In einem Gespräch mit der Wochenzeitung DIE ZEIT (Nr. 52 vom 23.12.2015) erläutert der Philosoph Wilhelm Schmid die Bedeutung der „Lebenskunst“, die er in seinem Bestseller „Gelassenheit“ entwickelt:
Ich glaube mir schon grundsätzlich darüber klar zu sein, warum die Frage nach Lebenskunst zunimmt. Moderne heißt, sich absichtsvoll befreien von Religion, Tradition und Konvention. Das sind die Instrumente, die definieren, wie man zu leben hat. Nur etwas war von vornherein nicht bedacht worden: Was machen wir dann? In diese Lücke stößt die ganze Arbeit der Neubegründung der Lebenskunst.
Damit deckt Schmid ein Defizit auf, das dann entsteht, wenn es zu einem ideologischen oder religiösen Vakuum kommt. Was tritt an die Stelle von Religion, Tradition und Konvention? Mehr noch: Welche Lebenskunst vermittelt eine demokratische Gesellschaft, die ihren Wertekanon relativ abstrakt in den Grundrechtsartikeln der Verfassung verankert sieht? Diese Frage stellt sich heute zeitlich gesehen in zwei Richtungen: Hat die bundesrepublikanische Gesellschaft den Ostdeutschen nach 1990 ein überzeugendes Angebot machen können, um das ideologische Vakuum auszufüllen, das durch den Zusammenbruch des SED-System von Diktatur und Bevormundung entstanden ist? Nach vorne gerichtet stellt sich eine ähnliche Frage: Welche kulturelle, politische, auch religiöse Anknüpfungspunkte können wir denen benennen, die als Flüchtlinge zu uns kommen und die in unsere Gesellschaft zu integrieren sind? Haben wir auf die Frage von Schmid „Was machen wir dann?“ eine Antwort? Wie kommunizieren wir unsere Wertvorstellungen und welche gegenüber denen, die – so unsere Vermutung – über ein geschlossenes Weltbild verfügen? Oder greifen wir ins Leere und lassen andere ins Leere greifen? Was also ist bei uns selbst an die Stelle von Religion, Tradition und Konvention getreten?
Was Schmid in dem Interview offenbart: Er versucht, mit seiner „Lebenskunst“ eine Art Religionsersatz zu liefern – und landet letztlich bei den gleichen Fragen, die uns aus der biblisch-reformatorischen Theologie allzu bekannt sind: Wie kann die durch Emanzipation gewonnene Freiheit verantwortet werden? Wie bewegen wir uns im Spannungsfeld von Freiheit und Bindung? Wie verhält sich das Individuum zur Gesellschaft, und wie kann der Einzelne seine „Lebenskunst“, seine Überzeugungen in die Gesellschaft kommunizieren und integrieren, ohne einen Allmachts- oder Absolutheitsanspruch zu stellen oder innerlich zu immigrieren? Die von Schmid ausgelösten Fragen machen zumindest eines deutlich: Auch eine säkularisierte Religion a la „Lebenskunst“ kommt nicht ohne eine im demokratischen Diskurs gewonnene Verständigung und einen ständig zu erneuernden Konsens über die Grundwerte aus. Wie aber können diese ohne Rückgriff auf die Tradition entwickelt werden? Wie also definieren wir die „Voraussetzungen“, die – nach dem Diktum von Ernst-Wolfgang Böckenförde – eine freiheitliche Gesellschaftsordnung weder garantieren noch ohne sie leben kann?
