Die aggressive Entmenschlichung der Politik durch Innenminister Hort Seehofer (CSU), mit der er und die CSU der AfD-Menschenfeindlichkeit den Boden bereitet, ist Thema des „Offenen Briefes“ der NGO „Mission Lifeline“.
Betreff: Wir retten Leben, wen retten Sie?
Sehr geehrter Herr Minister Seehofer,
der Presse entnehmen wir, dass Sie sich dafür einsetzen, dass das Schiff unserer Seenotrettungs-NGO beschlagnahmt werden soll und gegen die Crew strafrechtlich ermittelt wird. Wir entnehmen der Presse, dass Sie von „Shuttle“-Service sprechen. Unabhängig davon, dass wir darauf hinweisen wollen, dass wir Menschen im tödlichsten Seenotrettungsgebiet der Welt aus Lebensgefahr retten und dafür angeklagt werden, haben wir einige Anmerkungen und Fragen:
Es fühlt sich beschämend an, dass die Bundesregierung durch die Behinderung der Seenotrettung dazu beiträgt, dass mehr Menschen im Mittelmeer sterben. Haben Sie Studien, eine Statistik oder ein Bauchgefühl, mit dem Sie diese Toten rechtfertigen können?
Stellen Sie sich vor, wie es ist, wenn Menschen gefoltert und versklavt und vergewaltigt werden – ganz bildlich in Libyen. Stellen Sie sich vor, wie diese Menschen in ihrer Verzweiflung alles tun, um Libyen entkommen zu können. Stellen Sie sich vor, dass der einzige Weg ein Schlauchboot ist und dass man für diesen lebensgefährlichen Weg dann noch viel Geld bei kriminellen und gewalttätigen Schlepperbanden bezahlen muss.
Stellen Sie sich vor, dass dort Männer, Frauen und Kinder – die nie schwimmen gelernt haben – auf überfüllten Booten ins Wasser fallen – ohne Schwimmweste. Stellen Sie sich den Kampf gegen das Wasser vor, das langsam aber sicher ihre Lungen füllt, bis sie ertrinken. Stellen Sie sich vor, dass Sie fordern, dass diesen Menschen nicht geholfen wird.
Und wenn Sie bereit sind, sich das vorzustellen und nun sagen: “Aber ohne die Nichtregierungsorganisationen gäbe es das ja nicht”, dann müssen wir Ihnen sagen: Sie liegen falsch. Nicht weil wir eine andere Meinung haben, sondern weil die meisten Menschen in den letzten Jahren gar nicht von NGOs gerettet wurden und weil wir wissen, dass die Menschen auch höhere Risiken eingehen. Wir haben uns als NGOs gegründet, nachdem tausende ertrunken sind – nicht davor. Wir stimmen unsere Einsätze mit der Seenotrettungsleitstelle ab und folgen den Anweisungen und wir sind schockiert über die Vorwürfe, die uns auch von Ihnen gemacht werden. Sie können den Schmerz nicht fühlen, wenn Menschen sterben, denen man helfen könnte. Und Sie können unsere Wut nicht nachempfinden, die wir angesichts einiger öffentlicher Äußerungen der letzten Tage empfinden. Sie reden von Shuttle nach Europa, wo Menschen aus Seenot gerettet werden. Wie würden Sie sich fühlen, wenn ihre Familienangehörigen in Gefahr wären oder sterben? Wäre es nicht eine Schande?
Wir laden Sie ein. Wir laden Sie ein an einer der Seenotrettungsmissionen teilzunehmen und sich die Situation vor Ort anzuschauen, die Sie nicht kennen. Wir laden Sie ein, sich anzuschauen, wie verzweifelt die Menschen sind, die wir retten und wie sich die Leere anfühlt, wenn Menschen sterben, weil niemand mehr helfen kann. Kommen Sie mit, Sie sind willkommen. Wir sagen Ihnen offen: Wir erwarten, dass Sie mitkommen. Wir erwarten, dass Sie sich der Realität annehmen. Und wir erwarten Antworten.
Sie sagen, wir sollen zur Rechenschaft gezogen werden, doch wir erwarten, dass auch Sie endlich Rechenschaft ablegen. Wir stehen Rede und Antwort, gerne auch vor Gericht. Aber welcher Straftatbestand soll uns vorgeworfen werden? Ist es Ihrer Meinung nach ein Verbrechen, Menschen aus Lebensgefahr zu retten? Ist es ein Verbrechen, das Völkerrecht zu achten? Sollten wir die Menschen nach Libyen bringen und damit eine Straftat begehen?
