Seit 14 Monaten werden die privaten Gespräche wie die öffentliche Kommunikation von einem Thema beherrscht: die Corona-Pandemie. Wer Nachrichten hört, die Zeitung aufschlägt, die Gesprächsfetzen vorübergehender Menschen beim Spaziergang aufschnappt – immer geht es um das Corona-Virus, seine krankmachende Gewalt und die damit verbundenen Einschränkungen und Veränderungen des öffentlichen wie persönlichen Lebens. Eine Frage allerdings wird kaum erörtert: Welche Botschaft geht von dieser Pandemie aus? Wie deuten wir das globale Wüten des Virus unter den Menschen im Blick auf die Zukunftsaussichten dieser Welt? Dass diese Fragen im politischen Diskurs nur eine untergeordnete Rolle spielen, ist wohl auch eine Folge davon, dass in den Kirchen diese Fragen viel zu selten erörtert werden bzw. vielen Menschen die biblischen Deutungsmuster globalen Geschehens nicht mehr erinnerlich sind. Die Kirchen haben sich in den vergangenen Monaten mehr mit Corona-Schutzverordnungen beschäftigt als mit der wichtigen Frage: Können wir in dem gegenwärtigen Geschehen eine Botschaft Gottes erkennen, wie kommunizieren wir diese, wie setzen wir Glauben und Gottvertrauen ein? In der Bibel wird an vielen Stellen genau das reflektiert: Was bedeuten ein zusammenbrechender Turm zu Babel, Symbol für Gigantismus des Menschen, hereinbrechende Naturkatastrophen wie die Sintflut, eine Gewalttat wie der Mord des Kain an seinem Bruder Abel? Wie sollen wir Kriege jenseits machtpolitischer Konstellationen deuten? In der Bibel werden menschliche und politische Verwerfungen sowohl im kritischen Rückblick wie hoffnungsvoll vorwärts reflektiert: Welche gesellschaftlichen Fehlentwicklungen haben zu einem Krieg geführt und welche Konsequenzen müssen aus einer Katastrophe gezogen werden, um zukünftig ihre Zerstörungsgewalt zu verhindern oder zumindest zu begrenzen? Doch auch in der Bibel wird berichtet, wie die Sehnsucht der Menschen nach Normalität dazu führt, diese Fragen nicht auszudiskutieren, sie eher zu verdrängen, nur unzureichende Konsequenzen aus katastrophalem Geschehen zu ziehen und schnell zu vergessen. Die biblischen Propheten hat diese Flucht des Menschen aus seiner Verantwortung nicht davon abgehalten, ihm abzufordern, sich auf die Ursprünge alles Seins zu besinnen, die Grundwerte eines menschenwürdigen Zusammenlebens mehr zu beachten und den eigenen Lebenswandel entsprechend zu erneuern. Dafür stehen die 10 Gebote, das Doppelgebot der Liebe, das Leben und Wirken Jesu und die Endlichkeit alles Seins – als jederzeit abrufbare Anknüpfungspunkte für ein sinnvolles, der Schöpfung Gottes angemessenes und dem Nächsten zugewandtes Leben.
