Es war vor 171 Jahren. Im Zuge der bürgerlichen Revolution 1848, in Leipzig mit dem Namen Robert Blum verbunden, kam es zu einer ungewöhnlichen Ökumene zwischen Katholiken, Lutheranern, Reformierten und Juden. Es gab einen „Provisorischen Ausschuß der kirchlichen Vereine für alle Religionsbekenntnisse zu Leipzig“. Leider währte dieser Aufbruch nur wenige Monate und wurde von den örtlichen kirchlichen und politischen Obrigkeiten im Keim erstickt. Zum Abschluss des Bachfestes 2019 blitzte diese Ökumene am 23. Juni 2019 in Thomaskirche noch einmal auf: Die große katholische Messe wurde in der Komposition des lutherisch geprägten Johann Sebastian Bach, geleitet vom jüdischen Dirigenten David Stern aufgeführt mit dem Tölzer Knabenchor und dem von David Stern gegründeten Ensemble „Opera Fuoca“ aus Paris – ein besonderer Beitrag zur am selben Tag eröffneten Jüdischen Woche in Leipzig. Erst wenn man sich dieses Zusammenhangs bewusst wird, kann man diese außergewöhnliche Aufführung und Interpretation der h-Moll-Messe einschätzen und würdigen. David Stern hat vieles anders gemacht als üblich:
- Mit der Choraufstellung vor dem Orchester hat er verdeutlicht: Das gesungene Wort soll im Vordergrund stehen. Es geht um den Text, um Verkündigung – unterstrichen, gestützt, überwölbt von den Instrumentalisten. Sie haben aber an keiner Stelle den Chor oder die Solisten überflügelt. Denn jedes Wort ist wichtig und hat seine Bedeutung.
- Während normalerweise das die Messe eröffnende „Kyrie eleison“, also der Ruf des Menschen, Gott möge sich seiner erbarmen, sehr monumental dargeboten wird, kam es Stern auf eine verhaltene, demütige Ehrfurcht an: Der Mensch allein vor Gott sucht seinen Weg und Platz im weiten Raum, beginnend damit, dass er vom Podest seiner Selbstbehauptung herabsteigt. Das ist die Vorbereitung für alles, was kommt.
- In der Aufführung wurde auch deutlich, dass – trotz aller Trinität, die für einen Juden eine Anfechtung, Zumutung ist und bleibt – das „Credo in unum Deo“, der Glaube an den einen Gott, das Entscheidende und Verbindende ist. Bach hebt in der h-Moll-Messe den 1. Glaubensartikel kompositorisch als Überschrift für das ganze Credo eigenständig hervor, gestaltet als Fuge, die von den unterschiedlichen Zugängen zum Bekenntnis zeugt.
- Noch nie habe ich in der Thomaskirche den Übergang, eigentlich den Bruch, vom „sepultus est“ (… ist begraben worden) zum „et resurrexit“ (Auferstehung) so intensiv erlebt: Da löst sich das „Crucifixus“ im tiefen Nichts des Todes auf, die absolute Leere – und erst nach einer angemessenen Pause (die leider meistens unterschlagen wird bzw. viel zu kurz gerät) setzt mit Macht das „Resurrexit“ ein, der totale Bruch mit allem, was gewesen ist, der entscheidende Befreiungsschlag.
- Selten hört man – auch dank der Choraufstellung – das unisono vorgetragene Bekenntnis zur einen Taufe (Confiteor unum baptisma) von den Männerstimmen so klar gesungen: die Sehnsucht des Menschen, sich bei aller Vielfalt auf einen Konsens verständigen zu können, um so Befreiung von sündhafter Selbstbehauptung zu erfahren. Schließlich hat Stern die Erwartung, die Hoffnung auf Auferstehung sehnsuchtsvoll-drängend erklingen und am Ende des „Credo“ mit einer überbordenden Wucht zur Gewissheit werden lassen.
- Johann Sebastian Bach gehört zu den ganz wenigen Komponisten, die die Bitte aus dem „Agnus Dei“ „dona nobis pacem“ zu einem eigenständigen, die Messe abschließenden Teil erhoben haben. Es ist musikalisch die Wiederholung des „Gratias agimus tibi“ aus dem „Gloria“. Aber am Sonntag war es keine Wiederholung, sondern ein anderes Stück, weil ein anderer Text. Stern hat dem „Dona nobis pacem“ ein besonderes Gewicht dadurch verliehen, das er es als großes Crecendo gestaltet hat, eine Bitte mit einem klaren Ziel: Frieden.
