„Dahergerede“ nennt der Politikwissenschaftler Herfried Münkler in einem Artikel in der aktuellen Ausgabe der Wochenzeitung „DIE ZEIT“ die Einlassungen von Rüdiger Safranski und Peter Sloterdijk zur Flüchtlingsfrage. Beide Philosophen stimmten in der ihnen eigenen Diktion in den Chor derer ein, die die Flüchtlingspolitik von Angela Merkel als „Staatsversagen“ kritisieren und die sofortige Sicherung der nationalen Grenzen gegen den Übertritt der aus Kriegs- und Notgebieten Geflüchteten auf deutsches Territorium fordern: „Die deutsche Regierung hat sich in einem Akt des Souveränitätsverzichts der Überrollung preisgegeben.“ (Peter Sloterdijk) und „Es herrscht in der Politik eine moralistische Infantilisierung.“ (Safranski) Der Bundesregierung wirft Safranski vor, ohne Befragung der Bürgerinnen und Bürger Deutschland mit Flüchtlingen „geflutet“ zu haben. Nun bin ich mir ziemlich sicher, dass die beiden Philosophen sich nicht auf dem Hintergrund eines Besuches in einer Erstaufnahmeeinrichtung oder von Gesprächen mit Geflüchteten über deren Geschichte, Hoffnungen und Ängste geäußert haben. Auch nehme ich nicht an, dass beide mit einer oder einem der Hunderttausenden ehrenamtlichen Helfer/innen oder einem in den Sozialämtern engagierten Angestellten gesprochen haben. Denn spätestens da hätten den Herren Redewendungen wie „moralistische Infantilisierung“ (Safranski) oder „wohltemperierte Grausamkeit“ (Sloterdijk fordert diese im Blick auf die Fluchtbewegungen) im Halse stecken bleiben müssen. Muss sich eine pensionierte Grundschullehrerin, die Woche für Woche Sprachunterricht in einer Asylunterkunft erteilt, mit einer solchen Häme aus dem philosophischen Ohrensessel heraus gesprochen beleidigen lassen: Was du da machst, ist nichts anderes als ein kindisches Gutmenschengetue (freie Übersetzung von Safranskis Redewendung)? Was treibt hochgebildete Menschen dazu, so verächtlich über die „daherzureden“, die durch ihr praktisches Tun die Grundwerte hochhalten, auf die wir diejenigen, die bei uns Zuflucht suchen, verpflichten wollen? Und was veranlasst einen Peter Sloterdijk dazu, der Politik „Souveränitätsverzicht durch Überrollung“ vorzuwerfen? Ist es die in Worte gefasste Sprachlosigkeit der Mitte, über die sich Giovanni di Lorenzo auf der Titelseite der „ZEIT“ Gedanken macht – oder doch eher ein ins Leere gehendes intellektualistischen Gequatsche, das vor allem zwei Defekte in der Mitte unserer Gesellschaft aufdeckt: den Niedergang der politischen Bildung und ein Beziehungsverlust zu den Menschen, die Gott sei Dank in ihrer erdrückenden Mehrheit sich als demokratisch gesinnte Bürgerinnen und Bürger für die verschmähte Willkommenskultur engagieren. Ähnliches ist auch von dem Dahergerede zu sagen, das in den öffentlichen Debatten unter Spitzenpolitikern um sich greift und sich in Talkshows endlos reproduziert. Dort bewegt man sich in Sphären, die mit den Problemen, die jetzt zu lösen sind, relativ wenig zu tun haben. Ob Angela Merkel morgen noch Bundeskanzlerin ist, ob Horst Seehofer noch zu einer Steigerung der „Herrschaft des Unrechts“ fähig ist, ob die AfD bei den kommenden Landtagswahlen 10 Prozent und mehr Stimmenanteil bekommt oder doch schon vor dem 13. März 2016 in ihrem deutschtümelnden, letztlich für rechtsextremistische Parteien so typischen korrupten Brei versinkt – das alles ist ziemlich nebensächlich angesichts der Aufgaben, die jetzt angegangen werden müssen. Warum vermag die „sprachlose Mitte“ das nicht so zu benennen? Eine Vermutung: Viel zu Viele lassen sich von der AfD und den ach so besorgten Pegida-Bürgern treiben und blenden, bis sie selbst in deren egomanischer Gedankenwelt eintauchen und sich als Resonanzboden für deren Parolen betätigen – und das, obwohl wir froh darüber sein können, dass der tragende Teil unserer Gesellschaft weder sprach- noch tatenlos ist. So sollten auch Philosophen darüber reden, dass die Geflüchteten, die jetzt unter uns leben und noch zu uns kommen werden, vom ersten Tag an spüren, dass wir sie in unsere Gesellschaft aufnehmen, integrieren wollen (eine Umschreibung des schönen, aber schon längst vom Zynismus verzerrten Wortes „Willkommen“). Vielleicht sollten wir einen Moment daran denken, dass das Schlimmste, was einem Kind widerfahren kann, die elterliche Botschaft ist: Eigentlich wollten wir dich nicht. Was aber wird aus Menschen, die wochenlang unter dem Ein-Druck leben: Wir sind in dieser Gesellschaft nicht erwünscht? Wie soll so Vertrauen wachsen, die Grundlage jeder Integration? Wie soll sich so ein neues Selbstbewusstsein entwickeln bei denen, die uns eines Tages Autos reparieren, pflegen oder per Taxi zum aus Eritrea stammenden Arzt fahren werden?
