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Einige Gedanken zur Lage in der Ukraine

Ich gebe zu: Bis vor einigen Monaten lag für mich die Ukraine in weiter Ferne. Doch der dramatische Freiheitskampf der Menschen auf dem Maidan in Kiew, der Sturz von Präsident Wiktor Janukowytsch und die militärische Intervention Russlands machen deutlich, dass das Geschehen in und um die Ukraine für die europäische Friedensordnung von größter Bedeutung ist. Darüber hinaus gefährdet die machtpolitische Auseinandersetzung zwischen Russland und der westlichen Welt den friedlichen Transformationsprozess der ukrainischen Gesellschaft. Die monatelangen Proteste und Demonstrationen auf dem Maidan haben zweierlei offen gelegt: wie zerrissen die ukrainische Gesellschaft ist und welche Bedeutung die Ukraine als Scharnier zwischen der Europäischen Union (EU) und Russland zukommt. Seit der Unabhängigkeit der Ukraine 1991 ringt das Land um seine nationale Identität, um ein Ende der allgegenwärtigen Korruption, um eine außenpolitische Orientierung: Annäherung an die Europäische Union und/oder Neuordnung der Beziehungen zu Russland. Die innere Entwicklung, insbesondere nach der „Orangenen Revolution“, zeigt, wie widersprüchlich diese verlaufen ist. Denn die Kräfte, die 2004 versucht hatten, die Überreste des alten kommunistischen Systems zu beseitigen und dem Land durch eine neue Verfassung eine demokratische Staatsform zu geben, konnten nicht verhindern, dass auch sie vom Virus der Korruption ergriffen wurden und die alten Seilschaften wieder an die Regierung kamen – nicht zuletzt deswegen, weil Freiheitsbewegung, ökonomische Erneuerung und nationale Einigung nicht zusammen gingen.

Dem Versuch der Europäischen Union, die Ukraine durch das Assoziierungsabkommen wirtschaftlich und politisch an Westeuropa zu binden, war insofern zum Scheitern verurteilt, weil dieser viel zu wenig auf die faktische Zweiteilung der Ukraine Rücksicht genommen hat und den östlichen Nachbarn Russland in den Prozess nicht einbezogen hat. Wie fragil die politische Entwicklung der vergangenen drei Wochen ist, sieht man allein daran, dass das gleiche Parlament, das in Kiew unter der Präsidentschaft Janukowytsch wesentliche Bestimmungen der Verfassung außer Kraft gesetzt hatte, wenige Tage später diese zurücknahm, den Präsidenten entmachtete und eine neue Regierung einsetzte. Dass das keinen nachhaltigen Bestand haben kann, leuchtet sofort ein – einmal ganz abgesehen davon, dass dieser Zustand im Parlament schlaglichtartig verdeutlicht, woran es der ukrainischen Gesellschaft mangelt: an einer gut ausgebildeten, demokratisch gesinnten Führungsschicht, die in der Lage ist das, den Protest und die Unzufriedenheit in eine konsensfähige Reformpolitik umzusetzen, und an einer lebendigen Demokratie, die verhindert, dass sich erneut eine Führungselite verselbstständigt. Insofern ist es notwendig und geboten, dass die Ukraine von Russland wie von der Europäischen Union darin unterstützt wird, in den nächsten Jahren ein politisches System aufzubauen, dass die Integrität der Ukraine gewährleistet, die Korruption durch den Aufbau demokratischer Strukturen überwindet und eine wirtschaftliche Entwicklung initiiert, die die Gesellschaft vor ökonomischen Zerreißproben bewahrt – vom Aufbau eines durchlässigen Bildungswesens, das Grundvoraussetzung für eine offene Gesellschaft ist, ganz abgesehen. Das wird nur möglich sein, wenn sich die EU und Russland auf ein gemeinsames Vorgehen verständigen und auf jedes militärische Bedrohungspotential verzichten. Eine wesentliche Aufgabe wird sein, die Grundlagen eines friedlichen Zusammenlebens in einer pluralen Gesellschaft geprägt von unterschiedlichen Ethnien zu schaffen und zu gewährleisten. Für einen solchen Prozess muss von denen, die ihn jetzt hoffentlich initiieren, eine Dauer von mindestens drei Generationen veranschlagt werden. Wer anderes behauptet, der bringt damit nur zum Ausdruck, dass er kurzfristige und eigennützige Interessen verfolgt – aber nicht eine nachhaltige demokratische Entwicklung der Ukraine im Blick hat.

Leider ist die Haltung der orthodoxen Kirchen in der Ukraine genauso widersprüchlich wie viele andere Entwicklungen in diesem Land. Auf der einen Seite haben Vertreter der unterschiedlichen Kirchen und Religionsgemeinschaften – zusammengefasst im „Allukrainischen Rat der Kirchen und religiösen Organisationen“ – zur Gewaltlosigkeit aufgerufen und die militärische Intervention Russlands verurteilt. Auf der anderen Seite wirkt sich die Staats- und Machtnähe des Moskauer Patriarchats, aber auch des Kiewer Patriarchats fatal aus. Es wird sich zeigen, ob die orthodoxen Kirchen die Kraft finden, den Erneuerungsprozess der Gesellschaft aktiv mit zu gestalten und dabei eine unabhängige, dem Evangelium verpflichtete Position einnehmen, die gesellschaftliche Vielfalt und Glaubens- und Religionsfreiheit bejaht. Über eines sollte sich niemand Illusionen machen: Die Bedeutung des christlichen Glaubens und die Glaubwürdigkeit der Kirchen in Europa werden wesentlich davon abhängen, welche Rolle die orthodoxen Kirchen in den nächsten Wochen in der Ukraine und in Russland spielen werden.

Christian Wolff

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