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Quittung

1999 im August – ich fahre zum Chorlager der Thomaner in die sächsische Schweiz. In Heidenau muss ich in den Schienenersatzverkehr umsteigen, ein Freitagnachmittag. Busse stehen auf dem Bahnhofsvorplatz. Meinen kleinen Koffer schiebe ich in eines der Gepäckfächer. In dem Moment stürmt eine Gruppe kahl geschorener, tätowierter junger Männer, alkoholisiert in Thor Steinar Kleidung mit rechten Sprüchen auf den Lippen zum Bus. Ich erschrecke und ziehe mit weichen Knien ganz schnell meinen Koffer wieder aus dem Gepäckfach. Angst steigt in mir hoch. Mit der Truppe möchte ich nicht in einem Bus sitzen. Das war vor 16 Jahren. Damals schon konnte jeder wissen, was sich in Ortschaften wie Heidenau seit der friedlichen Revolution zusammenbraut. Die NPD hatte Sachsen zum Aufmarschgebiet erklärt. Die Wahlergebnisse haben das unterstrichen. Doch es wurde immer beschönigt, verleugnet, übertüncht – insbesondere von der die Landespolitik beherrschenden Partei CDU. Und dann erhielt die NPD 2004 9,2 % der Wählerstimmen, fast so viel wie die SPD.

Was am vergangenen Wochenende in Heidenau geschehen ist, was sich zuvor in Dresden, Meißen oder Freital abgespielt hat, es ist kein Zufall. Es hat auch wenig zu tun mit dem Kommunikations- und Organisationschaos des Innenministeriums in Sachen Unterbringung von Flüchtlingen. Es ist das Ergebnis eines langjährigen Verdrängens und Zulassens. Darum müssen sehr grundsätzliche Fragen gestellt werden:

  • Welchen Stellenwert hat das rechtsradikale Gedankengut in den Bildungseinrichtungen? Diese Frage geht in eine doppelte Richtung: Wie weit wird dieses durch Lehrer/innen gefördert? Findet überhaupt eine kritische Auseinandersetzung mit rechtem Denken statt? Die gleichen Fragen müssen wir uns in den Kirchen stellen.
  • Wie sieht es aus mit der Demokratiebildung und der Wertschätzung des demokratischen Rechtsstaates in Schulen und Hochschulen?
  • Welchen Beitrag leisten die Bildungseinrichtungen für die Gestaltung des multireligiösen und multikulturellen Zusammenlebens?

Jetzt, da es zur brutalen Gewalt gegen Flüchtlinge in Heidenau gekommen ist, jetzt redet ein Ministerpräsident und mancher Bürgermeister Klartext. Jetzt ist von „Grenzüberschreitung“ die Rede. Aber welche Grenze ist denn gemeint? Wie weit wurden diese in den vergangenen Jahren nach rechts verschoben? Vor allem aber: Das, was jetzt aus dem Munde von Ministerpräsident Stanislaw Tillich zu hören ist, hätte man sich seit Oktober 2014, als Pegida und AfD ihre ausländerfeindlichen Kampagnen starteten, zu hören gewünscht. Doch da wurde gekuschelt in Dresden und von Dresden aus: nicht nur in der Politik, auch in den Kirchen. Da versuchte man, die AfD noch rechts zu überholen und Frau Petry zur evangelischen Frontfrau in der Politik zu stilisieren. Wer einen klaren Schnitt zu Pegida verlangte, musste sich der Intoleranz zeihen lassen. Die krudesten Vorurteile wurden zu legitimen „Sorgen und Ängste der Bürger“ stilisiert, die man ernst nehmen müsse. Plötzlich waren die Führungsetagen Sachsens voll von Pegida-Verstehern. Da konnte sich das rechtsradikale Netzwerk Sachsens nur die Hände reiben! Statt spätestens seit Januar 2015 die Bürgermeister, Parteien, Kirchen die Menschen auf eine große Anzahl von aufzunehmenden Flüchtlingen vorzubereiten und dies als Gemeinschaftsaufgabe zu deklarieren, wurde so getan, als könne man die „Flut“ abwehren, als könne man die Grenzen dicht machen, als gelte es, die deutsche Identität vor fremden Einflüssen zu schützen. Welche Botschaft geht davon aus, wenn der Generalsekretär der sächsischen CDU Michael Kretschmer Verständnis für die militante Grenzbefestigungsanlage zwischen Ungarn und Serbien zeigt und diese Maßnahme als „richtig“ deklariert? Könnten wir doch auch machen, folgert mancher Bürger – und die Grenze zur NPD verschwimmt. Da kann man doch guten Gewissens mit den Neonazis laufen – nicht nur in Heidenau.

