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Eine Rede, die nicht vergessen werden sollte: Gustav Heinemann zum Attentat auf Rudi Dutschke

Es geschah vor 50 Jahren: Am 11. April 1968, genau eine Woche nach der Ermordung Martin Luther Kings, wurde am Vormittag des Gründonnerstags in Berlin einer der prägenden Figuren der Studentenbewegung, Rudi Dutschke, von dem bekennenden Neonazi Josef Bachmann durch mehrere Schüsse lebensgefährlich verletzt. Dieses Attentat und die darauf folgenden Studenten-Demonstrationen, die teilweise gewalttätig verliefen, veranlassten den damaligen Bundesjustizminister und späteren Bundespräsidenten Gustav Heinemann, einem überzeugten evangelischen Christen und Sozialdemokraten, zu einer außergewöhnlichen Fernsehansprache. Diese wurde am Ostersonntag, 14. April 1968, in der ARD ausgestrahlt. Durch die kurze Ansprache gelang es Gustav Heinemann, die explosive Stimmung in Westdeutschland zu befrieden. Noch heute lohnt es sich, diese Ansprache zu lesen und zu bedenken – zeigt sie doch eindrucksvoll, wie Politiker sehr unterschiedliche, teilweise sich feindlich gegenüber stehende Bevölkerungsgruppen anzusprechen, ihren Anteil an der Lage ohne jede Schuldzuweisung zu beschreiben und gleichzeitig die eigene politische Überzeugung zu vermitteln in der Lage sind. Darum hier die Ansprache im Wortlaut: 

Gustav Heinemann (1899-1976)

Verehrte Mitbürger! Diese Tage erschütternder Vorgänge und gesteigerten Unruhe rufen uns alle zu einer Besinnung. Wer mit dem Zeigefinger allgemeiner Vorwürfe auf den oder die vermeintlichen Anstifter und Drahtzieher zeigt, sollte daran denken, dass in der Hand mit dem ausgestreckten Zeigefinger zugleich drei andere auf ihn zurückweisen. Damit will ich sagen, dass wir uns alle zu fragen haben, was wir selber in der Vergangenheit dazu beigetragen haben könnten, dass ein Antikommunismus sich bis Mordanschlag steigerte, und dass Demonstranten sich in Gewalttaten der Verwüstung bis zur Brandstiftung verloren haben. Sowohl der Attentäter, der Rudi Dutschke nach dem Leben trachtete, als auch die elftausend Studenten, die sich an den Demonstrationen vor den Zeitungshäusern beteiligten, sind junge Menschen. Heißt das nicht, dass wir Älteren den Kontakt mit Teilen der Jugend verloren haben oder ihnen unglaubwürdig wurden? Heißt das nicht, dass wir Kritik ernst nehmen müssen, auch wenn sie aus der jungen Generation laut wird?

Besserungen hier und an anderen Stellen können nur dann gelingen, wenn jetzt von keiner Seite neue Erregung hinzugetragen wird. Gefühlsaufwallungen sind billig, aber nicht hilfreich – ja sie vermehren die Verwirrung. Nichts ist jetzt so sehr geboten, wie Selbstbeherrschung – auch an den Stammtischen oder wo immer sonst dieser Tage diskutiert wird.

Das Kleid unserer Freiheit sind die Gesetze, die wir uns selber gegeben haben. Diesen Gesetzen die Achtung und Geltung zu verschaffen, ist die Sache von Polizei und Justiz. Es besteht kein Anlass zu bezweifeln, dass Polizei und Justiz tun, was ihre Aufgabe ist. Wichtiger aber ist es, uns gegenseitig zu dem demokratischen Verhalten zu verhelfen, das den Einsatz von Polizei und Justiz erübrigt. Zu den Grundrechten gehört auch das Recht zu demonstrieren, um öffentliche Meinung zu mobilisieren. Auch die junge Generation hat einen Anspruch darauf, mit ihren Wünschen und Vorschlägen gehört und ernst genommen zu werden. Gewalttat aber ist ein gemeines Unrecht und eine Dummheit obendrein. Es ist eine alte Erfahrung, dass Ausschreitungen und Gewalttaten genau die gegenteilige öffentliche Meinung schaffen, als ihre Urheber wünschen. Das sollten – so meine ich – gerade politisch bewegte Studenten begreifen und darum zur Selbstbeherrschung zurückfinden.