Achten Sie die Menschen mehr, die gegen uns hetzen, als diejenigen, die vor Ort Menschenleben in Not helfen? Wir retten Menschen. Wen retten Sie? Beten Sie? Wissen Sie, dass in diesem Jahr noch einmal 50.000 Menschen über das Wasser nach Europa geflohen sind? Wissen Sie, dass es nur 17.000 nach Italien waren? Wissen Sie, dass das eine Person pro 10.000 EuropäerInnen ist? Wissen Sie, wie es klingt, wenn Sie über diese Menschen reden – wenn Sie von Wellen, Fluten und Lawinen sprechen? Wissen Sie, dass Sie dazu beitragen, die Realität zu verdecken? Wir dürfen Menschen nicht nach Libyen bringen, auch wenn Sie uns dafür anklagen wollen.
Sie dürften Menschen nicht nach Libyen bringen. Deswegen unterstützen Sie die libysche Küstenwache, die nicht an das Recht gebunden ist, auf das Sie einen Eid geschworen haben. Wollen Sie, dass andere dieses Recht brechen? Unterstützen Sie das? Aber wir sind an dieses Recht gebunden und wir haben keine Scheu dafür auch gegen Widerstände einzutreten. Wir haben keine Regierungskrise verursacht. Wir haben keine Interessen, außer dass Menschenrechte und Menschenwürde nicht im Fleischwolf des Rechtspopulismus zu Grunde gehen.
Wir wollen Leben retten. Was ist Ihr Interesse? Wen retten Sie? Kommen Sie zu uns und reden Sie mit uns. Beantworten Sie bitte die Fragen. Einzeln und präzise. Kommen Sie her. Sie sind willkommen.
11 Antworten
Lieber Christian, wir haben den Brief an Seehofer als Plakat in unserm Dorf an vielen Stellen aufgehängt.
Vielen Dank, dass du ihn geschickt hast.
Liebe Grüße !
CC
Lieber Herr Lerchner,
wie immer bewundere ich die Sachlichkeit Ihres Beitrages und nehme Ihre Argumente sehr ernst – im Gegensatz zu dem Unsinn, den andere Leute so schreiben.
Doch, ich kann Abscheu gegen Heuchlertypen nachempfinden, weil ich diesen Abscheu teile. Und ich behaupte nicht, daß jeder unserer Politiker immer die Absichten verfolgt, die er nach außen darzustellen sucht. Aber deshalb wende ich mich ja auch (mit Abscheu) gegen Herrn Wolff, der uns dauernd predigt, alle Menschen seien Gottes Geschöpfe, und sich dann genau gegenteilig über die von ihm abgelehnten Politiker bei uns und in aller Welt äußert (wie ja auch Herr von Heydebreck nachgewiesen hat) sowie sich dazu um eine Stellungnahme drückt.
In der Sache teilen wir ja die Verzweiflung um die Lage in den politischen Feldern der Flüchtlings- und Migrationsfrage und der sie auslösenden Probleme der Armut und der (Bürger-)Kriege. Das ändert aber nichts an der grundsätzlichen (und auch zulässigen) Frage, WIE man am besten und am wirksamsten hilft. Wenn sie die augenblickliche Diskussion verfolgen, dann ist es eben so, daß das rechte Lager konkrete (Teil-)Lösungen anbietet, die nicht von allen als moralisch oder politisch akzeptabel angesehen werden, die aber eben konkret sind. Das linke Lager dagegen bietet nichts an zur Lösung, denn es spricht ja immer in vagen Begriffen – jetzt ist das neue Schlagwort das der „europäischen Lösung“, das doch bewußt undefiniert und unkonkretisiert bleibt, weil niemand dort in der Lage ist zu beschreiben, wie angesichts der inneren Blockade der EU eine solche Lösung aussehen soll. Auch Herr Wolff und seine Anhänger hier verweigern ja jede Lösungsbeschreibung sondern beschränken sich auf Schlagworte – und tragen damit nicht zur Förderung einer Lösung sondern zur Polarisierung bei.