Nun weiß ich auch, dass nicht alles rund läuft, Entwicklungen in sich widersprüchlich sind und es genug zu kritisieren gibt an der Politik der Großen Koalition. Es rächt sich bitter, dass der Westen im Nahen Osten in den vergangenen 25 Jahren keinen nachhaltigen Friedensprozess in Gang setzen konnte, sondern kriegerische Konflikte geschürt hat. Ja, unter den Geflüchteten gibt es die zwei, vielleicht auch fünf Prozent, die mit kriminellen Absichten unter uns leben, die nicht bereit sind, sich auf unsere Gesellschaft einzulassen. Auch haben etliche ehrenamtliche Mitarbeiter/innen aus Frustration über das Verhalten von Geflüchteten enttäuscht aufgeben. In den vergangenen Monaten wurden die Schwächen einer ruinös zersparten öffentlichen Verwaltung und Sicherheit schonungslos aufgedeckt. Ebenso zwingen uns die Geflüchteten, endlich den sozialen Wohnungsbau zu reaktivieren, unsere Bildungseinrichtungen, insbesondere die Grund- und Hauptschulen, zu erneuern, Sprachunterricht sofort zu ermöglichen und Arbeitsmöglichkeiten zu schaffen. Dafür muss jetzt kräftig investiert werden und darum muss gestritten werden. Aber: Tag für Tag sind Hunderttausende Menschen damit beschäftigt, den geflüchteten Männer, Frauen, Kindern freundlich zu begegnen, sie zu begleiten und zu integrieren. Das alles ist mühsam, vieles wird improvisiert, manches scheitert – aber das meiste funktioniert. Darüber müssen wir sprechen, es wertschätzen, anerkennen und fördern. Merkwürdig nur, dass das bei den Dauer-Daherrednern ebenso wenig eine Rolle spielt wie der doppelte Skandal in den vergangenen Monaten: die unverhohlen propagierten, hasserfüllten, den Menschen entwertenden Parolen, in deren Windschatten die Exekuteure der Straße über 1.000 Gewaltakte gegen Asylunterkünfte und Geflüchteten veübt haben, und die absolut lächerliche Aufklärungsquote dieser Straftaten. Dabei wäre das das Erste, was man von einem Intellektuellen erwarten kann: Ein Aufschrei aus der sprachlosen Mitte, einen „energischen Aufstand“ für Menschenrechte, den der gerade verstorbene Publizist Roger Willemsen für überfällig erachtete. Was uns das lehrt? Die „sprachlose Mitte“ ist so sprachlos nicht. Sie redet – nur kann an ihrem Reden oft nicht mehr die Haltung erkannt werden. Haltung hat aber vor allem damit zu tun, wie ich dem Nächsten begegne, welche Botschaften ich ihm vermittle und welchen Wert ich der Demokratie, der Freiheit, der Würde des Menschen zumesse und wofür ich eintrete.
Dieser Blogbeitrag wurde angeregt durch vier Artikel in der Wochenzeitung „DIE ZEIT“ Nr. 7/2016: Giovanni di Lorenzo, Die sprachlose Mitte (Seite 1), Herfried Münkler, Wie ahnungslos kluge Leute doch sein können (Seite 7) – Jörg Bong, „Jörg, hier ist Frohsinn“ (Seite 39) – Thomas Assheuer, Die Konterrevolution (Seite 45). Ein dankbarer Gruß an „DIE ZEIT“ zum 70. Geburtstag.
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Die Welt schaut auf Deutschland und Europa – Anmerkungen zu Rüdiger Safranskis und Peter Sloterdijks These „Wir können und wollen das nicht schaffen.“
Es ist wohltuend, wie der Politologe Prof. Münkler die Ausführungen der philosophischen „Grenzschließer“ als unreflektiertes “ Dahergeredes“ charakterisiert. Unabhängig von dem „Dahergerede“ (Münkler) Rüdiger Safranskis und Peter Sloterdijks vermisse ich bei beiden Philosophen die fragende Haltung, wie wir sie von Sokrates kennen. Denn beide tragen ihre Ausführungen zur Flüchtlingskrise, zu den Medien und zu der politischen Klasse im Habitus von Lehrmeistern vor.