Unser Grundgesetz ist ein großes Angebot. Zum ersten Mal in unserer Geschichte will es in einem freiheitlich-demokratischen und sozialen Rechtsstaat der Würde des Menschen volle Geltung zu verschaffen. In ihm ist Platz für eine Vielfalt der Meinungen, die es in offener Diskussion zu klären gilt. Uns in diesem Grundsatz zusammenzufinden und seine Aussagen als Lebensform zu verwirklichen, ist die gemeinsame Aufgabe. Die Bewegtheit dieser Tage darf nicht ohne guten Gewinn bleiben.

Eine solche Rede aus dem Mund eines/einer führenden Politiker/in hätte man sich in den vergangenen drei Jahren gewünscht – zum Beispiel nach den drei kurz aufeinander folgenden Terroranschlägen im Juli 2016: der Angriff eines Islamisten in der Regionalbahn in Würzburg, das Massaker eines rechtsradikal eingestellten Jugendlichen in München, der Sprengstoffanschlag eines Islamisten in Ansbach. Eine Rede, die auf Verfeindungsrhetorik und Ausgrenzungen verzichtet, die eigene Verantwortung für gesellschaftliche (Fehl-)Entwicklungen nicht verschweigt und die vor allem das herausstellt, worauf sich alle Bürgerinnen und Bürger verständigen können: die Grundwerte unserer Verfassung. Heinemann betont nicht, wer und was zur Gesellschaft gehört oder nicht. Dafür stellt er die Würde des Menschen (nicht des Deutschen) in den Mittelpunkt. Diese Tonlage eines Gustav Heinemann ist leider allzu vielen Politiker/innen abhanden gekommen. Doch auch nach 50 Jahren lässt sich von ihr lernen, wie in einer aufgeheizten gesellschaftspolitischen Situation mit den aufbrechenden Konflikten umgegangen und das in den Mittelpunkt gestellt werden kann, was für ein friedliches Zusammenleben unaufgebbar ist: die Vielfalt der Meinungen und der Lebensweisen, die im streitigen Diskurs der Klärung bedürfen, ohne die Würde des Menschen zu verletzen. Vor allem aber sollten wir uns ein Beispiel am letzten Satz der Heinemann-Rede nehmen: die gesellschaftliche Auseinandersetzung so zu führen, dass daraus ein Gewinn für alle erwächst. In diesem Sinn sollten wir alles dafür tun, dass der notwendige Streit, die heißen Debatten, die Klarheit der Positionen dazu führen, dass wir uns gemeinsam die Demokratie und ihre Möglichkeiten neu aneignen – genauso, wie dies 1968ff trotz aller Fehlentwicklungen der Fall war. Ja, unser Grundgesetz ist ein großes Angebot. Nehmen wir es an!

8 Antworten

  1. Ja, da haben Sie ein schönes Zitat aus dem Zusammenhang des gesamten Beitrages herausgerissen. Aber auch dieses Zitat zeigt schon, das Sie eben damals wie heute nicht bereit zu sein scheinen, das staatliche Gewaltmonopol als einzige legitime Gewaltquelle anzuerkennen und daß also die Gleichsetzung von Staat und Hooligans („Möchtegern-Göttern in den Staatskarossen, aber auch den vermummten Polit-Holigans von Hamburg“) nicht nur undemokratisch sondern auch unsinnig und gefährlich ist.
    „Das Kleid unserer Freiheit sind die Gesetze, die wir uns selber gegeben haben. Diesen Gesetzen die Achtung und Geltung zu verschaffen, ist die Sache von Polizei und Justiz“ – so zitieren Sie Heinemann, der zugleich der Exekutive danach zweifelsfrei richtiges Handeln attestiert. So ist es bis heute – und deshalb ist der unterschwellige Vorwurf (nämlich sie im selben Satz zu nennen), Möchtegern-Götter und vermummte Polit-Hooligans seien „gleich“, infam. Und das kann man nicht anders als „schlimm“ bezeichnen, wenn es aus der Feder eines Erwachsenen und eines in der Kirche und im Bildungs- und Erziehungswesen Verantwortlichen kommt.