Das ist die schmutzige Quittung für fatale Fehlentwicklungen, die Sachsen nun in Meißen, Freital, Dresden, Heidenau präsentiert bekommt: Die NPD kann das absahnen, was vorher die populistischen Schaumschläger in den Führungsetagen Sachsens durch ihre kruden Parolen über die Aufgaben und Pflichten, über Anstand und Notwendigkeiten gegossen haben. Doch nichts ist unumkehrbar. Darum ist jetzt nötig: Klarheit ohne wenn und aber. Flüchtlinge gilt es aufzunehmen. Denn es sind Menschen, die das gleiche Lebensrecht haben wie jeder andere auch. Flüchtlinge sind keine Störfaktoren. Vielmehr haben sie dem größten Störfaktor des Lebens: Gewalt, Krieg und Terror, den Rücken gekehrt, um bei uns ein Mindestmaß an Sicherheit und Frieden zu finden. Auch der neue Landesbischof der sächsischen Landeskirche Carsten Rentzing wird begreifen müssen, dass der christliche Glaube nicht dadurch bedroht ist, dass Menschen sich gleichgeschlechtlich lieben. Vielmehr haben wir als Kirche keinen Zweifel daran zu lassen, dass all das, was in den letzten Monaten an Menschenverachtung und Hass hochgekocht ist insbesondere durch Pegida und ihre Versteher/innen, unvereinbar ist mit den Grundlagen des christlichen Glaubens und der biblischen Botschaft. Von einem schwulen oder lesbischen Paar in einem Pfarrhaus geht nun wirklich keine Gefahr aus, aber von das Kreuz tragenden Pegida-Anhängern werden Kirche und Glaube besudelt.

Alle, die in Zukunft nicht wieder falschen Parolen zum Opfer fallen wollen, sollten jetzt damit beginnen, unsere Dörfer und Städte auf die Aufgaben der nächsten zwei Jahrzehnte vorzubereiten. Denn es gilt, dass diejenigen, die bei uns Schutz suchen, hier eine neue Heimat finden. Darum haben wir für Wohn-, Ausbildungs- und Arbeitsplätze für Flüchtlinge zu sorgen. Darum müssen Bedingungen geschaffen werden, die Integration ermöglichen: religiöse und kulturelle Identität wahren und gleichzeitig Wurzeln schlagen in einer europäischen Gesellschaft. Die Kurzsichtigkeit muss aufhören. Alles, was uns derzeit erschreckt, war vorhersehbar. Warum sollte es uns nicht möglich sein, jetzt damit zu beginnen, alles, was für ein menschliches, demokratisches, friedliches Zusammenleben der Verschiedenen notwendig ist, in Gang zu setzen? Wenn wir im Oktober 25 Jahre deutsche Einheit feiern, dann sollten wir diese Herausforderung mit Freuden annehmen.

Nachtrag: Ich wurde darauf aufmerksam gemacht, dass es die Marke „Thor Steinar“ erst seit 2002 gibt. Das mag sein. Es war eine Kleidung, die ich in der Erinnerung mit dieser Marke identifiziert habe. Kein Grund also, an der Episode zu zweifeln.

