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Ein Jahr Ukraine-Krieg – ein Fanal für aktive Friedenspolitik nicht nur in Europa …

… denn „hinter dem Frieden gibt es keine Existenz mehr.“ (Gustav Heinemann 1969) Dieser bitteren Erfahrung sind seit dem 24. Februar 2022 wieder einmal Millionen Menschen in der Ukraine ausgesetzt: Flucht, Vertreibung, Zerstörung der Lebensgrundlagen. Am Freitag jährt sich der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine zum ersten Mal. Für viele Menschen in Europa ist dies Anlass, sich am Wochenende an Mahnwachen, Demonstrationen und Kundgebungen zu beteiligen. Diese werden sehr unterschiedlich ausfallen – allein schon deswegen, weil Bürger:innen aus der Ukraine, die hier leben bzw. nach Deutschland geflüchtet sind, andere Akzente setzen werden, als Menschen, die nicht unmittelbar vom Kriegsgeschehen, von den täglichen Bombardierungen Russlands auf Wohngebiete in den Städten und auf die Infrastruktur betroffen sind, die aber mit Schrecken einer möglichen Eskalation zu einem 3. Weltkrieg befürchten und voller Sorgen auf den ungeheuren Rüstungswettlauf blicken. So werden am Wochenende sehr unterschiedliche Forderungen erhoben. „Die Ukrainer im In- und Ausland sind in einem Ziel vereint − den Sieg der Ukraine so schnell wie möglich herbeizuführen. … Dieser verbrecherische Krieg muss so schnell wie möglich beendet werden! Und dafür brauchen die ukrainischen Soldaten schwere Waffen, die Deutschland liefern kann und vor allem muss, um die Vernichtung der Menschen in der Ukraine zu stoppen! Gemeinsam werden wir die Ukraine in ihrem Kampf gegen den russischen Faschismus unterstützen!“ So der Aufruf des „Freundeskreises der Ukraine in Leipzig“ zur Kundgebung auf dem Leipziger Augustusplatz. Auf der anderen Seite das „Manifest für den Frieden“, initiiert von Alice Schwarzer und Sahra Wagenknecht: „Verhandeln heißt nicht kapitulieren. Verhandeln heißt, Kompromisse machen, auf beiden Seiten. Mit dem Ziel, weitere Hunderttausende Tote und Schlimmeres zu verhindern. Das meinen auch wir, meint auch die Hälfte der deutschen Bevölkerung. Es ist Zeit, uns zuzuhören! … Wir fordern den Bundeskanzler auf, die Eskalation der Waffenlieferungen zu stoppen. Jetzt! Er sollte sich auf deutscher wie europäischer Ebene an die Spitze einer starken Allianz für einen Waffenstillstand und für Friedensverhandlungen setzen. Jetzt!“ (https://www.change.org/p/manifest-f%C3%BCr-frieden)

Beide Aufrufe offenbaren die schier unlösbar erscheinenden Schwierigkeiten, in die uns der Ukraine-Krieg gezogen hat. Denn weder scheinen ein „Sieg“ der Ukraine noch ein sofortiger Waffenstillstand und Verhandlungen eine realistische Perspektive zu haben. Dennoch werden sich viele Bürger:innen in Europa auf das verständigen können, was jenseits der Debatte um Waffenlieferungen unmittelbar nach Kriegsbeginn Motto vieler Kundgebungen war:

Ja, dieser Krieg muss eher heute als morgen gestoppt werden. Denn er ist wie jeder Krieg ein großes Verbrechen an den Menschen, die ihn ausführen müssen, und deren Opfer. Gleichzeitig und gleichwertig müssen die Bedingungen dafür geschaffen werden, dass die Menschen in der Ukraine in Frieden leben können und dass nicht nur in Europa Interessenskonflikte ohne Einsatz von militärischer Gewalt ausgetragen werden. Ohne den Anspruch zu erheben zu wissen, was jetzt der richtige Weg ist, möchte ich einige Aspekte zusammenzustellen:

  • Dieser Krieg wurde von Russland begonnen und wird von Russland mit sich steigernder, rücksichtsloser Intensität und Brutalität geführt. Dabei ist es zunächst unerheblich, ob der Kriegsbeginn auf 2014 oder 2022 datiert wird. Tatsache ist, dass Russland völkerrechtswidrig die Ukraine mit Krieg überzogen hat. Dafür gibt es keine Rechtfertigung! Das gilt auch für das Narrativ Russlands, es müsse sich gegen ein aggressiv politisch-militärisches Agieren der NATO verteidigen bzw. sich vor einer von Neonazi regierten Ukraine schützen und diese befreien. Man kann die Politik der NATO-Staaten gegenüber Russland mit guten Gründen kritisieren – nur kann man daraus keine Rechtfertigung für die kriegerische Aggression Russlands ableiten. Das wäre so, wie wenn man den Angriffskrieg Deutschlands 1939ff damit zu erklären versucht, dass das „Diktat“ des Versailler Vertrages Hitler keine andere Möglichkeit gelassen hätte, als Polen zu überfallen und einen Vernichtungskrieg gegen die damalige Sowjetunion zu starten.
  • Es ist nicht von der Hand zu weisen: Vor 20 Jahren haben die USA aufgrund eines Lügenkonstrukts den Irak völkerrechtswidrig angegriffen und danach ein verwüstetes Land sich selbst überlassen. Es ist auch richtig, dass die USA in den vergangenen Jahrzehnten in ihrem „Hinterhof“ (Mittel- und Südamerika) immer wieder militärisch eingegriffen haben – nicht zuletzt vor 50 Jahren beim Putsch gegen den demokratisch gewählten chilenischen Präsidenten Salvatore Allende und der Installierung des faschistischen Pinochet-Regimes. Aber auch diese fatale Politik der USA kann und darf nicht als Entschuldigung für den Angriffskrieg des Putin-Regimes herangezogen werden.
  • Gerade die Erinnerung an die Golfkriege 1991 und 2003, aber auch an die interventionistische Militärpolitik des sog. Westens in den vergangenen Jahrzehnten in Afghanistan und Libyen zeigen: Am Ende dieser Kriege steht kein Verhandlungsfrieden, sondern nur noch verbrannte Erde. Länder und Regionen versinken in die Unregierbarkeit. Das droht, wenn nicht endlich nichtmilitärische Handlungsalternativen greifen, weniger für die Ukraine, aber vor allem für Russland. Das bedeutet: Wer jetzt Friedensperspektiven für die Ukraine entwickeln will, muss sich vor allem an den Erfahrungen des europäischen Friedensprozesses zwischen 1945 und 1990 orientieren. Dieser Friedensprozess zeichnete sich dadurch aus, dass alle Seiten auf militärische Aktionen in Europa verzichtet bzw. auf begrenzte militärische Eingriffe nicht-kriegerisch geantwortet haben. Nur eine Politik, die sich an der Notwendigkeit einer dauerhaften Friedensordnung orientiert, wird langfristig auf Glaubwürdigkeit in den Ländern stoßen, die aufgrund gemachter Erfahrungen „dem Westen“ nicht blindlings trauen. Darum ist das Gerede von einem „friedensverwöhnten“ Deutschland (so Joachim Gauck in der Wochenzeitung DIE ZEIT) so fatal. Wir sind nicht friedensverwöhnt, sondern eher friedensvergessen! Der Ukraine-Krieg ist auch die Quittung für 30 Jahre Abwesenheit von europäischer Friedenspolitik! Eine solche müsste vor allem die Unterstützung der Zivilgesellschaften in Autokratien im Blick haben.
  • Der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine ist der kriegerische Höhepunkt des Generalangriffs des nationalistischen Autokratismus mit imperialem Anspruch auf demokratisch verfasste Staaten und freiheitlich-plurale Gesellschaften. Das ist die Ursache dafür, dass die Politik Putins gerade bei europäischen Rechtsnationalisten Unterstützung findet. Man lese nur die Rede von Björn Höcke am 3. Oktober 2022 in Gera (https://www.youtube.com/watch?v=QVdwdw2gB5Y). Wenn das richtig ist, dann besteht die erste und vornehmste Anti-Krieg-Aufgabe von Bürger:innen in Deutschland darin, die Demokratie und die gesellschaftliche Vielfalt hier zu stärken und gegen die Rechtsnationalisten zu verteidigen. Denn Demokratie, Vielfalt, Solidarität sind keine Selbstläufer. Sie müssen jeden Tag neu von den Bürger:innen erkämpft, geschützt, entwickelt werden. Wir müssen es immer und immer wiederholen: Nationalismus und Autokratismus tragen den Keim des nächsten Krieges in sich. Es wundert mich sehr, dass darüber im Manifest von Schwarzer/Wagenknecht kein Wort verloren wird. Allein deswegen kann ich dieses nicht unterschreiben. Denn damit fehlt eine klare Abgrenzung zu den Rechtsnationalisten, die scheinheilig Parolen der Friedensbewegung okkupieren, sich aber vom Putin-Regime aushalten lassen.
