übrigen auch Polen „verletzte“, denn dieser Staat verlor ja seine Ostgebiete und erhielt Schlesien als Ersatz, was eine erhebliche Binnenvertreibung in Polen auslöste. Man konnte (und mußte) diese territoriale Neuordnung akzeptieren oder gar befürworten, aber es war für beide Staaten keine freiwillige Entscheidung.
Die Verbindung von Politik und Moral, die Sie hier betonen, Herr Wolff, ist wohl eine nachvollziehbare Forderung. Das Problem, das Sie allerdings ignorieren, ist, daß Moral kein Begriff ist, der das Machbare ausgrenzen darf (hier kommt das Bahr-Zitat ins Gespräch, daß Herr Lerchner in seinem ansonsten etwas verwirrten Beitrag bringt). Wer Moral in der Politik allerdings zum absoluten, einzigen und „heiligen“ Maßstab macht und vor allem nur seine eigene Interpretation dieses Begriffes akzeptiert, der versündigt sich in doppelter Beziehung: Er macht Politik unmöglich und bewirkt damit das Gegenteil dessen, was er anstrebt. Jean-Claude Juncker hat es – verkürzt und pointiert – auf die richtige Formel gebracht: Wenn ich nur mit Demokraten sprechen würde, wäre meine Arbeitswoche am Dienstag mittag beendet.
Ich grüße Sie,
Andreas Schwerdtfeger
@Andreas Schwerdtfeger, Brandt verband keineswegs eine „persönliche Freundschaft“ (was wäre eine unpersönliche?) mit Guillaume. Er schätzte lediglich sein Organisationsvermögen – wie heißt es immer so schön: er soll Brandt „Frauen zugeführt haben“ – verachtete jedoch den servilen Spießer.
Ergänzend hier der Link zum Interview Frank Richters:
https://f-richter.net/news/die-deutsch-polnische-versoehnung-begann-nicht-erst-1970/
Der Theologe, ehemalige DDR-Bürgerrechtler und jetzige sächsische Landtagsabgeordnete Frank Richter kritisierte heute im Deutschlandfunk die rein westdeutsche Sicht der Medien, die über die Verträge der Bundesrepublik mit Polen berichtet haben. Schon im Jahr 1950 unterzeichneten die Außenminister Polens und der DDR den Vertrag über die Oder Neiße-Grenze. Der Ost-CDU-Politiker Georg Dertinger wurde im Jahr 1953 verhaftet und in einem Geheimprozess zu 15 Jahren Zuchthaus verurteilt.
https://de.wikipedia.org/wiki/Georg_Dertinger#Abgeordneter_und_Minister
Ich war damals erst 16 Jahre alt, hatte aber mehr durch Elternhaus als durch die Schule eine Ahnung der Geschichte, und den Grund des Kniefalls von Herrn Willy Brandt. Ich nannte ihn in meiner fast noch kindlichen Art seit dem Kniefall, der mich beindruckte als ich ihn im TV sah (das ging ja um die Welt), und auch das Gesicht meiner deutschen Mutter, die sich eine Träne aus dem Gesicht wischte, dann nur noch „Herr Deutschland“. Ich glaube, das war er selbst auch in jenem Moment. Er kniete dort nicht als ein Mann/Bürgers mit dem Namen Willy Brandt, nicht nur als Bundeskanzler, sondern als „Herr Deutschland“.
Lieber Herr Wolff,
Ihre Würdigung des Kniefalls von Warschau vor 50 Jahren finde ich wirklich gut. Insbesondere dessen emotionale Wirkung kann sicherlich nicht hoch genug eingeschätzt werden. Es ist sehr glaubhaft, dass die spontane Reaktion Willy Brandts am Mahnmal für die Opfer des Warschauer Ghettos einer tiefen moralischen Grundhaltung dieser Politikerpersönlichkeit entsprach. Der Ruf nach einer Verbindung von Politik und Moral ist aber ambivalent. Die These, dass „Entwicklungen zu mehr Frieden … nur aus dieser Verbindung erwachsen (können)“, bedarf der Diskussion.
