Sie bleibt ein großartiges Ereignis in der europäischen Geschichte: die Friedliche Revolution. Der 9. Oktober 1989 ist ein Tag, der nicht vergessen werden darf: 70.000 Bürgerinnen und Bürger zogen nach den Friedensgebeten in Leipzig um den Ring, um ein offenes Land mit freien Menschen einzufordern. Zum ersten Mal in ihrer Geschichte stand die evangelische Kirche auf der richtigen Seite der Barrikaden. Sie erwies sich als das „Basislager der Friedlichen Revolution“ (Werner Schulz). Daran gilt es jedes Jahr neu zu erinnern, wie den Umstand zu feiern, dass das System von Demütigung und Entmündigung des SED-Staates ohne Gewalt, mit Kerzen und Gebeten, zum Einsturz gebracht werden konnte. Mit der Öffnung (!) der Grenzen wurde der langjährigen Friedens- und Ostpolitik eines Willy Brandt und Egon Bahr zum Durchbruch verholfen. Die dann folgende Vereinigung der beiden deutschen Staaten war nur möglich, weil das neue Deutschland sich als Teil des vereinten Europas verstand (Präambel des Grundgesetzes) und alle nationalen Ansprüche der europäischen Einigung unterordnete.
Da ich zu denen gehöre, die 1989 nicht in Ostdeutschland gelebt, sondern die Ereignisse im Oktober eher passiv in Westdeutschland (ich selbst saß mit gebrochenem Fuß vor dem Fernseher) beobachtet haben, möchte ich mich nicht an den Debatten beteiligen, wer nun welchen Anteil an der Friedlichen Revolution 1989/90 hatte. Als einer, der seit Anfang 1992 in Leipzig lebt und das Glück hatte, als Pfarrer an der Thomaskirche den gesellschaftlichen Transformationsprozess in Leipzig mitgestalten zu können, möchte ich den Fokus auf eine andere Entwicklung richten: Wir blicken in diesen Wochen auch auf 30 Jahre kollektiver Gedankenlosigkeit in West- und Ostdeutschland zurück und müssen uns mit deren Folgen auseinandersetzen. Was ich damit meine? Als sich 1989/90 in Ostdeutschland die Verhältnisse radikal veränderten, hätten auch in Westdeutschland die Signale auf Umbruch, Aufbruch, Reform stehen müssen: Die Demokratie war erlahmt; die Wirtschaft, vor allem die Autoindustrie, befand sich in einer tiefen Krise; die Mobilität bedurfte insbesondere in den Großstädten einer Umsteuerung (Gütertransport weg von Straße auf die Schiene, Ausbau des ÖPNV); in der Klima- und Energiepolitik hätte spätestens nach Tschernobyl umgesteuert werden müssen; die Kirchen hätten endlich auf den Mitglieder-Exodus reagieren müssen, statt unbesehen das westdeutsche Kirchensystem auf Ostdeutschland zu übertragen).* Diejenigen, die damals schon lebten, werden sich daran erinnern, dass die Autoverkaufshäuser Anfang 1989 keine Gebrauchtwagen mehr annahmen. Doch Mitte November 1989 waren dann die riesigen Abstellflächen leer. Alle Gebrauchtwagen wurden in Ostdeutschland und osteuropäischen Ländern verkauft. Von einer Mobilitätswende war keine Rede mehr. Spätestens seit der Deutschen Einheit im Oktober 1990 hatten sich alle Reformen und Erneuerungsbestrebungen erst einmal erledigt. Es galt, die Bedürfnisse eines Marktes mit 16 Millionen neuen Konsument/innen zu befriedigen.