    Ihr MLK-Beitrag war ja eben so gut, weil es Ihnen – einer hat das nicht erkannt und er hat also das „Novum“ der falschen Seite zugeordnet – ausnahmsweise gelungen ist, auf einer etwas abstrakteren Ebene zu argumentieren und sich aus konkreter Tagespolitik mit diesem weiter reichenden Beitrag herauszuhalten (keine persönlichen Angriffe, keine kleinkarierte Tageskritik, etc., stattdessen eine Vision der Gewaltlosigkeit am Beispiel dieses großen Mannes) – und das eben war gut. Und Ihr Heinemann-Beitrag folgt dieser Linie und ich finde ihn deshalb auch gut. Aber zu Hamburg hätte die Rede eben auch gut gepaßt.

    Seien Sie gegrüßt,
    Andreas Schwerdtfeger

    1. Dass die Rede auch zu Hamburg gepasst hätte, habe ich nie in Abrede gestellt. Im Gegenteil: Ich habe sehr bedauert, dass niemand im Juli 2017 in dieser Weise das Wort ergriffen hat. Beste Grüße Christian Wolff

    1. Hier der letzte Absatz des „so schlimmen“ Beitrags: „Es wird höchste Zeit, diesen Möchtegern-Göttern in den Staatskarossen, aber auch den vermummten Polit-Holigans von Hamburg im demokratischen Diskurs die Maske vom Gesicht zu reißen. Fordern wir sie auf, endlich ihre Verantwortung als Politiker, als Bürger wahrzunehmen – wie ein Busfahrer, der 50 Menschen sicher in Urlaub fahren soll, oder eine Erzieherin, die täglich 25 Kindern das weitergibt, was sie zu Persönlichkeiten heranwachsen lässt, oder wie ein Polizist, der eine Straftat vereitelt. Immer geht es darum, Würde, Menschlichkeit, Anstand zu fördern und Leben zu bewahren. Es ist an der Zeit, den Irrsinn derer, in sich in der Sackgasse der Gewalt eingerichtet haben, zu beenden. Dies aber wird nur gelingen, wenn wir konsequent die Ebene verlassen, auf die uns die „Schwarzen Blocks“ von Hamburg ziehen wollen. Keine Gewalt!
      P.S. Merkel, Steinmeier, Scholz – noch verharren sie in der Sackgasse. Wer tritt als erster den Weg in den demokratischen Diskurs an? Ist Martin Schulz schon unterwegs?“
      Christian Wolff

  2. In meinem Herzen trage ich seit Jahen ein Zitat von Gustav Heinemann vom Essener Kirchentag in den 50ziger? Jahren: „Lasset uns der Welt sagen, wenn sie uns Furcht machen will, eure Herren gehen – unser Herr aber kommt“.
    Auch dies – neben dem Evangelium und den sozialen und guten Anliegen der 68er – ein seit Jahren wichtiger, innerer Kompass für mich und mein Leben.

  3. Schade, lieber Herr Wolff, daß Sie diese Rede nicht nach den Ausschreitungen im Zusammenhang mit G20 in Hamburg Mitte letzten Jahres gebracht haben! Da hätte sie gut hingepaßt-
    Ich grüße Sie,
    Andreas Schwerdtfeger

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