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„… aus der Dunkelheit zum Licht“ – Ansprache im Trauergottesdienst für Georg Christoph Biller

Mit einem Trauergottesdienst am 10. Februar 2022 in der Thomaskirche hat Leipzig Abschied genommen von Alt-Thomaskantor Prof. Georg Christoph Biller. Er starb am 27. Januar 2022. In dem Gottesdienst habe ich die folgende Ansprache gehalten. (English version: Biller.Funeral.Wolff.Sermon II)

Was mag Alt-Thomaskantor Georg Christoph Biller bewogen haben, auf die Frage, welches Bibelwort denn über seiner Todesanzeige stehen solle, mit schwacher Stimme zu antworten: „So nun der Geist …“ – also der gerade gehörte 10. Satz aus der Motette „Jesu, meine Freude“, der 11. Vers aus dem so zentralen 8. Kapitel des Römerbriefes, die biblische Grundlage dieser Motette. Wie oft hat Biller diese Worte, die Johann Sebastian Bach geradezu deklamatorisch und wie in Stein gemeißelt vertont hat, gesungen und aufgeführt – als Thomaner in fast allen Stimmlagen, als Chorleiter und dann als Thomaskantor:

Wenn aber der Geist dessen, der Jesus von den Toten auferweckt hat, in euch wohnt, so wird er, der Christus von den Toten auferweckt hat, auch eure sterblichen Leiber lebendig machen durch seinen Geist, der in euch wohnt. (Römer 8,11)

So die aktuelle Luther-Übersetzung. Wahrhaft ein Bekenntnis, ein Bekenntnis zum Leben im Angesicht der Vergänglichkeit. Ein Ostergesang für jeden Tag. Christoph Biller war ein Bekennertyp; einer, der zu wissen vorgab, worauf es, worauf es ihm ankommt. Ich denke nicht nur an die Motette von Johann Eccard „Herr Christe, tu mir geben“, mit der er seine Thomasserzeit 1965 begann und das Thomaskantorat am 06. Januar 2015 beendete. Ich denke vor allem an seine kleine Denkschrift aus dem Jahr 1998 über eine „Wohlbestallte Kirchenmusik“. Mit ihr versuchte er den Stadtrat an seine Verantwortung für die älteste Kulturinstitution der Stadt Leipzig zu erinnern. Mit ihr legte er auch die Saat für den inzwischen entstandenen musikalischen Bildungscampus forum thomanum. Schon lange vor Corona stand für Biller unzweifelhaft fest: Kultur, Musik, Bildung, auch religiöse Bildung ist kein Selbstläufer, sondern muss stetig neu erkämpft werden.

Aber – und das gehört auch zu seinem Leben: Christoph Biller lebte in dem Widerspruch, der sich wie ein roter Faden durch die Motette „Jesu, meine Freude“ und den Römerbrief zieht: der Widerspruch zwischen Geist und Fleisch, Körper und Seele. Ein Widerspruch, den wir nicht als veralteten, leibfeindlichen Dualismus abtun sollten. Schließlich arbeitet sich jeder bewusst lebende Mensch daran ab. Aber bei denen, die alle Höhen und Tiefen der menschlichen Existenz durchschreiten und gerade darum künstlerisch Wertvolles zustande bringen können, tritt der Widerspruch besonders krass zu Tage. Ja, Christoph hatte klare Vorstellungen vom richtigen Leben, von der heilenden Kraft der geistlichen Musik, auch von einem reformatorischen Kirchesein. Damit versuchte er, den „sterblichen Leib“ lebendig zu machen – sowohl seinen eigenen wie den Leib Christi, die Kirche, wie den der Thomaner. Er war zutiefst überzeugt davon, dass dieser Geist Gottes das zu geben vermag, was wir ein Leben lang suchen: Sinn, Erfüllung, Anerkennung, Trost, Wegweisung. Darum hatte er den programmatischen Ansatz, den Thomanerchor wieder an seine ursprüngliche Aufgabe zurückzuführen: der musica sacra zu dienen und so Gott die Ehre zu geben und zur Recreation des Gemütes beizutragen – und Kinder und Jugendliche dazu zu befähigen.