Der damit verbundene Anpassungsdruck führte in Ostdeutschland dazu, dass sehr viele Menschen das machten, was ihnen über Jahrzehnte aufoktroyiert wurde: sich anzupassen und die Ziele, die die Akteure der Friedlichen Revolution formuliert hatten, nicht weiter zu verfolgen. Auch in Westdeutschland wurden alle Bestrebungen, ein durch die Vereinigung neues Deutschland entstehen zu lassen, erst einmal auf Eis gelegt. Mehr noch: das Wichtigste, nämlich die Neuaneignung der Demokratie, die Gestaltung einer offenen, auf Europa ausgerichteten Gesellschaft, wurde vernachlässigt. Damit blieb ein wichtiger Prozess völlig unterentwickelt: nämlich die radikalen Veränderungen, die mit Verlusterfahrungen (Arbeit, Wohnung, familiäre Bindungen) verbunden waren, mit dem Aufbruch zur Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in Einklang zu bringen. Die fatale Folge: Die rechtsstaatliche, freiheitliche Demokratie wurde eher als Bedingung für die persönlichen Schwierigkeiten angesehen denn als eine Möglichkeit, sich aktiv am gesellschaftlichen Leben beteiligen zu können. Der Satz von Bärbel Bohley (1945-2010) „Wir wollten Gerechtigkeit und bekamen den Rechtsstaat“ erwies sich von heute her gesehen als ein gefährlicher Brückenschlag zur mangelnden Demokratieakzeptanz in Ostdeutschland . Das, was Bärbel Bohley zum Ausdruck brachte, fand in den Klassenzimmern unzähliger Schulen seine Fortsetzung – nach dem Motto: Das, was wir heute an Demokratie haben, ist auch nicht viel besser als die DDR. Genau dieses Narrativs bedienen sich heute die Rechtsnationalisten von der AfD.
In gleicher Weise verlor sich die Initiative aus den frühen 80er Jahren nach 1990 ins Nichts, die das System der DDR radikal infrage stellte und ganz wesentlich zur Friedlichen Revolution beigetragen hat: der konziliare Prozess für Gerechtigkeit, Frieden, Bewahrung der Schöpfung. Die gewaltsamen Auseinandersetzungen auf dem Balkan ab 1990 wie der Golfkrieg 1991 erwiesen sich als Fanal: Offensichtlich sollte aller Welt klar gemacht werden, dass die Botschaft der Friedlichen Revolution „Keine Gewalt“ für die globale Politik kein Maßstab werden darf. Also wurde und wird den Menschen die Hoffnung ausgetrieben, dass langfristige Friedensstrategien unter Verzicht auf Krieg weiter und wieder Anwendung finden. Dennoch dachte ich, als ich 1992 nach Leipzig kam, dass der konziliare Prozess, der auch in Westdeutschland das kirchliche Leben vieler Gemeinden bestimmt hatte und der sich als eine glückliche Verbindung von Glaubensüberzeugung und praktischem Tun erwies, den Erneuerungswillen der Menschen in Ostdeutschland nährt. Doch da war in den Gemeinden kaum noch etwas zu spüren von dem Geist, der 1988 die Ökumenische Versammlung in der Dresdner Kreuzkirche zu einem Höhepunkt im Vorfeld der Friedlichen Revolution machte. Wenn man heute die Dokumente liest, dann kann man zwei Dinge erkennen:
- Der konziliare Prozess nahm Ost und West, Nord und Süd unserer Welt in den Blick und erwies sich als eine an den Menschen ausgerichtete Globalisierung des Glaubens, Denkens und Handelns, ohne das eigene Umfeld aus den Augen zu verlieren: „global denken, lokal handeln“ lautete die Devise.
- Alle Themen, die heute neu aufgebrochen sind und uns jetzt auf und vor die Füße fallen, werden in den Dokumenten benannt und mit Handlungsmaximen versehen: Zusammenhalt in der Gesellschaft, Vielfalt, Migration, Klima, Friedensicherung.
Bleibt die Frage: Lässt sich nachholen, was kollektiv, d.h. unter Beteiligung eines jeden einzelnen sowie der großen gesellschaftlichen Institutionen wie Parteien, Gewerkschaften, Kirchen, Bildungseinrichtungen, Medien verdrängt, ausgeblendet, vernachlässigt wurde? Sicher nicht in dem Sinn, dass 30 Jahre Versäumnisse ungeschehen gemacht werden können. Aber niemand hindert uns daran, jetzt endlich wieder an die Impulse für den großartigen Aufbruch zur Demokratie 1989/90 und des konziliaren Prozesses anzuknüpfen. Dabei sollten wir auch immer wieder daran erinnern, dass wir auf Dauer ohne ein in den biblischen Traditionen verwurzeltes Wertesystem und Menschenbild nicht auskommen –oder anders formuliert: Wer glaubt, die Säkularisierung und Entfremdung von den Kirchen würden ohne gesellschaftliche Folgen bleiben, wird eines Schlechteren belehrt. Denn da gerät genau das unter die Räder, was wesentlich die Friedliche Revolution bestimmt hat und jetzt wieder auf der Tagesordnung steht: Stärkung der Demokratie und Orientierung an den Grundwerten des Glaubens und der Verfassung. Ist es ein Zufall, dass laut einer neuen Untersuchung die „Generation Mitte“ (30 – 60-Jährige) über zunehmende Aggressivität, Rücksichtslosigkeit und Egoismus klagen und den gesellschaftlichen Zusammenhalt vermissen? Hängt das vielleicht auch damit zusammen, dass wir viel zu lange nur unserem je eigenen, egoistischen Anspruch auf Leben verfolgt haben, anstatt Solidarität lokal und global einzuüben? Die Zeit für neue Aufbrüche ist da.