2016 feiert der Kreuzchor Dresden sein 800-jähriges Jubiläum. Eigentlich sollten die Kreuzkirche und die Kreuzschule mitfeiern. Denn auch sie werden 800 Jahre alt und bilden mit dem Kreuzchor eine Trias von Glauben, Musik und Bildung. Aber das kommt in der öffentlichen Kommunikation des Jubiläums durch den Kreuzchor nicht mehr vor (www.kreuzchor.com). Er nimmt das Jubiläum zum Anlass, sich von seiner gemeinsamen Geschichte mit Schule und Kirche und damit von seiner Tradition zu verabschieden und liefert sich total einem Marketing aus, das nicht einen Inhalt kommuniziert, sondern ihn dadurch vernichtet, dass es sich selbst zum Inhalt macht. Auf der neuen Homepage des Kreuzchors ist nicht nur das Kreuz als Symbol und Logo verschwunden. Auch der Kirchenbezug wird ebenso weitgehend verschwiegen wie der Bildungsanspruch. Dafür versucht man eine schaumige Symbiose herzustellen zwischen Gestern und Heute. Unter dem Link „LOOK&FEEL“ ist zu lesen:
WAS TREIBT UNS AN? Der Freistaat Sachsen und besonders die Region Dresden verkörpern in einer einzigartigen Weise die Verbindung von Hochkultur auf Spitzenniveau und exklusiver Wertschöpfung. Nirgendwo auf der Welt ist ein Ensemble in ein vergleichbares Umfeld eingebettet. Mit unseren Partnern eint uns die Überzeugung: Großartige Tradition. Premium-Anspruch im Heute. Das ist die gemeinsame DNA. Heinrich Schütz und der Phaeton von Volkswagen, Bachs Weihnachtsoratorium und die Zeitzone 1 von A. Lange & Söhne, Händel und das Porzellan aus Meissen. Tradition und Dynamik schließen sich nicht aus. Sie bedingen sich. Gemeinsam sind wir Botschafter einer Idee. Der Idee, dass bestimmte Werte nie an Wert verlieren. Das treibt uns an. Und die, die uns begleiten.
„Absichtsvoll“ wird hier der Abschied des Kreuzchores von „Religion, Tradition und Konvention“ eingeläutet und der „Modernen“ durch Verbindungen zu High-Tech-Produkten gefrönt. Doch auch hier wurde und wird nicht die Frage bedacht: „Was machen wir dann?“ Uns ausliefern an die Glashütte-Uhr, ans Porzellan aus Meißen oder an den Phaeton von VW? Ironie der Geschichte: Im Jubiläumsjahr wird die Produktion des Phaeton eingestellt – Folge auch des kollektiven Betrugsskandals im VW-Konzern. So viel also zur „exklusiven Wertschöpfung“. Da löst sich die Frage „Was machen wir dann?“ in Nichts auf und Worte wie „Werte“ und „Idee“ bleiben leere Hülsen. Da nutzt es dann auch nichts mehr, die Begriffe mit dem Signum „DNA“ zu versehen. Ist nicht die genetische Erkennbarkeit des Chores gerade ausgemerzt worden, so dass nichts mehr mit Inhalt gefüllt werden kann? Dass eine solch Marken tötende Kampagne nicht folgenlos bleibt, konnte man spätestens beim Konzert des Kreuzchores am 21. Dezember 2015 im Dynamo-Stadion spüren – als großartiger Auftakt für das Jubiläumsjahr geplant. Da sang der Chor zeitgleich zum fremdenfeindlichen Pegida-Aufmarsch am Elbufer – und kein Wort im Stadion zu deren blasphemischer Verhunzung von Weihnachtsliedern zu deutschtümelndem Geplärre oder ein Willkommensgruß an die Flüchtlinge, die aber erst gar nicht eingeladen wurden (das Danke-Konzert galt natürlich nur den „Dresdnern“). Dafür wurde das typische, von allem christlichen Ballast entsorgte DDR-Weihnachtslied „Sind die Lichter angezündet“ angestimmt. War nicht 1988/89 die Kreuzkirche in Dresden der zentrale Ort für die Ökumenische Versammlung für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung – eine der Initialzündungen für die Friedliche Revolution? Trafen sich im September/Oktober 1989 nicht Tausende Menschen in der Kreuzkirche zu den Friedensgebeten, um die Friedliche Revolution einzuläuten? Aber die Kreuzkirche ist auf der neuen Homepage wie im Image-Film zum Suchbild geworden. Pünktlich zum Jubiläumsjahr ist der Kreuzchor im ideologischen und religiösen Niemandsland angekommen. Da passt es dann, dass Moderator Gunther Emmerlich im Stadion die „Weihnachtsgeschichte nach Martin Luther“ ankündigt. Ehe man verwundert der Frage nachgehen kann, ob Luther denn eine geschrieben hat, hört man die mit sonorer Stimme vorgetragene aus dem Lukasevangelium der Bibel. Doch das zu benennen, verbietet offensichtlich die Bereinigung des Chores von der biblischen Tradition.