Und ein zweites zur Sache, von dem ich weiß, daß es brutal klingt – und dennoch hat die Frage ihre Berechtigung (und das habe ich mit meinem Kurzkommentar hier ausgedrückt): Ist es nicht mindestens überlegenswert, ob ein harter Entschluß am Anfang eines Konflikts schneller zu dessen Beendigung führt und damit zu insgesamt weniger Opfern als das Zulassen der zeitlichen und räumlichen Ausweitung eines Konflikts und damit zu einem Massenbluten über Jahre? Es ist eben nicht rechtsradikal, wenn man die doch unbestreitbare „Abholung“ der Flüchtlinge als eine der Ursachen dafür einstuft, daß dieses Phänomen einschließlich der damit einhergehenden Opfer sich perpetuiert. Es ist ja gerade die verzweifelte Situation der politischen Entscheider, daß sie in diesem Dilemma stehen – und das heuchlerische Verhalten und Argumentieren der Kritiker, die nur den lieben Gott anrufen, gleichzeitig unter der Gürtellinie argumentieren und in der Sache außer Schlagworten nichts beitragen (erkennen Sie die Beschreibung vieler Beiträge und ihrer Auslöser hier?) ist eben nicht sehr hilfreich. Ich jedenfalls scheue nicht, Lösungen anzubieten und zur sachlichen Diskussion zu stellen; aber moralische Besserwisserei bei gleichzeitiger Abschiebung der Verantwortung – oder auch Ausweichung auf so sachliche Argumente wie die „Ohrensessel-Frage“ – ist verachtenswert.
Ich grüße Sie und auch Herrn Wolff aus meinem Ohrensessel,
Andreas Schwerdtfeger
Lieber Herr Schwerdtfeger,
ich grüße Sie als einen Realisten in diesem bemerkenswerten Forum. Pfarrer Wolff ist wohl im Grunde ein Manichäer. Er kann sich nicht vorstellen, daß auch Flüchtlinge ihr Gepäck tragen — was denn, wenn die meisten derer, die zu uns kommen, AfD wählten? Auf d i e Wendungen und Windungen des Herrn Wolff bin ich gespannt. Übrigens zum Wort „Invasoren“: siehe die Bilder von Ceuta. Wer auf diese Weise „Einlaß begehrt“, ist nichts anderes als eben dies: ein Eindringling. Zum Brief der Lifeline habe ich einige nautische Anmerkungen: Diese Schlauchbotte sind nie und nimmer hochseetüchtig. Auf keinem Foto bisher sah ich einen Außenbordmotor. Verwenden die Bootsinsassen wasserlösliche Motoren? Wo ist der dazu notwendige Diesel, das Benzin? Haben sich diejenigen hier, die von Seefahrt keine Ahnung haben, einmal Gedanken darüber gemacht, wie ein solches Schlauchboot eigentlich auf hohe See kommt (aus Italien höre ich, von befreundeten Kapitänen: die NGO-Schiffe werden kontaktiert und ziehen die Boote aufs Meer. Davon sagt dieser Lifeline-Brief leider nichts.) Wie ein solches Boot die ca. 70 Menschen trägt, die, wenn man pro Person etwa 60 kg Gewicht rechnet, ca. 4 t Gewicht allein haben, ohne sichtbare Wasser- und Essensvorräte, ohne sichtbare Treibstoffvorräte? es heißt, der Diesel würde in die Boote gekippt und die Flüchtenden stünden mit ihren Füßen darin. Nun faßt aber auch ein solches Schlauchboot Wasser (Seewasser), Schmutz usw. — der Diesel, der sich dann und damit bildet, wäre unbrauchbar. Für eine Fahrt mit 4t Gewicht muß mit erheblichem Treibstoffverbrauch gerechnet werden, man müßte noch ca. 1,5 t Diesel mitführen — abgesehen davon, daß Außenborder, die eines solche Last und dann eine effektive Fahrt des Boots über Grund schaffen, unrealistische (in bezug auf diese Schlauchboote unrealistische) Ausmaße haben müßten.
Es ist eben alles nicht so einfach, aber Moral, vor allem die gewisser Kirchenvertreter, ist ein wirksamer Wirklichkeits-Abwehrer.
Bestens, Simon Schwarzenberg
Ich frage mich langsam, ob der Herr Schwerdtfeger tatsächlich ein Mensch von Fleisch und Blut ist. Mir drängt sich immer wieder der Verdacht auf, dass es sich bei ihm um einen sog. „Troll“ handelt. Die gabs ja mal im WEB….
Aber sei`s drum… Ich bin sehr berührt von diesem kristallklaren Brief der Mission Lifeline. Das bringt es auf den Punkt, was mich an den Ereignissen im politischen Berlin so unsagbar angeekelt hat: der Verlust jeglicher Emphathie, jeglicher Realitätswahrnehmung und die vorsätzlich Lüge einiger Spitzenpolitiker oder auch des dazugörigen Fussvolkes. Ich bin sehr gespannt auf Seehofers Reaktion. Die wird wohl komplett ausbleiben?