Safranski legt in seinem Interview in der nationalkonservativen „Weltwoche“ Ende Januar d. J. wenig Wert auf genaue Zahlenangaben und auf eine von Affekten und Emotionen gereinigte Sprache, wenn er u.a. von „Abermillionen islamischer Einwanderer, die „binnen kurzem im Land sind“, spricht. Sloterdijk bedient in seinem Interview bei der liberal konservativen Zeitschrift „Cicero“ populistische Ressentiments. Er unterstellt der „Politik“ „habituellen Betrug“, hält den Begriff „Lügenpresse“ noch für harmlos, zieht gegen die „Verwahrlosung im Journalismus“ zu Felde und bemängelt im Journalismus ein Bemühen um „Neutralisierung“, „Objektivität“ und „Vergeistigung“.
Der „deutschen Politik“, womit an erster Stelle die Bundeskanzlerin gemeint ist, wirft Safranski „Unreife“, ein „naives Menschenbild“, „infantile Weltfremdheit“, „weltfremden Humanismus“ und „moralische Infantilisierung“ vor. Sloterdijk ist überzeugt: „Die deutsche Regierung hat sich in einem Akt des Souveränitätsverzichts der Überrollung preisgegeben.“ Diese „Abdankung“ gehe „Tag und Nacht weiter“. Merkels Politik sei „naiv“ und „ohne Mandat“, man träume den „Schlaf der Gerechten“. All dies, führe, wenn „wir“ nicht das „Lob der Grenze“ wieder lernen, zur „moralischen Selbstzerstörung“.
Mit ihrem „Dahergerede“ (Münkler) reihen sich beide Philosophen, gewollt oder ungewollt, in die Phalanx derjenigen ein, die schon seit einiger Zeit in Deutschland und in Europa ein gefährliches politisches Spiel mit nicht kalkulierbarem Ausgang betreiben. Nicht zufällig taucht auch bei Sloterdijk der Begriff „Notwehr“ auf. Wer gegen die Medien und die Parteien hetzt, Ängste befeuert und Grenzen schließen fordert, hat alles Weitere zu verantworten: nicht nur die Untergrabung der demokratischen Ordnung, sondern auch die möglichen humanitären Katastrophen der „wohltemperierten Grausamkeiten“ (Sloterdijk), auch einen möglichen Schusswaffengebrauch (F. Petry), nicht zuletzt die unabsehbaren wirtschaftlichen, politischen oder auch kriegerischen Folgen, im schlimmsten Fall das Ende der EU.
Sloterdijks Forderung nach Wiederaufrichtung von „starkwandigen Grenzen“ bezeichnet Münkler zu Recht als „unterkomplexe Antwort“ und als Rückfall in die Leitvorstellungen des Politischen des 20. Jahrhunderts, eines philosophischen „Vor-Denkers“ unwürdig.
Abgesehen davon, dass die Grenzen längst „dicht“ sind, d.h. alle Flüchtlinge werden an der Grenze erfasst, dass inzwischen ein vielschichtiges Regelwerk der Steuerung und Lenkung von Flüchtlingen auf den Weg gebracht worden ist und weiterhin wird, verabschieden Safranski und Sloterdijk nicht nur den europäischen Einigungsgedanken, sondern versuchen das Rad der Geschichte zurückzudrehen, wenn sie Europa „als einen lockeren Bund“ (Sloterdijk) auf eine Freihandelszone reduzieren möchten.
Sloterdijk geht noch einen Schritt weiter. Er spricht sich ganz offen gegen die Integration von Flüchtlingen aus. „Integration“ sei weder wünschenswert noch erreichbar. Es gebe „zu viele Leute, mit denen man fast nichts gemeinsam“ habe. „Schon ihre Zahl (sei) ein Frevel“ (Sloterdijk). Für diese poetische Umschreibung rassistischen Gedankengutes ist ihm der Applaus gewisser Kreise sicher. Den neue Nationalismus in Europa rechtfertigt Sloterdijk als „lokale Notwehr“ gegen europäische „zwangsgemeinschaftliche Handlungsketten“.
Herfried Münkler hat dankenswerterweise darauf hingewiesen, dass Merkels Entscheidung, Deutschland als „Überlaufbecken“ zu nutzen, um Zeit für eine europäische Lösung zu gewinnen, nicht nur ein Akt der Solidarität gegenüber den ost- und südosteuropäischen Staaten war. Denn die Schließung der deutschen Grenzen hätte nicht nur das Ende von Schengen, sondern womöglich auch von Europa besiegelt. Merkel hat damit eine strategische Entscheidung für den Erhalt der Europäischen Union getroffen und gezeigt, dass sie einen Plan hat und die Dinge vom Ende her denkt.