Im gleichen Jahr 1970 wurde mit der Unterzeichnung des Moskauer Vertrags durch Willy Brandt und dem sowjetischen Ministerpräsidenten Alexej Kosygin wahrscheinlich der bedeutendste Meilenstein Brandt-Bahrscher Ostpolitik gesetzt. Die mit dem Vertrag umgesetzte Erkenntnis, dass vom Militär nicht alle Sicherheit ausgeht, dass Rüstung nicht der Gradmesser von Glaubwürdigkeit und Durchsetzungskraft ist und dass militärische Überlegenheit kein Königsweg zur Zähmung von Konkurrenten und Feinden ist, sondern es auf Abbau von Misstrauen und ein Ende der Pathologisierung des Gegners ankommt, war etwas fundamental Neues (Brandts Vermächtnis | Blätter für deutsche und internationale Politik (blaetter.de)). Der Vertrag kam zustande, obwohl beide Seiten die politischen Systeme der Gegenseite grundlegend ablehnten und geradezu verabscheuten. Immerhin hatte die Sowjetunion zwei Jahre zuvor den Prager Frühling mit Panzern niedergewalzt. Hatte hier Vernunft über Moral gesiegt?
Vom Abbau von Misstrauen gegenüber den geopolitischen Kontrahenten ist heutzutage nichts mehr zu hören. So wird in der wahrlich peinlichen Rede der Bundesverteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer an der Helmut-Schmidt-Universität der Bundeswehr vom 17. November 2020 (Zweite Grundsatzrede von Verteidigungsministerin AKK (bmvg.de)) kein Wort über Entspannungspolitik oder vertrauensbildende Maßnahmen verloren, sondern ausschließlich darüber referiert, wie Deutschland seine Rüstungsanstrengungen wesentlich erhöhen kann. Die angebliche Bedrohungslage, mit der diese begründet werden, ist mit gesundem Menschenverstand nicht nachvollziehbar. Woher kann man die Gewissheit nehmen, dass der Versuch, die nach dem Ende des kalten Krieges hergestellte fundamentale militärische Überlegen des demokratischen Westens mit allen Mitteln aufrecht zu erhalten (was natürlich mit der These von einer Überrüstung Russlands und Chinas vernebelt wird), nicht wieder wie z. B. seinerzeit in Jugoslawien dazu benutzt wird, um unter dem Deckmantel einer höheren Moral in anderen Ländern gewaltsam zu intervenieren? Besteht nicht die Gefahr, dass eines Tages ein militärischer Konflikt mit China provoziert wird, um Demokratie und Menschenrechte in Xinjiang, Tibet oder Hong Kong durchzusetzen? So wird man es zumindest begründen. Werden „demokratische Kriege“ wieder zu „gerechten Kriegen“? Das Gerede von einer wertebasierten Außenpolitik macht zumindest misstrauisch. Statt über Moral und Werte zu reden, sollte man lieber über die Interessen der Kontrahenten nachdenken und einen vernünftigen und fairen Ausgleich anstreben. Oder um es mit den Worten von Egon Bahr zu sagen: „Wenn ein Politiker anfängt, über Werte zu schwadronieren, anstatt seine Interessen zu benennen, wird es höchste Zeit, den Raum zu verlassen“.
Lieber Herr Lerchner, vielen Dank für Ihren kritischen Einwand. Wenn Moral als ideologischer Überbau dazu dienen soll, ein mehr als problematisches politisches Agieren zu rechtfertigen, wird es gefährlich. Da stimme ich Ihnen zu. Etwas anderes ist es, wenn ich an einer vollzogenen Handlung eine moralische Grundhaltung erkennen kann. Konkret: An der Bombardierung einer Stadt kann ich keine moralische Grundhaltung erkennen, an einem Zeichen der Verständigung, um Gewaltanwendung einzudämmen, sehr wohl.
Danke für diese Erinnerung!
Th. Weiß
Ohne das damals tiefer begründen zu können: ich hatte sofort das Gefühl, dass ich dieser Geste Willi Brandts trauen konnte. Sie wirkte absichtslos, unschuldig, spontan auf mich und weckte Hoffnung, vielleicht etwas zu viel, aber im Bewusstsein der bis dahin vorherrschenden Scheinheiligkeit und der beschämenden Redeschlachten in der herrschenden Politik , beeindruckte mich die Schlichtheit dieser Geste und die Würde, die sich in dieser sprachlosen Geste für mich ausdrückte. Darin lag meine Hoffnung und darin liegt sie noch: ich achte sehr viel mehr auf den Ton in der Musik , auf die spürbare Haltung hinter der Geste, auf Absichtslosigkeit z.B. , soweit ich sie spüren kann. Wir sind, wenn wir nicht wortgläubig festgefahren sind schwingungsfähig genug , um ‚echt‘ von ‚aufgesetzt‘ unterscheiden zu können, wenn uns eine berührende Botschaft trifft. Davon bin ich nach wie vor beseelt und überzeugt. Um Spreu von Weizen unterscheiden zu können ist mir das kostbar. Mindestens so sehr, wie das, was ich studiert habe!
