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Die Tröglitzer Bürgerversammlung am 31. März 2015 – ein Versuch zu verstehen. Von Daniel Walther

Daniel Walther hat mir seinen erhellenden, sehr lesenswerten Bericht über die Bürgerversammlung in Tröglitz zur Verfügung gestellt. Er stammt aus dem Burgenlandkreis und ist derzeit Promovend an der Theologischen Fakultät.

Eigentlich wollten wir uns am 31. März 2015 in Hohenmölsen, einer Kleinstadt im Burgenlandkreis unweit von Tröglitz zu einem Gesprächskreis treffen. Aus aktuellem Anlass sind wir aber dem fast flehentlichen Aufruf von Pfarrer Matthias Keilholz gefolgt. Es komme jetzt auf jeden menschenfreundlich und demokratisch eingestellten Bürger des Umkreises an, sein Gesicht auf der Bürgerversammlung in Tröglitz zu zeigen, um der schwierigen Situation dort eine positiv eingestellte Gestalt zu verleihen. Einige Wochen zuvor, am 25. Januar 2015 gab es bereits in Hohenmölsen eine Bürgerversammlung. In der ca. 10.000-Einwohnerstadt, in der ich meine Jugend verbrachte, sollen 60 Flüchtlinge aufgenommen werden. Gleich anfangs stellte Landrat Götz Ulrich selbst in Hohenmölsen die Frage, die in der Luft hing: „Warum gibt es eine Bürgerversammlung, wenn schon alles entschieden ist?“ „Genau“, krakeelte es aus dem Saal, und: „Das wollen wir von dir wissen!“, rief es aus der Menge in Richtung Podium. In erstaunlich nüchternem Ton angesichts des vollen, spannungsgeladenen Bürgerhauses legte der Landrat dar, wie die demokratisch legitimierten Regierenden diese Entscheidung zu treffen hätten. Da wurden Forderungen im Saal laut, eine Abstimmung jetzt gleich und hier im Saal durchzuführen, denn dann würde der Landrat schon sehen, wie die Mehrheit ticke. Götz Ulrich gab sogar zu, dass es ihm bewusst sei, dass hier im Raum möglicherweise keine Mehrheit für die Aufnahme von Flüchtlingen zustande kommen könnte. Er steht aber genau dafür ein und übernimmt die politische Verantwortung, dass die Asylbewerber auch gegen die momentane Stimmung aufgenommen werden. Das hat mich erstmal sehr beeindruckt. Ein klares Statement zu einer unbequemen Entscheidung, die sicher einige Wähler verprellen und in Richtung rechtes Lager treiben wird. So hat denn auch ein Redner aus dem Publikum dem Landrat gleich vorgeworfen, dass er kneifen und alles schönreden würde und dass er seinen Denkzettel bei der nächsten Wahl schon noch bekomme. Eindrücklich in Erinnerung ist mir auch ein Kommentar einer älteren, gut gekleideten und frisierten Dame aus dem Publikum zwei Reihen hinter mir geblieben. Der Landrat verlas, aus welchen Ländern die Asylbewerber kommen würden. Eben aus Syrien, aber auch aus afrikanischen Ländern vor allem Eritrea. Die Dame mokierte sich darüber, dass sie mehr eigentlich nicht zu wissen brauche, denn was da für Leute herkommen, weiß man ja. Die würden sich sicher auch gleich vermehren und anderes.