Die „gravierenden Mängeln an strategischer Komplexität“ im Denken und Safranskis und Sloterdijks zeigen sich nach Münkler darin, dass sie zentrale Probleme des 21. Jahrhunderts mit den Methoden des 19. bzw. des beginnenden 20. Jahrhunderts lösen wollen. Während Frau Merkel versuchte Zeit zu gewinnen, um die Fluchtursachen zu bekämpfen und europäische Lösungen für die Probleme zu erarbeiten, setzen die beiden populären Philosophen auf die Wiedererrichtung eines starken Nationalstaates. Die von Sloterdijk favorisierten früheren „starkwandige(n) Grenzen“ haben selbst Kriege nicht verhindern können. Für die Väter- und Großvätergenerationen bedeutete „Nationalismus Krieg“. Für die Alt Europäer Metterand und Kohl gab es zu einem immer engeren Zusammenschluss der europäischen Völker keine vernünftige Alternative. Es ist der zunehmenden Integration Europas zu verdanken, dass wir die längste Friedensepoche seit über 200 Jahren erleben dürfen.
Europa ist das Beste, was den Europäern passieren konnte. Die Stärke der EU bestand immer darin, dass sie in der Krise die Kraft aufbrachte, Strukturen und institutionelle Arrangements zur Lösung der Probleme zu finden. Merkel ist diejenige Regierungschefin, die, wie sonst kaum jemand in Europa, dies erkannt und trotz aller Widerstände, hartnäckig verfolgt. Die Geschichte wird ihr recht geben.
All diese Fragen bündeln sich letztlich in dem Begriff Globalisierung. Rechtspopulisten leben von der Angst vieler Menschen Verlierer der Globalisierung zu werden. Neu ist: Die Globalisierung ist keine Einbahnstraße mehr. Die „Welt des weißen Mannes“ (J. Fischer), wie sie über Jahrhunderte scheinbar selbstverständlich war, geht zu Ende, nicht nur außenpolitisch, sondern auch im Inneren der westlichen Gesellschaften. Der „Westen“ fühlt sich schwach, das macht Angst. Der Ruf nach einfachen Lösungen, der Ruf nach dem starken Mann wird wieder lauter. Selbst ein Politiker wie W. Putin wird in Teilen der Bevölkerung als Hoffnungsträger gehandelt. Die von uns lange verdrängten Probleme der Welt, an denen auch der „Westen“ Anteil hat, kommen jetzt zu uns. Die Zuwanderung und aktuell die Flüchtlingsbewegung ist Ausdruck davon. Diese ist vor allem außenpolitisch in „den Griff“ zu bekommen, wie Merkel und Teile der EU das versuchen.
Interessant zu erwähnen ist eine Argumentationsfigur, die Ende der 60er Jahre von dem Erzkonservativen Arnold Gehlen als Kampfbegriff gegen den Universalismus und Humanismus in die Diskussion gebracht wurde und aktuell von der Zeitschrift „Tumult“ auf die aktuelle Lage angewendet wird, der Begriff der „Hypermoral“. Ähnlich wie Safranski und Sloterdijk, warnte Gehlen vor einer Überdehnung der Moral und einer Überforderung der Menschen durch einen „Humanitarismus“, der, zusammen mit dem „Massenneudämonismus“ zur Schwächung der staatlichen Institutionen führe. Schon damals war die politische Stoßrichtung gegen den „linken Zeitgeist“ des Universalismus gerichtet. Intellektuelle und Medien hätten die Hypermoral zu ihrer Ideologie gemacht und ein „Reich der Lüge aufgerichtet“, die „andere Menschen“ zwinge, „in ihm zu leben.“ Diese findet heute ihre radikale Form in der Kritik an der Universalität der Menschenrechte, wie sie von den geistigen Vordenkern der Neuen Rechten, wie z.B. von Alain de Benoist, vorgetragen wird: Die Universalität der Menschenrechte und die kulturelle Vielfalt ließen sich nicht „unter einen Hut bringen“ (Benoist).
Leben wir in einer Bananenrepublik oder in einem der sichersten Rechtsstaaten der Welt? Was ist Gerücht, was Hysterie, was Tatsache? „Die große Flut, die große Teufelsfratze – alles nur Farbe auf der Wand. Die Katastrophe findet nur einigen Köpfen statt“ (Thorsten Linke).