Dieses Beispiel zeigt, was geschieht, wenn Tradition über Bord geworfen wird, ohne sich Gedanken darüber zu machen, was danach kommt: Banalität auf „Spitzenniveau“. Da fällt dann auch nicht mehr ins Gewicht, dass Grundwerte ausgeklammert werden, sich im Nirwana der Beliebigkeit verlieren und damit der politischen Opportunität ausgeliefert sind. Heute aber müssen wir uns unter den Bedingungen einer multireligiösen und multikulturellen Gesellschaft mehr denn je der Frage stellen: Worauf wollen wir zurückgreifen, wenn wir Werte in unserer Gesellschaft und für das gesellschaftliche Zusammenleben bestimmen? Wie sollen die Werte aussehen, auf die wir diejenigen verpflichten wollen, die zu Hunderttausenden bei uns Zuflucht suchen und die zu integrieren sind? Wir sind ja in einer ziemlich absurden Situation angekommen: Da vergeht kaum ein Tag, an dem nicht ein neuer Wertekatalog als Verpflichtungsurkunde kreiert wird, die von Flüchtlingen und Asylbewerbern als Voraussetzung für das Bleiberecht zu unterzeichnen ist. Das reicht von der biederen Kehrordnung über Hygienestandards bis hin zu den Grundrechtsartikeln unserer Verfassung. Aber worin fußen diese? Wie sehen deren Geschichte und Quellen aus? Wie steht es um die Akzeptanz grundlegender Werte unter uns Deutschen? Was vermitteln wir unseren Kindern und Jugendlichen an Grundwerten und Traditionen? Wie steht es um die Demokratiebildung in Schulen und Universitäten, eine der Voraussetzungen für eine Kommunikation, die nicht vernichtet? Darüber ist derzeit kein Konsens vorhanden. So sind wir aufgerufen, unsere durchaus unterschiedlichen Wertvorstellungen, Traditionen und Konventionen freizulegen und klar zu benennen, was wir bewahren und wovon wir uns verabschieden wollen und welchen Platz wir für neue kulturelle und religiöse Einflüsse sehen.
An dieser Stelle kommt den Institutionen, die über eine lange Tradition verfügen, eine besondere Bedeutung zu. Das sind in unseren Kulturkreisen die Kirchen und ihre Einrichtungen, aber auch die Institutionen, die ohne christliche Tradition nicht denkbar sind wie zum Beispiel ein Kreuzchor oder Thomanerchor. Hier ist vor allem wichtig, was sich bei allem Selbstversagen und aller Brüchigkeit als tragfähiges Fundament, aber auch als immerwährender Anknüpfungspunkt erwiesen hat. Vor einigen Jahren habe ich – aus Gesprächen mit jungen Menschen, die sich zum Teil aus dem religiösen Niemandsland kommend dem christlichen Glauben neu gewandt haben, entstanden – eine Art Kleiner Katechismus entwickelt (http://wolff-christian.de/zum-reformationsfest-2015-mein-kleiner-katechismus/) – Glaubensgrundsätze, die kommunikationstauglich sind und aus denen sich die Grundwerte ergeben, die wir heute benötigen: die Unantastbarkeit der Würde des Menschen, die gegenseitige Rücksichtnahme, der Respekt voreinander, die Ehrfurcht vor dem Leben, die Einsicht in die Begrenztheit der eigenen Möglichkeiten, ein getröstetes Gottvertrauen als Voraussetzung für die Entwicklung einer eigenständigen Persönlichkeit. Das sind die Pfunde, die es im interreligiösen Kontext zu vermitteln gilt. Darum sind Musik und Bildung in der reformatorischen Tradition so wichtig, weil durch sie der Weg zu den Quellen wieder freigelegt wurde und immer wieder frei gemacht werden kann. Das ist gerade in einer zugespitzten gesellschaftlichen Umbruchzeit wie der gegenwärtigen unerlässlich. Oder meinen wir, dass wir ohne die globale Botschaft von der Menschenfreundlichkeit Gottes Weihnachten feiern und unsere Gesellschaft vor einem Umkippen bewahren können, das sich derzeit in Ungarn und Polen in katastrophaler Weise vollzieht? Darum: Die Kirchen und ihre Institutionen können heute dadurch einen Beitrag zur Integration leisten, indem sie Anknüpfungspunkte anbieten, ihre Quellen offenlegen und dieses in einer offenen Kommunikation in den gesellschaftlichen Verständigungsprozess einbringen. Gleichzeitig haben wir uns vor zwei Irrwegen zu hüten: Weder sollten wir uns der Illusion hingeben, als verfüge unsere