Sicherlich sind viele Menschen in den Dörfern und Städten des Burgenlandkreises nachvollziehbar frustriert. In den beiden letzten Jahrzehnten war ein großer Teil der Jugend dem Geld und der Arbeit hinterhergezogen. Krankenhäuser, Kinos, Schwimmbäder, Schulen und Polizeidienststellen wurden geschlossen. Es nicht verwunderlich, dass für viele Ansässige Veränderung negativ konnotiert ist. Dabei ist in letzter Zeit der Aufschwung auch hier angekommen, und gerade deswegen kann die Aufnahme von Flüchtlingen für alle hier eine riesige Chance sein. Spekulationen darüber, Flüchtlinge nur noch auf Gegenden zu verteilen, wo der Widerstand geringer ist, sind fatal. Denn dann würde es ganze Landstriche geben, in denen nur noch Stagnation herrscht, in denen andere keinen Zutritt mehr haben, und dann könnte auch diese Dame niemals ihre unmenschlichen und mitleidslosen Vorurteile abbauen können. Es gäbe noch einiges mehr aus Hohenmölsen zu berichten. Viel Schlimmes, aber auch Hoffnungsvolles. Einige ansässige Vereine freuen sich auf neuen Zuwachs. Die Kirchgemeinde bemüht sich darum Kontakte aufzunehmen. Bürgermeister Andy Haugk warb für die Chancen, die mit der unumgänglichen Aufnahme der Flüchtlinge einhergehen würden. Die Kindergärten und Schulen freuen sich auf mehr Kinder.

Angesichts der Brisanz der Ereignisse möchte ich aber hauptsächlich über die Bürgerversammlung in Tröglitz schreiben. Denn dort hatte – anders als in Hohenmölsen – die NPD ihr Unwesen treiben können. Dort musste selbst ein Bürgermeister zurücktreten angesichts der Drohkulisse, die seitens rechtsextremer Gesinnung aufgebaut worden war. Ich muss mich unweigerlich an die von Neonazis besetzten Autokolonnen erinnern, die Mitte/Ende der 90er Jahre hier in den Städten und Dörfern des damaligen Landkreises Weißenfels Jagd auf Hippies und linke Jugendliche gemacht haben. In Deuben, ein Dorf 10 Kilometer von Tröglitz entfernt, gab es damals eine große Diskothek. Regelmäßig flammte rechte Gewalt auf. Einmal wurde eine ganze Familie vor der Disko überfallen. Auch meine Freunde und ich waren damals betroffen. Nachts hatte man uns auf der Straße verfolgt und mit zahlenmäßiger Überlegenheit zusammengeschlagen. Ausländerkriminalität ist hier in vielerlei Munde, doch von der damaligen rechten Menschenhatz spricht kaum jemand.

Mit mulmigen Gefühlen im Bauch und eigentlich gegen unseren Instinkt fuhren wir also am 31. März in das gut sanierte Bürgerhaus von Tröglitz. Zu allererst fällt auch hier der enorme Andrang auf. In der normalerweise wie ausgestorben wirkenden Gegend hatten sich viele Menschen eingefunden: 500 Menschen versammelten sich In einem prächtigen Kulturraum. Wie auch schon in Hohenmölsen gab es ein Podium u.a. mit Vertretern der Fraktionen, CDU und Linke, Vertretern aus Stadt- und Landrat, Verwaltung und Polizei, sowie den Bürgermeistern aus Hohenmölsen und Eckartsberga und der dortigen Pfarrerin. Sie alle waren gekommen, um über ihre Erfahrungen mit bereits aufgenommenen Flüchtlingen zu sprechen, um die Bedenken der Anwohner zu zerstreuen. Auch hier in Tröglitz wurde seitens des Landrates gleich offensiv die Frage gestellt, warum man zu einer bereits getroffenen Entscheidung eine Bürgerversammlung einberuft – mit ähnlichen Reaktionen wie in Hohenmölsen.