* 1990 – damals war ich Pfarrer an der Unionskirche in Mannheim-Käfertal – haben wir eine „Revue für den Regenwald“ durchgeführt und kritisiert, dass im Neubau des Alten- und Pflegeheims „Unionshaus“ Tropenholz verarbeitet wurde. Wenig später fand eine Veranstaltung zu neuen Mobilitätskonzepten in Großstädten ohne Autos statt.
8 Antworten
Pardon, lieber Herr Wolff – ich freue mich also über eine Übereinstimmung zwischen uns!
Andreas Schwerdtfeger
Es scheint, als bliebe der Aufschrei aus! Das „Unwort“ von vor ein paar Beiträgen ist nun also salonfähig – und warum eine Parole von rechts als „hirnlos“ bezeichnet werden darf, ein Echo ohne eigene Meinung aber nicht, bedarf der Erklärung. Der Hinweis auf die groß geschriebene Verantwortung ist gut, die anschließenden Kommentare sind – leider – einseitig und verdeutlichen genau das Problem, daß wir in Deutschland und woanders sicherlich auch haben: Denn es ist ja usus in der deutschen Politik und Gesellschaft allgemein – und eben leider keineswegs auf die Rechten beschränkt – daß man sich in persönlichen Abfälligkeiten ausdrückt, um neben Darstellung der eigenen Meinung zugleich die Abwertung des Gegenübers zu bewerkstelligen (Herr Stegner in der SPD, mag hier für viele andere in allen Parteien und Gruppierungen stehen). Es ist ja entlarvend, daß der ehrenwerte Herr Dresel in seinem Schlußparagraphen nur „Rechtsradikale, Geschichtsvergessene, Hetzer“ als unwürdig eines Toleranzanspruches definiert – mir fielen ebenfalls Linksradikale (besser noch Radikale aller Art), moralische Besserwisser, fanatische Rechthaber und Ideologen, etc ein.
Und da kommt dann Ihre Frage, lieber Herr Wolff, ins Spiel: Ich fürchte den Streit nicht, wie Sie ja wissen und manchmal an mir kritisieren (es ist wohl mehr eine Redewendung, an der Sie sich hier gerieben haben); was ich aber fürchte ist, daß ein Jeder im Streit Argumente zur Stützung seiner Position anführt, die er bei dem Gegenüber nicht gelten läßt. Nehmen wir ein Beispiel: Es wird seitens der Gutmenschen dieser Welt – nach der neuen Luther-Biografie von Lyndal Roper (sehr empfehlenswert) nannte dieser solche Menschen „Schwärmer“ – immer wieder gegen die „Ausgrenzung“ gewettert und dies natürlich zu Recht. Nur übersehen sie allzu gerne, daß sie selbst ja auch ausgrenzen, nämlich alle – und insbesondere gegenwärtig die Rechten – , die anderer Meinung sind als sie, auch wenn sie nicht zu den radikalen Anführern gehören, sondern nur auf Werten wie Nation, Heimat, Tradition, etc, bestehen (vielleicht fälschlich, aber sie tun das ja bekanntlich, weil sie eben keine Dummerchen sondern mündige Bürger sind, wie ich gelernt habe; also verdienen sie, ernst genommen zu werden). Auch Demonstrationen sind eine Form der Ausgrenzung, denn sie schließen ja bewußt den Dialog aus und die mitgeführten Plakate sind in ihrer Verkürzung häufig aggressiv und intolerant – von den Aussagen einiger am Rande Befragter ganz zu schweigen.