7 Antworten

  1. Sagen wir es einmal so, lieber Herr Wolff:
    Die Republik hat erfreulicherweise in ihrer fast 70-jährigen Geschichte schon viele links- und rechtsradikale Exzesse einschl von Einzügen in Parlamente, Gewalt auf der Strasse und Attacken auf Menschen anderer Gesinnung oder Herkunft mit demokratischen und rechtsstaatlichen Mitteln erfolgreich und angemessen bekämpft und überstanden – und so wird es auch in der augenblicklichen „Krise“ sein.
    Der Verfall von sozialen Standards und gesellschaftlichem Konsens durch Ausleben von Egoismen und Mißbrauch von Rechten unter Vernachlässigung von Pflichten, die Verwilderung der Sprache (als wesentlichem Ausdruck von gemeinsamer Identität), die ständigen Euphemismen zur Verschleierung von Rechtsbrüchen, die Ausschliessigkeit des eigenen Anspruchs (Menschenrechte, Ökologie, etc), die Aufhebung von Ansprüchen ohne sie durch andere, allgemein akzeptierte zu ersetzen, schliesslich auch die öffentliche und exhibitionistische Zurschaustellung von eher Privatem – dies alles ist unumkehrbar.
    Wie sagte Churchill so schön zu der Dame, die ihn empört darauf hinwies, dass er betrunken sei? „Ja, Madame, ich bin betrunken. Aber Sie sind hässlich und ich werde morgen wieder nüchtern sein!“ Unelegant – aber wahr!
    Ich grüsse Sie,
    Andreas Schwerdtfeger

  2. „Und dann erhielt die NPD 2004 9,2 % der Wählerstimmen, fast so viel wie die SPD.“

    Ggf. war es ja auch so, dass die SPD nur fast so wenig Stimmen erhielt, wie die NPD?!

    Für dieses schwache Ergebnis der SPD wollen Sie nun die CDU verantwortlich machen?

  3. Auch ich glaube diese Story nicht. Hier macht sich Möchtegern-Lehrer Lämpel m.E. wieder einmal wichtig und erhebt belehrend seinen Zeigefinger. Herr Wolff: waren Sie zu dieser Zeit nicht völlig mit Ihrem Kampf gegen das Straßenfest Zinnober ausgelastet? Was haben Sie denn seinerzeit gegen die rechten Umtriebe getan? Der Innenminister Klaus Hardraht hat im April 2001 z.B. Skinheads Sächsische Schweiz verboten, während Sie noch gegen kulturelle Vielfalt in der Gottschedstraße kämpften. Woran haben Sie denn übrigens erkannt, dass diese Skinheads alkoholisiert waren, noch bevor diese den Buss überhaupt erreicht haben?

    1. Auch diese Art von „Kommentar“ muss man ertragen. Wer immer sich hinter „Hans König“ verbirgt – er oder sie möge sich auf das Wesentliche konzentrieren: den rechten Brandstiftern keinen Zentimeter Raum geben, weder auf der Straße noch in den Köpfen. Nicht was andere tun oder lassen, ist das Entscheidende, sondern wofür ich selbst einstehe. In diesem Sinn wünsche ich „Hans König“ einen aufrechten Gang.

  4. Werter Herr Wolff, die Marke „Thor Steinar“ – wie sie sich richtig schreibt – wurde 2002 gegründet. Ich stimme mit ihrem Text überein, er verliert aber an Glaubhaftigkeit durch den offensichtlich erfundenen Einstieg.

    1. Siehe meinen Nachtrag: In meiner Erinnerung war es eine Kleidung, die der genannten, aber noch nicht existierenden Marke ähnelt. Erfunden ist hier nichts, vielmehr ist diese Episode in meinem Gedächtnis haften geblieben.

  5. Soso, der Pfarrer i.R. betätigt sich diesmal als Hellseher, quasi rückwirkend.
    Zitat: „1999 im August – … eine Gruppe kahl geschorener, tätowierter junger Männer, alkoholisiert in Thor Steiner Kleidung … „. Unter Zugrundelegung der Annahme, daß Sie die Bekleidungsmarke „Thor Steinar“ gemeint haben könnten, eine reife Leistung!
    Zitat (von http://investigatethorsteinar.blogsport.de/images/investigate_thorsteinar_web.pdf):
    „Die Modemarke „Thor Steinar“ wurde 2002 von Axel Kopelke international registriert. Seit 2003 wird sie durch die Firma „Mediatex GmbH“ mit Sitz in Zeesen/Brandenburg vertrieben.“
    Schon beachtlich zu welchen seherischen Leistungen nun auch evangelische Theologen befähigt sind.

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