Wir wissen, dass unser Denken auch emotional gefärbt ist und Stimmungsschwankungen unterliegt, was man, ganz im Gegensatz zu Merkel, gut an der Politik der AfD und CSU studieren kann. Schlechte Nachrichten, düstere Szenarien, beeinflussen oft unsere Wahrnehmung und unser Handeln. Wer mantraartig immer wieder sagt „Ich schaffe das nicht“, der wird oft Opfer einer selbst erfüllenden Prophezeiung. Außerdem steckt er mit diesem Virus auch andere an. Der Virus kann, wird er immer wieder wiederholt, das Denken der ganzen Gesellschaft vergiften.
Außenpolitik wird in Deutschland endlich nicht mehr nur auf Basis utilitaristischer, sondern auch auf Basis menschenrechtlicher Werte betrieben. Damit übernimmt Deutschland politische Verantwortung, wozu es laut Grundgesetz und Genfer Flüchtlingskonvention verpflichtet ist. Philosophisch steht Merkel in der Tradition des Denkens von Hannah Arendt und Immanuel Kant. Hannah Arendt verarbeite mit ihrer Idee, dass Menschen ein Recht auf Rechte haben auch ihre eigenen Erfahrungen, die sie in ihrer langandauernden Staatenlosigkeit gemacht hat.
Nach dem Ersten Weltkrieg und dem Zusammenbruch der europäischen Staaten, als Hunderttausende von Flüchtlingen und Staatenlose durch Europa zogen, wurde die humanitäre Katastrophe und der rechtliche Mangel augenscheinlich. Diese Menschen befanden sich in einem rechtlosen Raum, ohne die Möglichkeit, in ihre oder eine andere Gemeinschaft zurückzukehren. Daraus zog Arendt die Konsequenz: Das einzige wirkliche Menschenrecht ist das Recht, Rechte zu haben. Dies bedeutet nichts anderes als das Recht auf Mitgliedschaft in einer Gemeinschaft in der jedem Flüchtling bestimmte Rechte garantiert werden. Und in eben dieser Mitgliedschaft manifestiert sich die menschliche Würde. (vgl. Hannah Arendt und das Recht, Rechte zu haben: Lena Anlauf). Ist Hannah Arendt eine Träumerin oder Romantikerin, gar ein „Gutmensch“?
Ähnliches forderte Kant. 1795 schrieb er folgenden Satz:“ Es ist unter den Völkern der Erde so weit gekommen, dass die Rechtsverletzung an einem Platz der Erde an allen gefühlt wird. Und: „So habe jeder „das Recht, Besucher zu sein, und nicht das Recht, auch ständiger Gast in dem Land zu sein“.
Von diesen Maximen ist Merkels Politik geprägt. Eine Steuerungs- und Begrenzungsstrategie wird von ihr längst verfolgt, Ausdruck einer menschenrechtlichen Realpolitik. Sie ist politisch wirtschaftlich und moralisch erforderlich, um die Handlungsfähigkeit des Staates zu erhalten und die Unterstützung für eine menschenfreundliche Aufnahme von Flüchtlingen zu ermöglichen.
Bundespräsident Gauck warnte in diesem Sinne kürzlich in Davos vor einem „Auseinanderfallen Europas in der Flüchtlingskrise“ und lehnte eine „Abschottung etwa durch Grenzschließungen“, wie etwa Safranski, ab. Und auch die Renationalisierung könne in Zeiten wachsender Globalisierung kaum als Lösung betrachtet werden. Gauck ließ keinen Zweifel daran, dass Bürgerkriegsflüchtlingen und Verfolgten ohne „Wenn und Aber Zuflucht gewährt“ werden müsse. Würde Deutschland sich dieser Verpflichtung entziehen, brächte dies vielleicht einen finanziellen Vorteil. „Aber wir würden etwas sehr Wertvolles verlieren: die Achtung vor uns selbst, das Einverständnis mit uns selbst.“
In einem Brief an Hannah Arendt schreibt ihr langjähriger Freund Karl Jaspers anlässlich des Revolutionsbuches: „Deine Einsicht in das Wesen politischer Freiheit, Dein Mut, in diesem Felde die Würde des Menschen zu lieben, sind herrlich.“ Merkels Flüchtlingspolitik ist von diesem Geist geprägt, eigentlich ein Glücksfall der Geschichte.
Anders Rüdiger Safranski und Peter Sloterdijk. Beide macht sich mit ihrem nationalkonservativen und antieuropäischen Gerede zum intellektuellen Wortführer der Menschen mit ausgeprägtem Besitzstandsdenken, und jener, die aus Angst und Hass vor dem Fremden auf die Straßen gehen und „Merkel muss weg!“ skandieren; aber auch jener, die Flüchtlingsunterkünfte anzünden und dabei Menschenleben aufs Spiel setzen.