Gesellschaft über eine „Leitkultur“ oder könne diese entwickelt werden, noch sollten wir darauf setzen, Religion aus dem öffentlichen Raum zu verdrängen oder uns von allen Traditionen zu verabschieden. Das wird uns nicht frei machen, sondern viele Menschen hilflos ideologischer Okkupation aussetzen. Darum ist es so fatal, wenn die Kirchen und ihre Institutionen ihre Quellen und Traditionen verstecken oder verleugnen und so zur Selbstsäkularisierung beitragen. Ebenso sollten diejenigen, die keinen Bezug zur Religion haben, ihre Modernität nicht dadurch gewahrt sehen, religiöse Fragen marginalisieren zu können. Die Handvoll Philosophen, die wie Wilhelm Schmid mit seiner „Lebenskunst“ einen Religionsersatz anzubieten versuchen, kommen ja auch nicht an der Frage vorbei, wie denn die Befreiung von Religion und Tradition in eine neue „Form“, sprich: in einen auch institutionell sich niederschlagenden neuen gesellschaftlichen Konsens über Werte gefasst werden kann. Da ist sie dann wieder, die Frage „Was machen wir dann?“, wobei diese noch zu ergänzen ist: Woran knüpfen wir an, damit andere an und in uns einen Anknüpfungspunkt erkennen? Mehr noch: Wir werden nur dann in einer multireligiösen Gesellschaft bestehen können, wenn sich die notwenige Kommunikation über grundlegende Werte auf Augenhöhe vollziehen kann. Das aber setzt Gewissheit auch in den eigenen religiösen Überzeugungen voraus – Grundlage einer angstfreien Begegnung mit dem und den Fremden.
Als 2012 der Thomanerchor, auch eine städtische Institution, zusammen mit der Thomaskirche und der Thomasschule „800 Jahre THOMANA“ feierte, wurde der Trias nicht nur ein Motto gegeben: „glauben, singen, lernen“. Damit bekannten sich die drei Institutionen und ihre Träger auch zu den Quellen (die Bibel als das eine Wort Gottes) und zur Tradition. Denn wer sich fragt: wie kann es sein, dass drei Institutionen die Reformationszeit und den damit verbundenen Konfessionswechsel, die Verwerfungen im 30jährigen Krieg, das Dritte Reich und die Zeit von Diktatur und Bevormundung in der DDR überstanden haben und weiter aufeinander bezogen sind?, kann nur die eine Antwort finden: es ist der Gegenstand, der die gesellschaftlichen und politischen Veränderungen überdauern konnte und bis zum heutigen Tag das Kontinuum schafft; es ist das, was unter den Noten steht: der Glaube in der jüdisch-christlichen Tradition und die damit verbundenen Werte, die vor allem auch durch die Musik abrufbar geblieben sind (Martin Luther: „die Noten machen den Text lebendig“); es ist die universale Sprache der Musik, die von dem Gott künden will, der alles Leben hält und trägt – ohne dass die Freiheit des Menschen eingeschränkt wird. Aber sie erhält dadurch eine „Form“, in und mit der sich Menschen in der Moderne frei bewegen und entfalten können. Parlamente auf kommunaler, Landes- und Bundesebene, Institutionen und Wirtschaftsunternehmen tun gut daran, jenseits der weltanschaulichen Neutralität oder anderer religiöser Orientierung diese Ansätze nicht exklusiv, aber gezielt zu fördern und so die Identität der Kirchen einzuklagen, anstatt die Gesellschaft, auch die Bildungsinstitutionen in einen luftleeren Raum zu führen und dieses mit Freiheit zu verwechseln. Ohne religiös-kulturelle Bildung, die an die Tradition der Reformation anknüpft, sich auf die biblische Botschaft bezieht und anderen Religionen die gleichen Möglichkeiten einräumt, werden wir die Aufgabe der doppelten Integration nicht bewältigen können.
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Ein interessanter und durchdachter Artikel. Als ehemaliger Kruzianer verstehe ich gut, dass die Entkirchlichung auf kreuzchor.com sehr betrübt. Aber .com kommt eben von .commerce und für die Vollständichkeit ihres Artikels wäre es gut gewesen, wenn sie auch kreuzchor.de angeführt hätten. Dort gibt es ausreichende Infos zur Verbindung mit der Kreuzkirche und auch das Kreuz im Logo fehlt nicht. Das soll nicht heissen, dass mich die .com Seite nicht ungemein ärgert.