Sie, Herr Wolff, zitierten Frau Bohley – „wir wollten Gerechtigkeit und bekamen den Rechtsstaat“ – mit offensichtlichem Wohlwollen und mit offensichtlicher Zustimmung der in diesem Satz polemisch enthaltenen Kritik. In Wirklichkeit kann man ja nur sagen: Zum Glück war und ist es so, denn Gerechtigkeit ist ein subjektiver und schwammiger Begriff, der – die Gegenwart zeigt es – zu Neid, Bürokratie und Verschwendung führt; Rechtsstaatlichkeit dagegen ist objektiv und meßbar (wenn, wie bei uns, die Gerichte unabhängig ihre Arbeit machen können) und diese also wollen wir. Bohleys Aussage – sie klingt ja gut – ist also in Wirklichkeitbei bei allem Respekt genau das, was wir nicht wollen: Egoismus, Alleinvertretungsanspruch, Intoleranz.
Andreas Schwerdtfeger
Da haben Sie mich, lieber Herr Schwerdtfeger, völlig falsch verstanden. Ich zitiere Bohley nicht mit „offensichtlichem Wohlwollen“ sondern sehr kritisch, weil solche Äußerungen mit zur mangelnden Akzeptanz der rechtsstaatlichen Demokratie beigetragen haben. Christian Wolff
Lieber Christian: Wie so oft trifft Dein Kommentar „ins Schwarze“!
Mir läuft dieser Tage immer wieder die wohl neue AfD-Parole von einem „betreutem Denken“ über den Weg. Wieder so eine hirnlose Parole, die Emotionen bei den Ostdeutschen hochkochen soll bei den „sorgenvollen Bürgerlichen“.
Die AfD-Phrase vom „betreutem Denken“ darf so nicht unwidersprochen stehen bleiben!
Das „Denken“ ist „frei“ und im GG geschützt. Die Wahlen sind „geheim“. Es hat zu keiner Zeit in Deutschland eine Staatsform gegeben, die „freier“ war als die heutige bundesdeutsche Demokratie.
Worum es hier geht ist VERANTWORTUNG. Der Mensch in einer Demokratie hat eine sehr große Verantwortung. Gerade weil er „frei“ Denken soll und seine Entscheidungen „frei“ sein sollen – mit Verantwortung für die Demokratie und einen liberalen und sozialen Staat des GG. Das kann in den neuen Bundesländern nicht anders sein!
Es hat weder mit Bildung, Denken und Verantwortung zu tun sondern viel mit EMOTIONEN und Gefühlsausbrüchen, wenn von „Schandmälern“ und „Vogelschiss“, „Messermännern“ geredet wird, um monströse Verbrechen in der eigenen Geschichte zu relativieren und Verantwortung weg zu schieben und gegen Minderheiten zu hetzen.
Das Attribut vom „Bürgerlichen“ ist eine Phrase, solange dem „Bürger“ keine Verantwortung für die Vergangenheit und Zukunft zugeschrieben wird. „Bürgerliche Freiheit “ ist nicht beliebig und bedeutet keinen Toleranzanspruch und Schutz für Rechtsradikale, Geschichtsvergessene, Hetzer!
Ja, man fragt sich schon, wie es kommen konnte, daß die Kirchen in Deutschland einen solchen Mitgliederschwund und Überzeugungsverlust erleiden müssen, obwohl doch Kirchentage oder Papstmessen gerade auch bei der Jugend beliebt sind und eigentlich auf das Gegenteil hindeuten könnten.
Zunächst mal gilt wohl auch hier, daß die Bindungsbereitschaft der Menschen an feste Gruppierungen – Parteien, Vereine, eben auch institutionalisierte Kirchen – generell abnimmt. In unseren westlichen Demokratien sind die Menschen „beweglicher“ geworden und reagieren schneller auf Richtungsänderungen, Stimmungen, etc.
Als nächstes – Herr Wolffs Beitrag zeigt es – nimmt das Geschichtsbewußtsein ab und ideologische Interpretation des Vergangenen nimmt überhand. Niemand wird Brandt und Bahr ihren Beitrag zum Anstoß eines politischen West-Ost-Ausgleichs wegnehmen oder auch nur kleinreden, wenn er die großartige Leistung der Regierung Kohl – die immerhin fast das gesamte Jahrzehnt vor der Wiedervereinigung hierzulande am Ruder war – in einem solchen Beitrag erwähnt (was hier aber vergessen wurde). Niemand wird auch die Friedenspolitik Brandts/Bahrs kleinreden, der auf die Kanzler Schmidt und dann Kohl, hinweist, die nur mit Hilfe der NATO und auf der von dieser gewährleisteten Grundlage an Sicherheit und Friedensbereitschaft dieses Werk umsetzen konnten.