In seinem 1994 veröffentlichen Buch: „Ein Meister aus Deutschland. Heidegger und seine Zeit“, schreibt Safranski auch über Arendts Kritik an Heideggers Philosophie. Hannah Arendt habe in ihrer 1946 veröffentlichen Schrift „Was ist Existenzphilosophie“ eine geistige Haltung kritisiert, die „beginnend bei Schelling über Nietzsche bis hin zu Heidegger“ immer stärker geworden sei, „das vereinzelte menschliche Selbst als einen Ort der Wahrheit dem unwahren gesellschaftlichen Ganzen gegenüberzustellen.“ Heidegger, so Safranski, fundgiere „in ihrer Darstellung als Höhepunkt des existenziellen Solipsismus“. Bei Heidegger habe das eigentliche Selbst das Erbe Gottes übernommen. „Das gewöhnliche In-der-Welt-Sein bedeute einen Verlust der ursprünglichen Reinheit. … Damit verfehle Heidegger die Conditio humana. Der Mensch könne alles mögliche sein, ein „eigentliches Selbst“ aber vermutlich nie. Wer, so Arendt weiter, die gewöhnliche Welt des „Man“ zurückweist, gibt den Boden des Menschlichen preis. (428)
In der von Safranskis zitierten Schrift führt Arendt weiter aus: „Wenn nämlich seit Kant das Wesen des Menschen darin bestand, dass jeder einzelne Mensch die Menschheit repräsentiert und es seit der französischen Revolution und der Erklärung der Menschenrechte zum Begriff des Menschen gehörte, dass in jedem Einzelnen die Menschheit geschändet oder gewürdigt werden konnte, so ist der Begriff des Selbst der Begriff vom Menschen, in welchem er unabhängig von der Menschheit existieren und niemanden zu repräsentieren braucht als sich selbst – seine eigene Nichtigkeit (H.A. Was ist Existenzphilosophie, 37f). „Heidegger“ sei faktisch (hoffentlich) der letzte Romantiker…deren komplette Verantwortungslosigkeit bereits jener Verspieltheit geschuldet war, die teils aus dem Geniewahn und teils aus der Verzweiflung stammt“ (28f.). Den Grund für Heideggers politische Verfehlung führt Arendt vor allem auf sein Menschenbild zurück.
Safranski ein Realist, der die Anwendung des kategorischen Imperativ von Kant auf die Flüchtlingsfrage zu Recht als romantisch und weltfremd belächelt oder einer der letzten Romantiker, der wie Heidegger, dem solitären „Selbst“ in seiner Festung Europa nachjagt und dabei nicht von Fremden gestört werden will?
Zur „politischen Reife“ gehört eben nicht nur, wie Safranski schreibt, dass „man um das Böse weiß“ – Kant spricht beim Menschen „vom Hang zum Bösen“ – , sondern auch, dass der Mensch von „Natur aus eine Anlage zum Guten“ (Kant) hat. In der „Natur des Menschen“ oder vielmehr im menschlichen Wesen sind nach Kant Freiheit und Kausalität miteinander verbunden. Und es sind erfreulicherweise immer mehr „Gutmenschen“, die diese Freiheit im Sinne der Humanität nutzen.
Sehr geehrter Herr Dr. Heidlberger,
in Ihrem Beitrag schreiben Sie u. a.:
„Safranski legt in seinem Interview in der nationalkonservativen „Weltwoche“ Ende Januar d. J. wenig Wert auf genaue Zahlenangaben und auf eine von Affekten und Emotionen gereinigte Sprache, wenn er u.a. von „Abermillionen islamischer Einwanderer, die „binnen kurzem im Land sind“, spricht.“
Ein kurze Frage zu Ihrer o. g. Aussage mit der Bitte um eine knappe Antwort:
Um welche „Affekte“ und um welche „Emotionen“ möchten Sie das von Ihnen genannte Zitat von Rüdiger Safranski konkret(!) „gereinigt“ sehen?
Grüße aus Leipzig
E. Fischer
So geht’s nicht!