Mit freundlichem Gruß,
Florian Just
Sehr geehrter Herr Just, es ist eben alles noch viel gruseliger: Wenn Sie http://www.kreuzchor.de eingeben, dann werden Sie automatisch auf kreuzchor.com umgeleitet. Das geschieht auch, wenn Sie auf der Kreuzkirchen-Homepage den Link kreuzchor.de anklicken. Und wenn es Ihnen überhaupt noch gelingt auf die alte Kreuzchor-Seite zu kommen, dann landen Sie ganz schnell ins Abseits. Ergebnis: Der Kreuzchor hat sich von dieser Seite, aber auch von seinem Logo verabschiedet. Nun höre ich, dass dies alles das Werk von Wenigen sein soll und sich ganz Viele durch die neue Werbelinie überrollt sehen. Aber es ist eigentlich ganz einfach: Zu einer Entwicklung gehört nicht nur jemand, der sie in Gang setzt, sondern auch diejenigen, die das zulassen. Also: Wo ist der Widerstandsgeist in der Elbmetropole? Hoffentlich bekommen wir 2016 darauf eine Antwort. Ihr Christian Wolff
Was Christian beklagt, das ist zutiefst beklagenwert. Wer nicht weiss woher er kommt, wie kann der wissen, wohin er will- und wie es weiter gehen soll?
Keiner widerspricht einer Frau Bundeskanzlerin , die Herrn Wulff nachplappert:Der Islam gehört zu Deutschland. Das wir uns hier richtig verstehen-: Alle die hier leben- alle Menschen-die hier sein wollen und ihre Person, ihre Kultur und ihre Arbeits- und Gestaltungskraft in vielfältiger Weise einbringen- ja, die gehören ganz sicher zu Deutschland.Und hier leben nicht nur Muslime, hier leben Hindus und Buddhisten, Jainas und Sikhs. Ja,glücklicherweise- sie gehören zu uns. Aber deswegen gehört nicht der Buddhismus( den ich schätze) oder die Bagavadghita ( die ich auch sehr schätze) zu Deutschland. Wer unsere Geschichte- also wer nicht mehr weiss, was unser Land geprägt hat im Negativen wie im Positiven, der läuft Gefahr sich in einer Ersatzreligion zu verlieren, die er dann Lebenskunst nennt. Aber Lebenskunst ist immer dem Zeitgeist unterworfen. Und Lebenskunst läuft auch Gefahr zum Synonym für Selbstbezogenheit, Unpolitischsein , für Stoizismus , wo man aufschreien müsste, zu werden. Und was der Zeitgeist -losgelöst von Ethos ,Moral und Religion( ja christlicher Religion)- anrichten kann- das sollten wir Deutschen uns immer vor Augen halten.Es ist ein Armutszeugnis für den Kreuzchor aus Dresden, wenn er vergisst, aus welchen Taditionen er schöpft, welche Traditionen ihn groß gemacht haben..
Ein beeindruckender Beitrag, lieber Herr Wolff, wenn man einmal absieht von dem Widerspruch, daß Sie mit allem, was Sie dort schreiben, eine Leitkultur fordern – nämlich die unserer jüdisch-christlichen Tradition und des resultierenden Wertekanons – und gleichzeitig eine Leitkultur ablehnen. In der Tat aber brauchen wir diese Leitkultur zur Beantwortung der Frage „Was machen wir dann?“, wohin also wollen wir gehen und dies insbesondere dann, wenn wir eine Vielzahl von Migranten auf diesem Wege mitnehmen und ihnen eine Perspektive bieten wollen, ohne unsere eigene Identität zu verlieren. „Leitkultur“ ist keine Illusion sondern Grundlage unseres Zusammenlebens, allerdings natürlich nicht in einem engen, bürokratischen, provinziellen Sinne, sondern eben als Katalog des Grundsätzlichen: Toleranz, Gleichheit, Rechtssicherheit, Friedensbereitschaft, religiöse und kulturelle Vielfalt aber auch bestimmte moralische und ethische Standards und das „offene Visier“ (in concreto und auf die Gegenwart bezogen also keine Vermummung oder Burka bei aller Ausländerfreundlichkeit).