Weiterhin wird wohl – der Mensch ist nunmal, wie ja auch die augenblickliche Sozialpolitik zeigt, sehr materialistisch orientiert – die unselige Kirchensteuerpolitik eine Rolle im Schwindsuchtsprozess spielen. Jeder kennt die Fälle, wo die evangelische Kirche im Gebiet der ehemaligen „DDR“ auch noch rückwirkend Steuern erheben wollte; viele aber auch werden nicht mehr bereit sein, Kirchen zu finanzieren, deren Glaubwürdigkeit aus verschiedensten Gründen in Frage steht.
Und schließlich wird eben vielen Menschen nicht gefallen, daß die Kirche oder ihre Vertreter Amt und Stellung mißbrauchen, um im konkreten Fall konkret politische Meinung zu beziehen, anstatt „Richtung zu weisen“ und ethisch-moralischen Anhalt anzubieten. Herr Wolff selbst ist ja, wie sich hier zeigt, unter Betonung seines Pfarramtes politisch stark engagiert – was sein gutes Recht ist – und dies muß ja logischerweise alle diejenigen abschrecken von der Kirche, die eben politisch anderer Meinung sind (und dies zumal natürlich in einer zunehmend polarisierten Welt).
Ich freue mich, daß Sie, Herr Wolff, Ihren Beitrag mit einer positiven Note begonnen haben, denn zu wenig wird heute angesichts nach wie vor bestehender Schwierigkeiten, das Positive des ganzen Wiedervereinigungsprozesses von damals bis heute hervorgehoben. Auch der Bericht von Herrn Weiss beeindruckt durch seine Nähe zum damaligen Geschehen und durch die Betonung des Beitrags der Menschen vor Ort in Stil und Inhalt zu diesem einmaligen politischen Prozess. Niemand wird bestreiten, daß dieser Prozess nicht nur Erfolg ist und war, daß Fehler gemacht worden sind, daß schon damals vorhandene Erkenntnisse unbeachtet blieben, daß er auch mit enttäuschten Hoffnungen verbunden ist. Aber niemand sollte auch übersehen, daß trotz aller dieser Mängel die deutsche Wiedervereinigung – ein in der Geschichte einmaliger und beispielloser Vorgang – trotzdem ein unglaublicher Erfolg vom Anfang bis heute ist und daß dieser Erfolg denjenigen zu verdanken ist, die nicht immer nur das Optimum im Blick hatten sondern sich auf das Machbare konzentrierten. Und daß mit den Vorteilen der Demokratie auch die Nachteile des Kapitalismus den Vorgang bestimmten und bestimmen – ja, wen wundert’s. Denn „Stärkung der Demokratie und Orientierung an den Grundwerten des Glaubens und der Verfassung“ als Lösung anzubieten, taugt erst dann, wenn man diese beiden Postulate im Detail definiert hat (was Sie, lieber Herr Wolff, ja immer mit Bedacht vermeiden) – und dann wird, so fürchte ich, die Generation 30-60, die Aggressivität so ablehnt, plötzlich in ziemlichem Streit miteinander und darüber hinaus sich wiederfinden.