Kommentar zu „Wohin mit den Flüchtlingen“ (SZ 03.08.15)
„Ethnische Gruppenkonflikte in Ländern mit grossen, nicht integrierten Einwanderungsbevölkerungen können sich über generationenlange Zeiträume hinziehen und zu einer ständigen Quelle von Instabilität und Unfrieden werden. Ganze Bevölkerungsanteile in Länder anderer Kulturbereiche umzusiedeln ist kein tauglicher Weg für die Lösung der Probleme der Wachstumsländer“ lese ich nicht etwa bei einem Rechtsextremen, sonder bei dem hoch angesehenen Evolutionsbiologen Irenäus Eibl-Eibesfeldt, dem Vater der Humanethologie, dem Forschungsfeld menschlichen Verhaltens (Biologie menschlichen Verhaltens, Piper 2004). Demnach stösst die Aufnahmefähigkeit von Gastländern für Flüchtlinge nicht nur auf Grenzen guten Willens, sondern auf eine evolutionsbiologisch tief verankerte Fremdenscheu, die nur bei kleinen, integrationsbereiten und –fähigen Gruppen ohne gravierende Sprach- und Kulturbarrieren überwunden werden kann. Das hat Eibl-Eibesfeldt alles in akribischen Feldversuchen bei unterschiedlichsten Völkern nachgewiesen. In Deutschland galt das bspw. für die 50 000 Hugenotten im 17.Jh., die praktisch nach einer Generation nicht mehr von Deutschen unterscheidbar waren. Das galt aber nicht für die Schwarzafrikaner/Mexikaner in den USA oder die Türken in Deutschland, die in der Regel nicht integrationsfähige Parallelgesellschaften bildeten und sich zudem dreimal stärker vermehren, als die Stammbevölkerung, was bis zum Tag zu erheblichen Konflikten führt. – Natürlich müssen wir Asylanten aufnehmen, natürlich ist ein reiches Land wie Deutschland dazu auch fähig und verpflichtet. Aber wir werden das davon zu trennende Problem der Millionen verzweifelter Wirtschaftsflüchtlinge mit Appellen und guten Worten nicht lösen. Allein Afrika hat mehr als ein Milliarde Menschen. Nehmen wir einmal an, dass fünf Prozent von ihnen weg, früher oder später flüchten wollen. Das sind fünfzig Millionen. Afrika steht aber nach UN-Angaben vor einer Bevölkerungsexplosion, noch in diesem Jahrhundert werden es mehr als vier Milliarden sein. Aus diesen wenigen Zahlen erhellt, dass es mit Willkommenskultur und Zeltlagern anhand solcher, zu erwartender Völkerwanderungen nicht getan sein wird. Da gibt es Mord und Totschlag in Europa. Wenn wir helfen wollen, müssen wir dort helfen, wo die Probleme liegen, bzw. entstehen, oftmals von uns verursachte oder ignorierte Probleme in den Herkunftsländern der Flüchtlinge: Postkoloniale Ausplünderung der Resourcen, Raub von Acker- und Weideland durch internationale „Investoren“, Entwurzelung und Verelendung der indigenen Bevölkerung, korrupte, fremdgesteuerte Staatsregime, in der Folge Hunger, Armut, Krieg. Ich selbst habe vor wenigen Jahren als Entwicklungshelfer in Armenien erfahren, dass man vor Ort viel bewirken kann, das Gleiche galt wie ich sehen konnte für Expertengruppen in Korruptionsbekämpfung, Strassenbau, Waldwirtschaft bis zur psychologischen Betreuung Erdbeben-geschädigter Kinder. Aber ich habe von keinem einzigen deutschen Ministerium eine Pfennig Geld dafür erhalten. Hier sitzt der Fehler, hier in der Entwicklungspolitik brauchen wir neue Strukturen, Stellen und vor allem Geld. Wenn wir hier nicht ganz schnell umsteuern, wird uns die Rechnung in unseren Städten und Gemeinden serviert werden. – Oder im Mittelmeer.
Prof. Dr. Peter Stosiek, Görlitz
peter.stosiek
Lieber Herr Pfarrer Wolff,
in vielen gutgemeinten Wortmeldungen, auch in Ihrer, bemerke ich ein Reserviertheit gegenüber dem realexistierendem demokratischen System. Das beinhaltet, dass das vom Demos (entweder durch die Legislative oder durch direkte Demokratie) gesetzte Recht über dem Willen des einzelnen Politikers steht. Darum sind Wortmeldungen wie „Dublin ist tot“ antidemokratisch, denn der Dubliner Vertrag kann nur durch das europäische Volk geändert werden und nicht durch einzelne deutsche Politiker oder Kommentatoren. Dass die Langsamkeit dieser Prozesse ausgehalten werden muss, gehört zum Wesen der Demokratie (Diktaturen handeln gewöhnlich schneller). Wenn Rüdiger Safranski nun den Umgang mit dem Recht durch die deutsche Politik kritisiert, hat er nicht solche Häme verdient. Übrigens hat er ja nicht die ehrenamtlichen Helfer kritisiert sondern die Politik, das hätte Ihnen auffallen dürfen.