Wenn wir mit dieser Perspektive an die Deutung der Pandemie gehen, dann können wir uns weder in Verschwörungsphantasien verlieren, noch zu den Leugner*innen der Corona-Pandemie zählen lassen, noch zu den falschen Propheten gehören, die uns eine schnelle Rückkehr zur Normalität versprechen, wenn wir uns jetzt nur für einen Moment an bestimmte Regeln halten. Vielmehr wird es darauf ankommen, dass wir die Pandemie als einen massiven, korrigierenden Eingriff in eine Lebensweise verstehen, die eine mindestens so zerstörerische Gewalt aufweist wie das Corona-Virus selbst. Allein die Tatsache, dass im vergangenen Jahr laut SIPRI weltweit 1981 Milliarden US-Dollar für Rüstung, Kriegsvorbereitung und -führung ausgegeben wurden, zeigt an, wie Leben vernichtend unsere „Normalität“ tatsächlich ist. Also sollten wir Vieles von dem, was uns im vergangenen Jahr an Lebensveränderung abverlangt wurde, als Chance begreifen und weiterführen. Die Corona-Pandemie hat uns für eine gewisse Zeit aus dem Hamsterrad eines kapitalistischen Turbolebens herausgenommen. Gott sei Dank! Sie hat allerdings auch viele Menschen in tiefes Leid gestürzt – die am Virus Erkrankten und Gestorbenen wie diejenigen, deren berufliche Existenz bedroht ist, ohne dass eine gerechte Verteilung der Lasten zu erkennen ist. Gott sei es geklagt! Beiden Erfahrungen sollten wir Nachhaltigkeit verleihen und die Schwachstellen im gesellschaftlichen Zusammenleben erkennen:
- ein personell ausgedünntes und auf Gewinnmaximierung orientiertes Gesundheitswesen;
- umwelt- und gesundheitsschädliche Ernährung (unmäßige Fleischproduktion und -konsum);
- soziale Gegensätze, die zu unterschiedlicher Betroffenheit durch das Virus und Gefährdungslagen führen;
- Missachtung der Bedürfnisse und Bildungserfordernisse von Kindern und Jugendlichen;
- das Verständnis von Kultur einschließlich Religion als im Zweifelsfall zu vernachlässigenden, entbehrlichen Größen.
Es kann unserer Gesellschaft nur gut tun, wenn wir wieder durchbuchstabieren: Was bedeutet es, dass der Mensch nicht vom Brot allein lebt, sondern auch von einem jeden Wort, das aus dem Mund Gottes kommt (Die Bibel: Matthäus 4,4)? Säkular gedacht steht hinter dieser Frage: Ohne Kultur, ohne die politisch-metaphysische Frage nach der Deutung einer Pandemie, wird es keine wirkliche Erneuerung geben, sondern im besten (?) Fall nur die Rückkehr zur Normalität. Natürlich können die Folgen einer Pandemie nicht ohne die medizinischen Erkenntnisse und ihre Möglichkeiten bekämpft werden. Aber aller wissenschaftlicher und technischer Fortschritt allein reicht nicht, um dem eigenen Leben und der Zukunft Sinn und Deutung zu geben. Darum benötigen wir Perspektiven, die über das Brot hinausgehen und uns vor den Sackgassen der Normalität bewahren. In einer solchen Sackgasse sehe ich derzeit die offizielle Corona-Politik in all ihrer Widersprüchlichkeit, aber auch den gesellschaftlichen Diskurs, der sich aktuell im Für und Wider sogenannter Impfprivilegien verheddert. Dabei stehen neben wirksamen Maßnahmen gegen den globalen Klimawandel ganz konkrete Veränderungen an. Nur zwei Beispiele:
- Sofort müssten die Vorschriften für Bau und Betreibung von Kitas und Schulen geändert werden: größere Räume für kleinere Gruppen!
- Ebenso müssten die Mindestgrößen im sozialen Wohnungsbau den Erfordernissen angepasst werden. Keine Wohnung ohne Balkon!
Davon ist leider wenig zu hören. Meine These: Wenn wir die Frage nach der Deutung einschneidender Ereignisse ad acta legen, werden wir zielstrebig die Bedingungen für eine nächste Katastrophe schaffen. Zumindest das sollten die Kirchen als ihr ureigenes Thema auf die Tagesordnung des gesellschaftlichen Diskurses setzen.
9 Antworten
Ich freue mich sehr, lieber Christian Wolff, Sie zu alter Form auflaufen zu sehen. Offenbar haben Sie die schwierige Zeit gut überstanden.
Ihrem Artikel kann ich in allen Punkten zustimmen.
Die Botschaft dieser Pandemie ist für mich eine einfach klingende: Ein Virus ist vom Tierreich auf die Menschen übergesprungen, weil diese ihm die Lebensgrundlagen entzogen haben. Es ist auf Arterhaltung programmiert. Der wirtschaftliche mächtige Teil der Menschheit betreibt dagegen die Vernichtung aller Arten.
