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„Nicht die Starken bedürfen des Arztes …“ – oder: Wer und was hat Priorität?

Es war eine „bemerkenswerte“ Meldung im Lokalteil der Leipziger Volkszeitung (LVZ) vom 6. Mai 2021 (Seite 16): „Das DRK vermied zunächst Infos über die Impfung von Migrantinnen und Migranten, um keinen Unmut zu schüren“. Im selben Artikel wird ein Mitarbeiter des Deutschen Rotes Kreuzes (DRK) zitiert: „Wir haben das (gemeint ist die Impfung von Geflüchteten) nicht kommuniziert, um keine Neiddebatte oder Vorwürfe einer angeblichen Übervorteilung von Geflüchteten zu entfachen.“ So erfreulich es ist, dass das DRK Unterkünfte für Geflüchtete mit den mobilen Impfteams aufsucht – diese verkrampfte Kommunikation kommt heraus, wenn über Wochen der Gesundheitsschutz durch das Impfen nur noch unter dem Gesichtspunkt diskutiert wird, dass nach der Impfung wieder das „normale Leben“ beginnt, die „Party“ also wieder aufgenommen werden kann. Dabei geht es beim Impfen um den ganz pragmatischen Beitrag eines jeden und einer jeden zur Eindämmung der Pandemie und zum persönlichen Gesundheitsschutz – und weniger darum, eingeschränkte Grundrechte zurückzuerlangen.*

Darum hätte es von Anfang an zur Impfstrategie dazu gehören müssen, alle diejenigen, die in Gemeinschaftsunterkünften und in engen, sozial prekären (Wohn-)Verhältnissen leben, vor Ort ein Impfangebot zu machen. Denn seit Monaten ist unbestritten: Infektionen durch das Corona-Virus entstehen vor allem in geschlossenen Räumen, in denen sich zu viele Menschen über eine längere Zeit mit zu geringem Abstand und viel Körperkontakten aufhalten. Doch diese, wahrhaft nicht überraschende Klarheit entstand erst zu dem Zeitpunkt, da die Gesellschaft für Aerosolforschung im April ihre Forschungsergebnisse öffentlich kommunizierte und die politischen Entscheidungsträger aufforderte, dem endlich Rechnung zu tragen. Bis dahin bestand die offizielle Kommunikation in dem Mantra: Wegen der hohen Inzidenzzahl (über 50) könnten die Gesundheitsämter das Infektiongeschehen nicht mehr zurückverfolgen. Man wisse also nicht, wo und wie sich das Corona-Virus verbreitet. Nachdem aber vor allem in den Großstädten herauskam, dass eine Inzidenz über 100 vor allem mit sehr hohen Inzidenzwerten in sozialen Brennpunkten zusammenhängt (während in Nobelvierteln die Inzidenz weit unter 50 liegt) und entsprechend viele Menschen, die in sozial prekären Verhältnissen leben, auf den Intensivstationen landen, hat man sich – wie in Köln – dazu entschlossen, dort Impfungen vor Ort mobil anzubieten und vorzunehmen. Und siehe da: Plötzlich geriet ins Bewusstsein, dass dort zum Beispiel ganz viele Beschäftigte in Reinigungs- und anderen Dienstleistungsunternehmen wohnen, ohne die kein Krankenhaus, kein Pflegeheim, keine Verwaltung ihren Aufgaben nachkommen können. Dabei war schon seit vergangenem April klar, dass vom verheerenden Wüten des Corona-Virus in New York vor allem die schwarze Bevölkerung in den armen Stadtteilen betroffen waren.

Was uns das lehrt? Ohne eine weitsichtige Politik der sozialen Gerechtigkeit können wir weder eine Pandemie wirkungsvoll bekämpfen noch werden wir zukünftigen gewachsen sein. Deswegen müssen jetzt weitreichende und langfristig wirkende politische Konsequenzen gezogen werden:

  • Die Vorschriften für den sozialen Wohnungsbau müssen dringend den Erfordernissen angepasst werden: Mehr Fläche für jede*n Bewohner*in.
  • Die Gemeinschaftsunterkünfte vor allem von Saisonarbeiter*innen und Geflüchteten müssen so konzipiert sein, dass dort nicht nur Abstands- und Hygienevorschriften eingehalten werden können, sondern für jede*n einzelnen ausreichender Wohnraum zur Verfügung steht.
  • Menschen, die in sozial prekären Verhältnissen leben, müssen in Sachen Gesundheitsschutz von Anfang an prioritär behandelt werden.

Da die Corona-Pandemie globale Ausmaße hat, gilt das, was auf nationaler, europäischer Ebene Beachtung finden muss, auch weltweit: Die Pandemie lässt sich nur eindämmen, wenn der Impfstoff gerecht verteilt wird. Das ist derzeit noch lange nicht der Fall, wie die dramatischen Verhältnisse in Indien und die niedrige Impfquote in Afrika zeigen. Darum ist die Debatte über die Impfstoff-Patentfreigabe wichtig und überfällig. Ebenso ist aber vom Deutschen Ethikrat wie von den Kirchen zu erwarten, dass sie viel deutlicher und unüberhörbar eine soziale Priorisierung von Maßnahmen einklagen – nach dem Motto Jesu: „Nicht die Starken bedürfen des Arztes, sondern die Kranken.“ (Die Bibel: Matthäus 9,12) Es muss dort zuerst gehandelt werden, wo der Gesundheitsschutz am vordringlichsten ist. Das aber gilt nicht nur in Zeiten einer Pandemie. Es hat grundsätzliche Bedeutung! Denn ausreichender Wohnraum gehört genauso zum Gesundheitsschutz, wie zukünftig in Kitas und Schulen kleinere Gruppen in größeren Räumen zu betreuen und zu unterrichten. Merkwürdig nur, dass davon derzeit von Parteien wie Gewerkschaften, von Verbänden wie Kirchen wenig zu hören ist – und wenn dann nur verschämt. Wir sollten dringend weniger über angeblichen Neid und drohende Spaltung als vielmehr über fehlende Gerechtigkeit in der Gesellschaft debattieren und Abhilfe schaffen.

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* Damit keine Missverständnisse aufkommen: Ich verkenne nicht die Bedeutung der Grundrechte. Sie sind nicht verhandelbar, und ihre zeitlich begrenzte Einschränkung darf nur Ausnahme sein. Warum wird dann aber nicht mit gleicher Vehemenz für die Wiederherstellung der Grundrechte derer gesorgt,  die seit Monaten an der freien Ausübung ihres Berufes, von Kunst und Kultur, gehindert werden, obwohl sie alle Bestimmungen des Gesundheitsschutzes beachten?

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