  • Natürlich hat erste Priorität, dass die kriegerischen Gewalthandlungen, die ungeheure Zerstörung von Menschen, Natur, moralischen Werten und die damit einhergehende Menschenverfeindung so schnell wie möglich beendet werden. Aber dieses Ziel kann und darf nicht dadurch erkauft werden, dass die staatliche Souveränität und Integrität der Ukraine aufs Spiel gesetzt werden. Unabhängig von innergesellschaftlichen Auseinandersetzungen in der Ukraine: Die Ukraine hat Russland zu keinem Zeitpunkt bedroht.
  • Dieser Krieg bestätigt in seinem Verlauf alles, was für einen pragmatischen Pazifismus, also für eine Gewalt minimierende Strategie nichtmilitärischer Konfliktlösungen spricht. Nicht von ungefähr erlebt(e) der Pazifismus nach dem Desaster eines Krieges Zulauf – und zwar durch die, die das Grauen des Krieges erlitten haben: „Nie wieder Krieg!“. Deswegen ist es ziemlich absurd, dass der pazifistische Ansatz, der in der Verbrechensbekämpfung in einem Rechtsstaat eine hohe Bedeutung hat, in der gegenwärtigen politischen Debatte kaum vorkommt. Wohlgemerkt: Es geht dabei nicht um eine Gewaltlosigkeit um jeden Preis. Es geht um das Prinzip der Gewaltminimierung und die Abwehr der Menschenverfeindung. Vor allem geht es darum, dem Aufbau einer Friedensordnung die unbedingte Priorität vor militärischen Interventionen zu geben. Frieden schaffen ist ungleich schwerer als Kriege anzetteln. Es erfordert Kraft, Phantasie, eine moralische Orientierung, Menschenwürde, Demokratie, während Krieg und seine Vorbereitung dies alles zerstört.
  • Schließlich noch ein Wort zur Kirche. Sie, die Kirche in ihrer Gesamtheit, hat bis jetzt kläglich versagt. Bis heute hat sie nicht vermocht, jenseits der politischen Debatte ein klares Zeichen des Friedens zu setzen. Stattdessen gießt der Patriarch der russisch-orthodoxen Kirche Kyrill I. weiter seine religiöse Schokoladensauce über die Kriegsverbrechen Putins und bedient in seinen Reden die drei Narrative des internationalen Autokratismus „Gott, Nation, Familie“ – und die Ökumene einschließlich der katholischen Kirche sieht dem taten- und sprachlos zu. Auch ist es ein Armutszeugnis für die Kirche, wenn zwei Theologinnen wie Petra Bahr und Margot Käßmann in der Wochenzeitung DIE ZEIT (09/2023) über Waffenlieferungen und Pazifismus streiten – und kein Wort darüber verlieren, was jetzt Aufgabe der weltweiten Ökumene sein muss: weltweit für eine am 1. Gebot ausgerichtete, konsequente Entideologisierung des christlichen Glaubens zu sorgen, damit dieser nicht mehr missbraucht werden kann zur Rechtfertigung von Krieg, Autokratismus und Menschenverfeindung.

Aus den Überlegungen kann ich nur einen Schluss ziehen: Es ist unsere Aufgabe, bleibend den Frieden zu sichern – nicht durch das Anhäufen ungeheurer Waffenarsenale. Damit wird nur die Startrampe für die nächsten kriegerischen Auseinandersetzungen gebaut. Vielmehr muss in allen Staaten eine entschlossene Abkehr von militärischer Interventionspolitik vollzogen und eine neue Friedenspolitik initiiert werden. Denn: hinter dem Frieden gibt es keine Existenz mehr!

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Gerne verweise ich auf den ausgezeichneten Artikel „Vermächtnis einer Pazifistin“ von Antje Vollmer in der Berliner Zeitung. Er ist hier zu finden.

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