Der entscheidende Punkt wäre deshalb die Selbstbefreiung vom unmäßigen Verbrauch, nicht nur beim Fleisch.
Das Übermaß ist bekannt: Faktor 3 für Deutschland, 5,5 für die USA. Aber Joe Biden verbreitet keine Hoffnung. China werde niemals das führende, wohlhabenste Land der Welt werden, weil die USA weiterhin wachsen und expandieren werden (Pressekonferenz 25.3.2021).
Und wir Europäer, „alle Menschen werden Brüder“ singend? Streiten über Gendersternchen und rüsten Militär und Frontex auf, um sie gegen die Gleichheit in Stellung zu bringen. Wir haben aber nichts zu verteidigen außer unserem Privileg, uns „zur eigenen Bequemlichkeit Menschen zweiter Klasse zu halten.“ (Henning Venske). Gegen das autonome Virus jedenfalls helfen auch autonome Waffensysteme nicht.
Weder unsere SPD noch die Grünen sind noch für Abrüstung, nicht mehr gegen Kapitalismus. Aber für Respekt! Nur: der Ware schuldet man keinen Respekt. Arbeit und Natur zur Ware zu machen, ist respektlos.
So sind im ersten Jahr der Pandemie in Brasilien mehr Wälder als je zuvor abgebrannt, in Rumänien die letzten europäischen Urwälder mehr denn je dezimiert und für 72% der UNESCO – Weltnaturerbestätten in Subsahara – Afrika bereits Bergbau – und Ölförderkonzessionen vergeben worden.
Wie finden wir ihn nur, den Ausgang aus dem turbo-kapitalistischen Hamsterrad? Aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit?
„Die Wurzel der Geschichte“, beendete Ernst Bloch das „Prinzip Hoffnung“, „ist der arbeitende, schaffende, die Gegebenheiten umbildende und überholende Mensch. Hat er sich erfasst und das Seine ohne Entäußerung und Entfremdung in realer Demokratie begründet, so entsteht in der Welt etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat.“
Mehr als diese Hoffnung kann ich Ihrem letzten Absatz nicht entgegen setzen.
Lieber Herr Schneider,
die so oft in Ihren Beiträgen aufscheinende Frage, ob Wachstum, d.h. die ständige wertmäßige Steigerung von Warenproduktion und Dienstleistungen, ohne tiefschürfende gesellschaftliche Verwerfungen abgebremst werden kann, geht in ihren aktuellen Ausführungen wegen der Vielfalt der angerissenen Themen etwas unter. Interessant finde ich sie allemal und leider konnten wir sie bisher nicht wirklich ausdiskutieren. Ich weiß nicht, ob das der von einzelnen Foristen hin und wieder angemahnten politischen Neutralität diese Blogs geschuldet ist. Nullwachstum ist m. E. prinzipiell nicht mit kapitalistischen Wirtschaftsprinzipien vereinbar (könnte ich begründen) und die Idee mancher, die Auswirkungen der Pandemie werden das Ende des Kapitalismus einläuten, halte ich für Spinnerei.
Die Frage, ob es nach der Pandemie ein Zurück in die (kapitalistische) Normalität geben wird, ist natürlich längst beantwortet. Explodierende Preise für Rohöl, Kupfer und Transportkapazitäten zeugen davon. Dass Deutschland und Europa hier etwas hinterherhinken, ändert nichts am globalen Trend und könnte höchsten für einen gewissen Tunnelblick verantwortlich sein. Ein großer Teil der Menschheit steckt seit Monaten wieder voll im täglichen Kampf um ein besseres materielles Leben. Predigten über Verzichtsphilosophie würden vielen sehr befremdlich erscheinen, so sie denn Kenntnis davon erlangten. Aber auch in unseren Gefilden hat die Corona-Pandemie nur einen Teil „aus dem Hamsterrad eines kapitalistischen Turbolebens herausgenommen“. Ich denke dabei z. B. an die Tausende Lieferando-Fahrer, die umso stärker in die Pedale treten mussten.