Berthold Viertmann
Sehr geehrter Berthold Viertmann,
abgesehen von dem wirklich wunderbaren Beitrag von Christian Wolff – der gerade in diesen Zeiten, die wir derzeit erleben, erleiden müssen – so notwendig war – hat mich Ihr Kommentar zutiefst berührt.
Ich bin Jahrgang 1961 – also war ich damals gerade neun Jahre alt.
Ich bin in in einem kleinen Dorf in Niedersachsen- Lüneburger Heide – aufgewachsen. Das war alles ländlich, rustikal, mehr als konservativ.
Meine Eltern hatten 1969 den ersten Fernseher angeschafft. Damals natürlich schwarz-weiß. Anlaß war die erste Landung der Amerikaner auf dem Mond.
Privileg: als ältestes Kind durfte ich mitten in der Nacht zuschauen. Mein Vater sagte damals: „Merke Dir diese Bilder und diesen Satz von Armstrong „Ein kleiner Schritt für einen Menschen, aber ein Riesensprung für die Menschheit.“
Menschheit! Natürlich habe ich als Neunjähriger diesen Satz nicht verstanden. Ich bin damals schlaftrunken zurück in mein Bett geschlichen.
Ein Jahr später. 1970. Der 7. Dezember. Alltägliches Ritual nach dem Abendessen. Die Tagesschau. Im Schlafanzug sitze ich mit meinen Eltern vor dem immer noch schwarz-weißen Fernseher. Und dann kommt dieser Moment, den Egon Bahr beschreibt. Der Kniefall von Willy Brandt.
„Und dann das Wetter.“ Normalerweise wurde ich jetzt ins Bett gebracht – damals üblich – von meiner Mutter.
Völlig ungewohnt – unüblich und mehr als irritierend – mein eher Macho-Macker-Handwerker-Vater nimmt mich mit Tränen in den Augen in den Arm und sagt nur ein einziges Wort: „Endlich“. Und dann bringt er mich ins Bett. Noch nie passiert.
Damals habe ich das nicht verstanden. Mein Macker-Macho-Handwerker-Vater weint?
Viele Jahre später. Ich bin aus Frankreich zurück. Andere Geschichte. Mein Vater hat sich ausgesöhnt mit seinem schwulen Sohn. Er akzeptiert mich und meinen Mann. Wir sind gut zusammen.
Und dann sehen wir zufällig gemeinsam eine Dokumentation über Willy Brandt. Natürlich mit den Bildern aus Warschau. Die Bilder, die ich als zehnjähriges gesehen habe. Bei denen mein Vater Tränen in den Augen hatte. Der einzige Abend, an dem er – mein Vater- mich ins Bett gebracht hat.
Die Tränen liefen wieder Diesmal .ich habe ihn dann gefragt, warum???
Papa war schwierig. Kommunikation eher reduziert. Es war nicht ganz einfach, aber langsam habe ich verstanden .
Papa war wie gesagt „nie so ganz einfach.“
Inzwischen in Farbe, spult mein Vater die Dokumentation auf den Zeitpunkt zurück, in dem Willy Brandt in die Knie sinkt.
Er wiederholt „Endlich!“
Das hatte ich gehört, als ich zehn Jahre alt war. Das habe ich erneut gehört, als ich deutlich dreißig plus war. Was meint er damit?
Mein Vater hat es mir dann erstmals erklärt, warum dieser Moment in Warschau – dieser Augenblick, in dem Willy Brandt in die Knie sinkt, so wichtig für uns, für unsere Familie.
Willy Brandt hat vor der Weltöffentlichkeit Verantwortung übernommen.
Ich hatte nicht gewußt, daß in Wahrschau auch Mitglieder meiner Familie uns Leben gekommen sind – im Ghetto als auch auf der anderen, der polnischen Seite.
Damit kann ich nun das „Endlich“ meines Vaters nachvollziehen.
Danke, Christian Wolff,
Danke, Berthold Viertmann
Mit ganz herzlichen und lieben Grüßen
Thorsten Plate
Ulbrichts SED-Regime verschwieg den Kniefall total.
https://www.welt.de/kultur/history/article11426565/Als-Brandt-in-Warschau-kniete-schwieg-Ulbricht.html
Lieber Christian, zum Thema Kniefall haben wir in Lübeck eine Stiftung, die die Erinnerung an diesen starken Moment wachhalten soll und Kirchenmusik unterstützend einbindet. http://stiftung7-12-1970.de/
Herzliche Grüße
Johannes Unger