Ich danke jedenfalls sehr, dass Sie diesen Offenen Brief zugänglich machten!
Herzlichen Gruß
Thomas Weiß
Lieber Herr Schwerdtfeger,
bisher konnte man hin und wieder den Eindruck gewinnen, dass es Ihnen um eine sachliche Diskussion geht. Mit Ihrer Anmerkung zum offenen Brief von „Mission Lifeline“ offenbaren Sie aber eine m. E. sehr fatale Einstellung.
Seit Jahr und Tag verunglimpfen Rechtsradikale jeder Couleur die Rettungsversuche im Mittelmeer, weil diese schädlich für eine effektive Abwehr der „Invasoren“ aus dem Süden wären. Je mehr Tote, umso besser die Abschreckung vor lebensgefährlichen Fluchtversuchen über die See, was letztendlich nichts anderes als ein humanitärer Akt sei. So die Logik dieser Menschenfreunde. Menschen zu opfern für das große Ganze, diese Art von „Humanismus“ hat leider immer schon Anhänger gehabt. Das war schon so, als seinerzeit die Völker Europas unter der Knute des katholischen Klerus litten oder die Bolschewiki mit Welterrettungsattitüde zigtausende Menschenleben vernichteten.
Diese auch heute noch gelebte und zunehmend die aktuelle Politik bestimmende Haltung ist aber zutiefst inhuman. Wenn dem ewigen Gesülze von den abendländisch-christlichen Werten in Zukunft auch nur noch die geringste Glaubwürdigkeit zugestanden werden soll, muss es eine Umkehr geben. Statt Zeichen der Abschreckung muss es solche der Ermunterung geben. Solange nicht wirklich nachgewiesen wird, dass die Flüchtlingsunterkünfte in der Nähe der Herkunftsländer der Migranten mit massiver finanzieller Unterstützung des Westen ein menschenwürdiges Leben ermöglichen, und solange die europäischen Länder sich nicht von der Vasallen-Abhängigkeit gegenüber der USA lösen und sofort ein Wiederaufbauprogramm in Syrien starten (die verbliebenen Dschihadisten sollten schnellstens zur Aufgabe gezwungen werden), müssen eben noch mehr Flüchtlinge aufgenommen werden. Es liegt also in der Macht der Europäer, einen humanen Weg für die Einschränkung der Flüchtlingsströme einzuschlagen. Selbstverständlich bedarf es auch Veränderungen in unserem Lande, damit die Hauptlast der Immigration nicht den Schwächsten der Gesellschaft aufgebürdet und die Stabilität der Gesellschaft gefährdet wird. Es wirkt sich verheerend aus, dass auch der kleine Schäuble-Imitator Scholz weiter das Lied von der „schwarzen Null“ singt und nach wie vor das Märchen von den schlimmen Staatsschulden erzählt.
Zum Schluss noch eine unsachliche Bemerkung. Herr Schwerdtfeger, Sie beklagen Respektlosigkeit gegenüber Politikern wie Seehofer, Söder oder Dobrindt. Können Sie nicht nachvollziehen, dass man für solche christlich-bürgerliche Heuchlertypen nur Abscheu empfinden kann?
Mit freundlichen Grüßen
Unfaßbar -eine so unmögliche Position von Horst Seehofer.
Herr Wolff, das sehe ich genau so. Oft sind das diejenigen, die am lautesten das Barbarentum beklagen, wenn ihnen Hilfe verweigert wird.
Lieber Christian,
Deinem Brief an Sehofer kann ich nur zustimmen.
Seehofer als katholisches CSU-Mitglied,der noch“christlicher“ ist als die „evangeliche“ Angela Merkel. Haben eigentlich die Kirchen, sowohl die evangelische wie auch die katholische etwas unternommen, um den Flücht-
lingen zu helfen? Papst Franziskus steht den
Flüchtlingen bei. Wenn ich mich recht erinnere,
führte seine erste(?) Auslandsreise zum Besuch
einer Mittelmeerreise, auf der viele Flüchtlinge
„Unterschlupf“ gefunden hatten.
Dein Helmut
Es ist nicht mein Brief, sondern der Brief von Mission Lifeline.
Ach wie rührend. Da beklagt eine Organisation wort- und tränenreich einen Zustand, den sie selbst mithilft herbeizuführen.
Andreas Schwerdtfeger
Ziemlich viel kalter Zynismus aus dem warmen Ohrensessel!