Beste Grüße,
Johannes Lerchner
Darüber, ob ein sinnvoller Umgang mit der COVID-19-Pandemie deren metaphysische Deutung zwingend voraussetzt, lässt sich sicherlich unendlich diskutieren. Bemerkenswert finde ich, dass auch so schon die derzeitige Pandemie wichtige gesellschaftliche Umdenkprozesse beschleunigt hat. Seit dem Beginn unserer Diskussion zum Thema vor etwa einem Jahr hat sich doch einiges bewegt.
Das enorme 1.9-Billionen-Konjunkturpaket der Biden-Regierung hätte kaum den Segen des amerikanischen Großkapitals erlangt, wenn nicht innerhalb von wenigen Wochen in Folge der Pandemie mehr als 20 Millionen Amerikaner ihren Job verloren hätten. Auch in Deutschland nimmt – katalysiert durch die Pandemie – die Diskussion über eine aktivere Rolle des Staates Fahrt auf, und das nicht nur unter linken Ökonomen. Manche sprechen schon von einem Ende der neoliberalen Ära, in der das Bestreben bestimmend war, den Staat in seinen wirtschaftlichen und wirtschaftspolitischen Aktivitäten streng einzugrenzen, um privater wirtschaftlicher Initiative den nötigen Freiraum zu schaffen.
Und es setzt sich zunehmend die Erkenntnis durch, dass gutes individuelles Verhalten erst durch Rahmenbedingungen ermöglicht wird, die der Markt allein nicht schaffen kann, sondern staatliches Handeln erfordert. Sind diese nicht gegeben, führt moralischer Druck auf den Einzelnen, führen Verzichtsforderungen lediglich zu nicht gerechtfertigten Schuld- und Minderwertigkeitskomplexen (der niedrig entlohnte Pendler ist möglicherweise auf seinen Gebraucht-Diesel angewiesen und auch steigenden Benzinpreisen ausgeliefert, solange es keine öffentliche alternative Infrastruktur gibt).
Mehr Handlungskompetenz beim Staat betrifft nicht nur die Entprivatisierung der Produktion von Kollektivgütern (s. Wolff und Käfer) sondern auch dessen Rolle als Investor der ersten Wahl, um z. B. neue Arten von Wachstum zu generieren (z. B. Wasserstoffwirtschaft). Allein der Aufwand für die Dekarbonisierung der deutschen Stahlindustrie (sie ist für 2% der CO2-Emission verantwortlich) wird über die Kosten der deutschen Wiedervereinigung weit hinausgehen (Salzgitter-Chef Fuhrmann), was ohne unterstützende Staatsmittel nicht zu machen sein wird.
Ich bin ziemlich überzeugt davon, dass nicht die Individualisierung der Krisenprobleme sondern der politische (!) Streit über die zukünftigen gesellschaftlichen Entwicklungslinien darüber entscheiden wird, mit welchen Nachwirkungen wir aus der Pandemie herauskommen und wie die Weichenstellungen für die Bewältigung der Klimakrise erfolgen werden. Die Gegner eines grundlegenden gesellschaftlichen, ökonomischen Wandels sind nach wie vor stark. Und es deutet sich an, dass bis zur Bundestagswahl die Auseinandersetzungen erheblich an Schärfe zunehmen werden. Es stehen sich die Verfechter von „mehr Markt, weniger Staat“, von Senkung von Steuern und Sozialausgaben und der Einschränkung von Mindestlöhnen (z. B. CDU-Wirtschaftsrat) den Protagonisten gegenüber, die für eine effizientere Staatsfinanzierung (Abschaffung der Schuldenbremse), für einen Ausgleich ungerechtfertigter Einkommens- und Vermögensungleichheiten durch Einführung eines vernünftigen Steuersystems sowie für eine starke soziale Flankierung des wirtschaftlichen Strukturwandels plädieren. Ich würde es begrüßen, wenn diese sich offenbarenden Widersprüche mehr in den Mittelpunkt der Debatte rücken würden. Auch wenn ich selbstverständlich die Spezifika eines Theologen-Blogs zu würdigen weiß.