David Stern hat mit einem bestens vorbereiten Knabenchor und einem wunderbaren Instrumentalensemble eine h-Moll-Messe interpretiert, in deren Mittelunkt nicht aufführungstechnische Richtigkeiten standen, sondern die Botschaft, das Wort, der Mensch vor Gott. Er hat die Messe zu einem interreligiösen Bekenntnis werden lassen, in der das im Zentrum steht, worauf wir angewiesen sind: die Befreiung des Menschen aus selbstverschuldeter Unmündigkeit durch Gottes gegenwärtiges Wirken und damit die konkrete Aussicht auf Frieden. Insofern war diese Aufführung nicht nur ein würdiger Abschluss des Bachfestes, sondern ein wichtiger Beitrag zur Jüdischen Woche – was für ein Signal nach all der horrenden, martialischen Judenfeindlichkeit in den vergangenen 171 Jahren.
Dieser Beitrag versteht sich auch als Replik auf die Kritik der Aufführung der h-Moll-Messe zum Abschluss des Bachfestes von Peter Korfmacher in der Leipziger Volkszeitung.
4 Antworten
Sehr geehrter Herr Pfarrer Wolff,
durch Zufall stieß ich auf Ihren erfrischend alternativen Erlebnisbericht über dieses sicher sehr mitreißende musikalische Ereignis, den ich als bemerkenswerte Alternative zu den technokratisch korrekten, aber leider oft auch selbstverliebt daherfabulierenden Produkten professioneller Feuilletonisten empfinde.
Ihr Text erinnert mich spontan an Ihre absolut angstfrei gehaltene Predigt am Himmelfahrtstag während eines der vergangenen Bachfeste (um 2005 herum, wenn ich mich recht entsinne; es ging u.a. um eine Dienstaufsichtsbeschwerde wg. politischer Aussagen), als diese Veranstaltungsform noch nicht so hemmungslos durchkommerzialisiert war wie heute. Bitte behalten Sie weiterhin Ihren politischen und theologischen Mut!
mit freundlichem Gruß
Michael Hochgartz
Münster i.W.
Eine sehr menschliche und theologische Rezension, jene vom Pater Wolff. Wir brauchen immer, in jeder Zeit, Stimmen, die den Mensch zu einem Kontakt zwischen Gott und Geschoepfe, zwischen Mitmenschen aufruft.
Die historisch gut belegbare, von David Stern sinnvollerweise gewählte Choraufstellung war noch bis zur Amtszeit von Günther Ramin in der Thomaskirche üblich. (Es gibt Filmaufnahmen vom Bachfest 1950, die das belegen.) Erst Kurt Thomas ist davon abgegangen.
Bei zurückliegenden Bachfesten wurde sie erfolgreich praktiziert, u. a. im Bachfest 2008 bei der Aufführung des Passions-Oratoriums (Pasticcio) „Wer ist der, so von Edom kömmt“ (Graun/Bach/Telemann). Außerdem sangen die Thomaner (in stark reduzierter Besetzung) unter der Leitung von Georg Christoph Biller 2013 an Bachs 328. Geburtstag in dieser historischen Aufstellung. Es existiert davon eine DVD. Zu Bachs Zeiten musizierten die Instrumentalisten links und rechts über dem Chor auf den 1632 speziell dafür geschaffenen und 1739 räumlich erweiterten Stadtpfeifer- und Kunstgeiger-Emporen. Dadurch war der Klang wohl noch plastischer als bei einer Aufstellung hinter dem Chor. Leider ist diese Praxis nicht wieder zu beleben.
Unabhängig davon, was die Lpzg. Volkszeitung an der Aufführung zu bmängeln hat (hab ich nicht gelesen, hab die h-moll-Messe in Thomas auch nicht gehört), ist Ihr theol. Kommentar zu dem Ganzen wirklich herausragend und gut nachvollziehbar, vor allem da ökumenisch-überkonfessionell. Sie sind eben nicht nur ein „politischer“ Mensch, sondern als solcher eben auch ein wahrhaft theologischer. Wenn es die Aufführung noch mal geben sollte, so benachrichtigen Sie mich. Ich komme dann gern von Hannover nach Leipzig.
Axel Denecke