Ich grüße Sie,
Andreas Schwerdtfeger
Lieber Herr Schwerdtfeger, vielen Dank für diesen sonntäglichen Kommentar, der erfreulicherweise frei ist von allen Befindlichkeiten. Zwei Anmerkungen: 1. Wer aufmerksam die Blog-Beiträge liest und die Aktivitäten zum Beispiel des „Aufruf 2019“ verfolgt hat, wird schnell erkennen, dass Vieles der Konkretisierung der beiden Postulate (Stärkung der Demokratie und Orientierung an den Grundwerten) dient. Insofern muss ich da nichts weiter „im Detail“ hinzufügen. 2. Wieso fürchten Sie den Streit? Er ist doch völlig normal. Nur ist Streit etwas anderes als Rücksichtslosigkeit, Aggressivität und Egoismus. Streit ist die notwendige Auseinandersetzung um das, was uns zusammenhält. Beste Grüße Christian Wolff
Und ich schließe mich Ihnen sehr an, lieber Herr Th. Weiß! Zum letzten Kirchentag in der damaligen SED-DDR im Sommer 1989 war das Thema Konziliarer Prozess permanent in Einzelgruppen-Treffen. Ich war damals für eine Dresdner Gruppe Gesprächsleiter und wir initiierten gemeinsam mit anderen Gruppen eine Initiative zur Verhinderung eines geplanten Atomkraftwerkes in Stendal (so erinnere ich es). Und in Dresden gab es eine massive Kontrabewegung gegen ein geplantes Reinsiliziumwerk, was trotz Stasi Aktionen verhindert werden konnte. Ein Mahngottesdienst im Stadtteil Plauen, unter dem damaligen Sup Chr. Ziemer war für alle Engagierten ein Signal und Hoffnungszeichen, dass es in der SED-DDR möglich war (freilich mit Konsequenzen für Einzelne), aufzubegehren. Heute zeigt sich Kirche schwach und unengagiert – die massiven Austrittsbewegungen dokumentieren es. Eine große Chance wird vertan – warum nur ? Wann wird es endlich ein Erwachen geben. Ich gebe die Hoffnung nicht auf, und solche Blogs wie von Chr. Wolff sollten endlich gehört, verstanden werden. Herzliche Grüße – Jo.Flade
Lieber Christian Wolff, ich weiß garnicht, wie ich Ihnen danken soll für diesen Beitrag. Er bringt jedenfalls etwas sehr wesentliches auf den Punkt und uns Bewußtsein zurück, was geradezu essentiell war für ein unabhängiges Denken, vor allem der damals jungen Generation ohne das die Ereignisse von 89/90 unmöglich gewesen wären: den konzilliaren Prozeß! Ich erinnere gut und lebhaft, wie wir uns mit den Fragestellungen dieses Prozesses bereits in den späten 70igern und dann verstärkt in den 80igern in den Jungen Gemeinden, später auch den Studentengemeinden auseinandersetzten. Und ich erinnere die gewaltige inhaltliche und argumentative Kraft, die uns in diesen Auseinandersetzungen zu wuchs. Und ich erinnere dankbar all die Vortragenden und zur Diskussion offenen Intellektuellen, die Gast in unseren Zusammenkünften waren, mehrheitlich übrigens aus dem Osten und durchaus nicht immer konfessionell gebunden… Dieser konziliare Prozess hat sogar in die DDR-Schulen hinein gewirkt. Die Inhalte waren im Fachunterricht jedenfalls diskutierbar und standen eben nicht per se „unter Verdacht“, jedenfalls in meiner Schule, dem Winckelmann- Gymnasium in Stendal (damals EOS)… Andere, eben so wichtige hoffnungsträchtige Impulse gewannen wir aus dem KSZE-Prozess und bestimmten UNO-Aktivitäten. Das alles war geradezu konstitutiv für das Denken, das mich jedenfalls bis heute prägt.
Was die Kirchen betrifft, kann ich in diesem Sinne zustimmen- Sie waren die Arche, die uns diese Weltsicht, die sich als nur zu richtig erwies, zugänglich gemacht haben, in einem denkerischen weiten und erkenntisträchtigen Raum, der heute seines gleichen sucht. Und ich beklage, dass die „Ost“-Kirche sich von der auch strukturell wesentlichen Entwicklung, die sie unter der DDR genommen hatte (gar dazu gezwungen war…) so fix mit der Vereinigung hin zu amtskirchlichen Strukturen der BRD verabschiedet hat. Es war aus heutiger Sicht ein geradezu zivilisatorischer Fortschritt, dass die DDR-Kirche eben keine hierarchische Kirche mehr war, sondern wirklich auf Augenhöhe aller Gläubigen und eben auch „Ungläubigen“ lebte.
Ja. es war in den 70igern und 80igern alles ausgesprochen und gesagt, ja erkannt. Es hatte keine Konsequenzen. Ich ahnte das seinerzeit, als ich die Ergebnisse der ersten freien Wahl in der damals noch DDR zur Kenntnis nehmen musste. Ich glaube, das kann man so benennen: Eine einmalige, leider vertane Chance.
Wie gesagt: ich danke sehr für diesen Beitrag!
Herzlichen Gruß
Thomas Weiß