Danke Herr Wolff für diesen Diskussionsanstoß.
Der heutige Tag wird eine Zäsur für Deutschland sein. Denn die deutsche Klimapolitik hat zurecht eine schallende Ohrfeige aus höchster Instanz, dem BVG erhalten. Ein endgültiger Beweis für berechtigtes und legitimiertes ziviles Aufbegehren der Klimabewegungen der nächsten Generation. Das BVG hat das Klimaschutzgesetz von 2019 aufgrund seiner Inkonsequenz als verfassungswidrig erklärt. Somit sind letztlich auch die verbissendsten Klimaleugner am Ende ihrer Binsenweisheit, und auch die Bahn ist frei in Richtung einer planbaren Zukunft für Wirtschaft und Politik. Es gibt kein zurück mehr zu alter „Normalität“. Nun werden wir uns alle an eine andere gewöhnen müssen. Ob wir das wollen oder nicht. Vielleicht haben wir die Normalität selbst verspielt, die eigentlich keine war weil unsere Ziele zu egoistisch waren? Das Virus wäre wohl nicht so erfolgreich , wenn unser System die Patente der Impfstoffe hätte freigeben, und sie weltweit frei produziert, und nonprofitabel verteilt hätten werden können. Vielleicht braucht es ja in dieser Zeit gerade mal wieder einen Pater Paneloux (A.Camus/Pest) dessen Ausführungen der sachliche Betrachter als „absolut unwiderlegbar“ empfand. Heute würde das Thema wohl weniger drastisch von der Kanzel formuliert werden, was ja auch gut so wäre, aber meines Erachtens dennoch nötig. Doch dieses Kapitel der unzulänglichen Zuständigkeiten erwähnten Sie ja bereits Herr Wolff. Woran es auch immer liegen mag, gibt es doch zu denken.
Lieber Christian Wolff,
vielen Dank für diesen Beitrag. Ich kann Sie nur bestätigen in der Sicht auf diese Pandemie und den Zustand der Gesellschaft. Dazu will ich aus persönlichem Erleben berichten, obgleich es eigentlich wohl nicht öffentlich geschehen sollte.
Seit Anfang März sah ich mich mit einem massiven medizinisch angenommenen Verdacht konfrontiert, der in seiner Wucht die Pandemie und mithin Corona vollkommen in den Hintergrund drängte: Verdacht auf Bronchialkarzinom. Was daraus folgte, war eine Ochsentour durch Facharztpraxen, Kliniken, Diagnostiken und Ungewissheiten, die mich mit Fragen konfrontierte, die ich mir in der „Normalität“ meines bisherigen Lebens nie wirklich gestellt habe. Bis hin zu der Frage: „Herr, lehre doch mich, dass ein Ende mit mir haben muß…“ Es war ein „Höllenritt“, der eine tiefe Erfahrung und Lehre war.
Und es wurde mir klar, dass es – egal, wie es ausgeht – nicht weitergehen wird, wie bislang.
Gestern kam dann die erlösende Nachricht aus der Klinik, in der die finale Diagnostik stattfand: Nein, der Verdacht kann nicht bestätigt werden, es handelt sich um eine schlecht bzw. nur langsam abheilende Entzündung. Die Prognose ist damit eine, die in die Zukunft weist und geschenktes Leben bedeutet.
Die Erfahrung sitzt tief. Und nun ist alles auf dem Prüfstand. Das Leben wird eine Neufassung bekommen. Es wird die alte „Normalität“ nicht geben können … und dürfen…
Für mich ist diese Erfahrung auch für den Umgang mit diesem Pandemiegeschehen leitend. Was wir in den vergangenen Monaten durchlebt und vielfach auch durchlitten haben, verlangt von uns als Gesellschaft, uns bewusst zu machen, wie wir zukünftig unser gemeinsames Leben (und Existieren) organisieren wollen und können. Es gehört alles auf den Prüfstand. Und das ist die sehr große Chance und Verheißung!