Die Frage „Was machen wir dann?“ hat aber noch eine andere – eine strategische – Bedeutung, die über das Religiöse hinausgeht. Sie ist nämlich – oder sollte doch sein – die Grundsatzfrage, die auch politischem Handeln zugrunde liegen muß und deren Beantwortung eben in letzter Zeit immer wieder gefehlt hat. Die Schnellebigkeit unserer Zeit, das unverantwortliche Drängen der Medien auf sofortige Antworten, eine ungeduldige und von Emotionen geleitete Öffentlichkeit haben zunehmend verhindert, daß vor dem Handeln das Nachdenken, das Entwickeln von Zielen und Handlungsoptionen zu diesen Zielen, das Abwägen der Optionen, schliesslich auch Sachlichkeit im Denken und Nüchternheit in der Lagebeurteilung stehen. Nie hätte man zB einen für die Handlungsfähigkeit der UNO so unverzichtbaren Politiker wie Putin – völlig losgelöst von der Frage, ob man ihn nun für einen Demokraten oder einen Bösewicht hält – so ins Abseits stellen dürfen, wie es in den letzten Jahren aus moralischer Empörung und rechtspolitischer Heuchelei geschehen ist, wenn man bedacht hätte, daß eine blockierte UNO nicht durch eine sich selbstbewusst gebende NATO oder gar durch „Koalitionen der Willigen“ ersetzt werden kann. Der Syrienkonflikt zB ist jahrelang aus diesem Grunde politisch verschleppt worden – vom Westen!
Politik braucht die Antwort auf die Frage „Was machen wir dann?“ in REALER Hinsicht, d.h. VOR der Entscheidung und unter Berücksichtigung der Tatsachen, nicht der Gefühle. Sie muß den Zweck festlegen, bevor sie Wege und Mittel bestimmt. Das wird zunehmend versäumt, wie aktuelle Beispiele zeigen. Die Bundesregierung hat zB im laufenden Syrien-Einsatz zwar Wege und Mittel bestimmt – Aufklärungseinsätze, Peshmerga-Ausbildung, usw. – aber ein politischer Zweck ist bis heute nicht definiert, wenn man von der schwammigen Formulierung „Frieden in der Region“ absieht. Unsere Mutter der Streikräfte von der Leyen zB erklärt zum Ziel „die Bekämpfung des IS“ und merkt offensichtlich nicht, daß dies doch wohl der Weg, aber eben nicht der Zweck ist. Man quatscht immer von der politischen Lösung, die man wolle, im Gegensatz zu einer angeblichen miltärischen und merkt gar nicht, daß man auf unterschiedlichen Ebenen sich bewegt. So beantwortet man die Frage „Was machen wir dann?“ eben nicht!
Zurück zu dieser Frage. Ich stimme Ihnen zu, daß Religion nicht aus dem öffentlichen Raum verdrängt werden darf. Ich stimme Ihnen nicht zu, daß Religion mehr ist als Privatangelegenheit eines jeden einzelnen Bürgers – allerdings in unserem demokratischen Rahmen, in dem sich Bürger zusammenschliessen und gemeinsam handeln dürfen durch und mit ihren „Organisationen“ und das tun die Kirchen bei uns. Ich wünschte mir, daß die Kirchen auf der Basis ihrer auf das Sittliche, das Weiterführende, Abstrakte und Ewige ausgerichteten „Doktrin“ ihre Stellungnahmen etwas losgelöster vom aktuellen Tagesgeschehen formulierten – das unterscheidet uns sicherlich! – und „Richtlinienkompetenz“ ausstrahlen würden anstatt im Tagesstreit Partei zu werden. Dann hätten sie vielleicht auch die Frage „Was machen wir dann?“ etwas besser im Griff.
Mit herzlichen Grüßen,
Andreas Schwerdtfeger
Lieber Christian, ich bin dir mit unserer ganzen Familie und vielen Freunden für dein/euer Engagement in der „Leipziger Lichterkette“ sehr dankbar – was könnte der geschichts-, kultur- und lebensstarken Stadt Schöneres passieren, als dass sich ihre Zivilgesellschaft zusammentut und allen, die es so dringend brauchen, zum Zeichen der Weltoffenheit und Solidarität, Klarheit und demokratischen Entschlossenheit wird. Es wäre so dringend auch andernorts nötig. Gern käme ich mit einer Kerze dazu; vielleicht ja lässt es sich machen. Dankbar bin ich dir auch für deine Zeilen zur geistig-historischen Selbstdemontage des „Dresdner Kreuzchors“ im Jubiläumsjahr. Ist denn
jetzt alles nur noch Marketing? Sich seiner „Perlen“ solchermaßen zu entledigen, ist von einer Ärmlichkeit, die kaum zu überbieten ist. Was ist bloß los in diesem Dresden!? Aber auch in einem künsterlisch-kirchlichen Umfeld, das solcherlei Beliebigkeit, so scheint es, nichts entgegenzusetzen hat? Ich grüße dich freundlich und mit mir viele andere!
Arno Schmitt (Mannheim)