Lieber Herr Patzelt, ich bedauere, dass Sie bei mir eine „Reserviertheit“ der Demokratie gegenüber vermuten. Das Gegenteil ist der Fall: all meine Einlassungen und mein politisches Engagement gilt der Demokratie und auch dem Rechtsstaat. Sie haben völlig Recht: Gesetze und Verträge müssen geachtet und eingehalten oder eben verändert werden durch die dafür vorgesehenen Regierungen oder Parlamente. Was den Dubliner Vertrag angeht, so ist dieser durch die faktische Flüchtlingssituation aus den Angeln gehoben worden. Das war aber schon im Vertrag angelegt – oder hat jemand ernsthaft geglaubt, dass die Geflüchteten in Italien und Griechenland bleiben bzw. Deutschland alle, die nach Deutschland wollen, in das EU-Land zurückschicken kann, in dem sie zuerst angekommen sind? Also: rein formal gesehen, ist der Dubliner Vertrag außer Kraft gesetzt worden – aber weniger durch die Bundesregierung als durch die Wirklichkeit. Nun gilt es angesichts des Drucks der Geflüchteten neue Lösungen zu finden: Nur zu glauben, man könne mit Dublin der Situation Herr werden, ist ein Trugschluss. Was nun die „Häme“ angeht, so möchte ich darauf hinweisen, dass ich Sloterdijk, Safranski und andere deswegen kritisiere, weil sie in einer kalten, intellektualistischen Sprache letztlich ein Ende der Willkommenskultur fordern und damit den Boden bereiten für eine Abschottung gegen die Flüchtlinge. Dass damit aber vor allem die Grundwerte unseres Zusammenlebens erodieren, scheint allzu vielen ein hinnehmbarer Kollateralschaden zu sein. Auf diesem Hintergrund ist es zweitrangig, wen Safranski meint: die Politiker oder die ehrenamtlichen Helfer. Tatsache und auffällig ist, dass sich Leute wie Sloterdijk und Safranski zu dem bürgerschaftlichen Engagement überhaupt nicht oder kaum äußern. Das ist sicher kein Zufall, aber das bringt mich als glühender Verteidiger unserer Demokratie auf die Palme.
Ich bin auch sehr erstaunt und irritiert, auf welch unterkomplexem und unmenschlichem Niveau sich die Philosophen Sloterdijk und Safranski äußern und Schaden anrichten. Offensichtlich haben sie sich von der Lebenswirklichkeit Ihrer „Wirtsgesellschaft“ verabschiedet, um sich ganz in ihren Denkschäumen zu verlieren. Meine Hochachtung vor den beiden Herren hat jedenfalls gelitten. Danke für den Kommentar, der mir aus dem Herzen spricht. Viele Menschen verschenken täglich einen Teil ihrer Lebenszeit, damit uns nicht alles um die Ohren fliegt. Statt, dass sich die Freunde der Weisheit mit konstruktiven Ideen für sie einsetzen, teilen wiederum sie „wohltemperierte Grausamkeiten“ aus. Ich weiß nicht, ob da etwa der nietzscheanische Impetus mit den beiden durchgegangen ist. Und dass es: „keine moralische Pflicht zur Selbstzerstörung“ gibt, wie Sloterdijk behauptet, darf man auch bestreiten. Das eigene Leben um jeden Preis auf Kosten Anderer zu erstreiten, scheint nicht richtig zu sein.
Lieber Christian; wie immer stark und pointiert. Und es sei mir eine Ergänzung gestattet: in der aktuellen Februar- Cicero-Aufgabe wird dem geneigten Leser ein Interview mit Peter Sloterdijk geoffenbart, das auch mich zunehmend verstörte. Solche Feststellungen wie: Der Lügenäther ist so dicht wie seit Tagen des Kalten Krieges nicht mehr. oder: Das Wort „Lügenpresse“ setzt mehr Harmlosigkeit voraus, als es in diesem Metier gibt. Kurz: jetzt lassen sich die philosophischen Theoretiker vernehmen – nach anhaltender Verschwiegenheit; nur was da zu hören, zu lesen ist, ist erstaunlich, um nicht zu sagen erschütternd. Da ist der Blick eines N. Kermani – im kürzlichen, kritischen Dialog mit di Fabio weitsichtiger.
Lieber Herr Pfr. Wolff,
es ist wichtig, die kaum überschaubare Menge von Ehrenamtlichen in der Hilfe für Flüchtlinge in den Mittelpunkt zu stellen. Und es ist wichtig, die Politiker zu unterstützen, die sich um Lösungen bemühen. Und es ist wichtig, zu betonen, dass langfristige Maßnahmen Zeit brauchen. Es ist traurig, dass die Hassprediger soviel Medienecho finden.
Danke für Ihren Artikel.
Mit guten Wünschen,
Ihr Armin Schlosser
Lieber Christian,
Klar und präzise, die Verkommenheit des medialen Pfauentums benannt und die notwendigen Alternativen aufgezeigt. Starker und hilfreicher Text. Danke jk