Ich hoffe und wünsche, dass wir das erkennen.
Ich grüße herzlich.
Wir müssen ehrlich, ich auch vor mir selbst gestehen, dass es nicht einfach ist , mich vom Leitbild der Normalität, vom inneren ‚Autopiloten‘ zu befreien und wieder mit allen Sinnen ,mit dem geweckten Gewissen in eine Terra incognita zu schauen, nur bis zur bescheidenen nächsten Ecke. .. und diese Ungewissheit aushalten zu können. Die Propheten , wer hat sie innerlich präsent? Ich lese zwar lieber im alten Testament. Mir erschließt sich da wirklich viel begreifbar, was Leben und Zusammenleben uns in jedem Moment ohne Autopiloten abverlangt. Wichtiger sind mir aber die Menschen im ‚ hier und Jetzt‘ , die mir begreifbar und berührbar von ihrem täglichen Ringen berichten oder ihrem Scheitern , ihren Prüfungen, ihrer Angst, Ihrer Unsicherheit , Scham und empfundenen Schuld sprechen können. Dann muss ich auch nicht angeben, kann eher kleine Brötchen backen und das unangenehme Ziehen aushalten, das Gewohnheiten in mir auslösen , wieder zur Normalität zurückzufallen. Erstmal kostet Verzicht, erst dann, wenn ich beharrlich bleiben kann kann sich der Moment einstellen , mich stolz und befreit zu fühlen von Zwängen, mich anderen Suchenden eher öffnen und anvertrauen zu können mit meinem oft unzulänglichen Ringen ,mit meinen Entzugsgefühlen , wenn ich den Pfad der Selbstverständlichkeit aufgebe. Die dann oft mögliche empfundene Nähe zu Menschen , die sich und ihr Gewissen auch mühen, ist der Lohn. Erst, wenn ich da bin , traue ich mich auch in einen öffentlichen Dirkurs, wie wir ihn hier versuchen. Sonst habe ich Angst, in eine Predigt zu geraten , wie die des Paters in der Pest von À.Camus, die nicht weckt, sondern voll Schuld , überwältigt resignieren könnte. Der persönliche Austausch mit Ringenden und meine Gewissenserforschung machen mir schnell klar, ob ich mit Auropilot unterwegs bin, oder den Weg in eine Terra incognita , bedächtigen Schritts riskiere, mit Pausen, wenn ich Erschöpfung spüre, denn der Weg ist lang und anspruchsvoll und verspricht Begegnungen und Bestärkungen mit anderen Suchenden. Es braucht ja wirklich nur wenig Sauerteig und Geduld, damit das Brot aufgehen kann.
Lieber Herr Viertmann, ich bin mir nicht sicher, ob wir so defensiv mit der Frage nach der Botschaft eines das Leben veränderndes Ereignis umgehen müssen. Ich stimme Ihnen zu: Die Normalität übt eine große Anziehungskraft aus. Das geht mir so wie Ihnen und Michael Käfer. Dennoch wird uns diese auf Dauer wenig befriedigen – vor allem dann nicht, wenn wir uns einlassen auf die prophetische Kritik. Dass dieser wichtige Aspekt des biblischen Glaubens heute nur noch eine untergeordnete Rolle spielt, sollte uns nicht davon abhalten, uns dieser Prüfung zu unterziehen. Es geht da weder um Überheblichkeit noch um Schuldzuweisung, sondern schlicht und einfach um die Frage des eigenen Beteiligtseins an den derzeitigen Zuständen – und natürlich um die Zuständigkeit für Veränderungen. Dass ein solcher Prozess durchaus anstrengend und anspruchsvoll ist – da stimme ich Ihnen zu. Aber ich halte ihn auch für Kraft spendend – im Sinne von „Sauerteig und Geduld“. Mir kommt es derzeit auch darauf an aufzuzeigen, dass wir in unserem Glauben viele Möglichkeiten vorfinden, sich konstruktiv mit globalen Krisen zu beschäftigen, ohne in Fatalismus oder „Strafgerichte“ zu verfallen. Beste Grüße Ihr Christian Wolff
Mein erster Eindruck war: etwas sperrig, die Überschrift. Aber nach einigen Minuten Nachdenken dann: stimmt – darum geht es, darüber müssen wir intensiv nachdenken.