Im Vorfeld des Jubiläumsjahres 2012 „800 Jahre THOMANA – glauben, singen, lernen“ waren wir uns darüber einig, dass zu dem Jubiläum unbedingt auch neue Musik, das neue Lied gehört. Darum wurden fünf Kompositionsaufträge für Festmusiken vergeben. Einer ging an den amtierenden und komponierenden Thomaskantor. Biller ließ keinen Zweifel daran, dass er für das Osterfest eine Kantate schreiben würde. Er glaubte an die Auferstehung, von der Paulus so kraftvoll zeugt. Er glaubte an die Möglichkeit, dass Menschen sich durch Gottes Geist verwandeln, erneuern können. Er glaubte es nicht obwohl, sondern weil er ein deutliches Bewusstsein von der Vergänglichkeit und Fehlbarkeit des Leibes hatte; weil er aus eigener, leidvoller Erfahrung wusste: auch wenn der Geist willig ist, bleibt das Fleisch oft genug schwach. Aber er hat sich der Schwäche nicht willenlos ergeben. Denn er vertraute auf die Kraft der Musik, des Geistes. Für ihn wurde die St. Thomas Ostermusik eine Antwort auf seine Lebensfrage: „Wie komme ich aus der Dunkelheit zum Licht?“[1]Ausgehend vom dunklen, sehr sperrigen Septakkord am Schluss der Bach’schen Matthäus-Passion entfaltet Biller in seiner Komposition die Botschaft von der Auferstehung hin zu der Überzeugung: Gottes Geist befreit uns zu Lebenswenden im richtigen Augenblick. Vollziehen müssen wir Menschen sie aber selbst. Eine solche Wende eröffnete sich ihm 2005. Da startete er noch einmal richtig durch, durchbrach die Dunkelheit einer tiefen Depression, erfuhr Festigkeit durch seine Frau Ute, die er damals kennenlernte, und führte den Thomanerchor über ein Jahrzehnt zu anhaltender Höhe – und trotzte allen Anfechtungen.

In dieser Zeit konnte man fasziniert davon sein: Da zogen nicht selten müde Thomaner zur Freitagsmotette in die Thomaskirche ein, und der Thomaskantor, dem das Gehen immer schwerer fiel, saß schon in der Vierung. Doch in dem Moment, in dem er vor dem Chor stand und der Geist, der aus seiner Mimik strömte, sich auf jeden einzelnen Thomasser übertrug, löste sich alle Erschöpfung in Nichts auf, und alles Chaotische, Zerfahrene wich aus den Köpfen der Knaben. Da materialisierte sich Auferstehung. Da wirkte der Geist, der alles Sterbliche lebendig macht. In diesen Momenten übertrug sich eine konzentrierte Ordnung auf die Sänger seiner Chöre und setzte gleichzeitig die Kreativität frei, die der Musik von Johann Sebastian Bach innewohnt.

So können wir heute trotz aller Traurigkeit über Christophs schwere Krankheit und das viel zu frühe Sterben voll tiefer Dankbarkeit auf ein reiches, musikalisches Leben zurückblicken. In dieser Dankbarkeit möge auch alles, was wir einander schuldig geblieben sind, alles, was wir an diesem vergangenen Leben nur schwer verstehen und gutheißen können, aufgehoben sein. Ich weiß aus vielen Gesprächen in der letzten Zeit, wie sehr Christoph Biller das umgetrieben hat, wo er gefehlt hat; wie sehr ihm bewusst war: In einem Leben, das von einer Mission erfüllt war, nämlich der musica sacra zu dienen, wird leider Vieles ausgeblendet und auf der Strecke bleiben. Auch darum war es ihm ein Anliegen, dass wir am Tag seiner Beerdigung über diesen Satz des Apostel Paulus nachdenken: damit wir uns nicht nur am Sterblichen und Verwerflichen aufhalten, sondern dass wir nun den Geist in uns wohnen lassen, der uns Leben ermöglicht im Angesicht dieses Todes. In den Bach-Kantaten wird ja nicht deswegen so häufig vom Sterben, auch von der Sehnsucht nach Gottes neuer Welt gesprochen, um allem Weltlichen zu entsagen, sondern um mitten im Sterblichen das Lebendige zu erfahren und zu würdigen.

Im Jubiläumsjahr 2012 wurde Biller von einem Journalisten gefragt, ob denn ein Knabenchor, der sich der geistlichen Musik verschrieben hat, nicht völlig unzeitgemäß sei. Biller antwortete: „Ja, wir sind unzeitgemäß, wir sind der Zeit voraus.“ Nun ist er wirklich aller Zeit voraus – und wir hoffen, dass er in Gottes neuer Welt nicht nur zu Füßen Bachs zu sitzen kommt, sondern dass sich in der Ewigkeit von Gottes Schalom alle Dunkelheit in Licht auflöst: „Lux aeterna luceas eis, Domine“ – Das Licht leuchte ihnen, o Herr …  und ein Abglanz dieses Lichtes möge auch auf uns alle fallen, damit es hell werde. Amen.

[1] Gespräch mit Thomaskantor Georg Christoph Biller, in: 800 Jahre THOMANA. Die Festmusiken, hrsg. Bach-Archiv Leipzig, Leipzig 2012, S. 18

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