Natürlich will auch ich zurück zur „Normalität“, was immer jedermann darunter verstehen mag…
Für mich könnte sie sein: Familie und Freunde endlich wieder besuchen, ins Kabarett oder ins Kino gehen, bei einem Ausflug auch mal wieder einkehren, um die Ecke abends ein frisch gezapftes Bier trinken, nachmittags auf dem Freisitz ein „Viertele“ bei meiner bevorzugten Weinhändlerin genießen, an Diskussionen wieder „real“ teilnehmen…
Aber die Zäsur der letzten 14 Monate war tiefer, Christian’s biblische Einordnung zeigt es eindrucksvoll. Daher stimme ich ihm vollkommen zu, dass diese Pandemie ein massiver Angriff auf unsere ach so lieb gewordene Lebensweise mit all ihrer zerstörerischen Gewalt ist.
Wir können uns nicht mehr leisten,
• den gesellschaftlichen Diskurs mit der Erörterung absolut nebensächlicher Fragen (Maskenpflicht, angebliche Unterdrückung der Rede- und Versammlungsfreiheit, „Coronadiktatur“, usw.) abzuwürgen
• immer nur über die „Systemrelevanz“ bestimmter Tätigkeiten zu reden und sie anerkennend zu beklatschen, statt adäquat zu bezahlen
• uns permanent ob unserer Exzellenz in Sachen Ingenieurskunst, Innovationsfreude, Projektmanagement oder Organisation auf die Schulter zu klopfen, statt eine nüchterne Bestandsaufnahme unserer Defizite und eine zielführende Strategie zu deren Behebung zu entwickeln
• die zunehmenden moralischen Defizite (persönliche Bereicherung in Notsituationen, „Versilbern“ gewachsener Kontakte, stetiges Vergrößern der Chancen-, Einkommens- und Vermögens-Schere…) unter den Teppich zu kehren, statt sie zu bekämpfen
Deshalb: ja, Christian, deuten wir die Zeichen der Zeit richtig, versuchen wir, Zukunft besser zu gestalten!
Meine persönliche Wichtung wäre dabei
• Ernsthafte Klimapolitik – wir schaffen deutlich ambitioniertere Ziele für Deutschland als die bisher definierten (Kohleausstieg, CO2-Neutralität, Einstellung der Produktion von Verbrennungsmotoren…)
• Soziale Marktwirtschaft neu denken – man könnte auch sagen, deren soziale Komponente wieder stärker betonen (Recht auf Arbeit, Wohnen, gesellschaftliche Teilhabe, ein würdevolles Leben im Alter; Einkommens- und Vermögensunterschiede begrenzen, Erbrecht an den bestehenden extremen Vermögensunterschieden ausrichten, gesellschaftliche Grundbedarfe nicht über privatwirtschaftliche Lösungen befriedigen…)
• Globale Mindeststandards für Steuern, Gesundheitswesen, Ernährung, Rechtssystem, Meinungsfreiheit, Wettbewerb, Migration….. definieren und umsetzen
Natürlich zeigen diese Überlegungen auch meine Naivität/ Blauäugigkeit. Aber ein einfaches „weiter so“ darf es m.E. nicht geben. Ich habe mich entschieden, im kommenden Bundestagswahlkampf ein wenig aktiver mitzumischen…
Danke, lieber Michael. Ich fühle mich absolut richtig verstanden.