„Unsere Leute kriegen nichts, um Obdachlose kümmert sich niemand, aber den Asylanten geben wir alles. Das ist Scheiße, das ist Scheiße.“, so tönt der erste Beitrag vom Rang herunter. Jedem ist klar, dass das nicht stimmt. Vermutlich gar dem Sprecher selbst. Aber einmal ausgesprochen liegt es im Raum und beginnt die Atmosphäre zu vergiften. Zufrieden begibt sich der vom Rang Rufende nach unten in die letzte Reihe zum NPD Kreistagsabgeordneten Steffen Thiel. Aber nun erhebt sich ein älterer Tröglitzer im Saal. Er erinnert sich mithilfe eines Dokuments, dass 1949 über 1600 Flüchtlinge in dieser Gegend aufgenommen wurden und wie gut, trotz anfänglicher Schwierigkeiten, die Integration geklappt hat. „Das sind Deutsche gewesen“, ruft es aus den hinteren Reihen, „deutsche Vertriebene, das kann man nicht vergleichen.“ Ich schaue mich um. In den letzten Reihen verteilt sitzen eindeutig erkennbare Neonazis in ihrer typischen Kluft. Mit ihren Zwischenrufen dominieren sie die hintere Hälfte des Saales. Was sich dort abspielt, ist für das Podium und die Presse auf der anderen Seite des Raumes nicht immer vernehmbar. Für sie ist die Veranstaltung ein Freudenfest. Aber die eigentlich Furcht machenden Beiträge kommen von den unscheinbareren Vertretern dieser Gesinnung. Krude Beiträge und all die gut bekannten fremdenfeindlichen Argumente. Ausländer als Ursache für steigende Kriminalität, Ausländer als Ursache für fallende Immobilen- und Grundstückspreise, so auch NPD Funktionär Thiel.

Auf die Spitze trieb es aber folgende These: Wer sich eine Überfahrt in Höhe von 10.000 Dollar leisten kann, der soll gefälligst in seinem Land bleiben und sich auch dort um den Frieden kümmern. Solche Leute dürfen wir hier nicht aufnehmen und zwar aus – man höre und staune – Barmherzigkeitsgründen. Im Saal steigt die Anspannung. Ein extra aus Greiz angereister Demagoge übt sich in marktschreierischer Rhetorik. Er schreit die Wörter „Barmherzigkeit“ und „Friedensstiftung“ in unsäglichen Zusammenhängen aus und bringt das hintere Drittel des Saales zum zustimmenden Gegröle und Jubel. Dem hat zu diesem Zeitpunkt niemand im Saal etwas entgegenzusetzen. Die Tröglitzer nicht und auch Landrat Ulrich nicht, welcher auch sichtbar überrumpelt ist. Die berechnende und planmäßige Pervertierung und Vereinnahmung von Begriffen in solchem Ausmaß ist – gelinde gesagt – lähmend. Dabei lässt sich das Wort „Barmherzigkeit“ nicht schreien, denke ich mir leider viel zu spät. Entweder man ist es oder nicht, und wer es ist, der spricht nicht darüber. Welche Art von „Friedensstiftung“ man hier im Sinn hat, wurde dann auch wenige Tage später deutlich, als die geplante Unterkunft für die Flüchtlinge in Tröglitz brannte. Die gezielte und systematische Umdeutung von Begriffen in den letzten Wochen und Monaten war auch schon bei Pegida und Legida zu vernehmen und hat nun auch in Tröglitz Konjunktur. Auch hier findet eine Umwertung der Werte statt, die nicht von den Bürgern selbst kommt, sondern gezielt und organisiert unter die Bürgerschaft gebracht werden. Die Demonstrationen, die Bürgermeister Markus Nierth letztlich zum Rücktritt zwangen,  wurden „Lichterspaziergänge“ genannt. Gemeinschaftsstiftende und lebenspendende Metaphern werden nun auch in Tröglitz für zerstörerische Ziele und egoistische Begierden ausgebeutet.

Leider dominieren die fremdenfeindlichen und hasserfüllten Wortbeiträge den gesamten Abend, der nun schon drei Stunden dauert. Dennoch denke auch ich, dass die Versammlung notwendig, sinnvoll und wichtig ist. Viele stumpfsinnige Argumente können auch dank der sachlichen und ruhigen Art des Landrates entkräftet werden. Er sprach von fehlenden Arbeitskräften und nicht besetzten Ausbildungsstellen, vom demografischen Wandel, leerstehenden Gebäuden und den Renten, die immer weniger Arbeitende bezahlen müssten. Er sprach von Klassengrößen, die maßgeblich über den Erhalt von Schulen entscheidet. Er nannte viele Zahlen: Dass der Burgenlandkreis jährlich 170 Mio Euro für Sozialhilfe ausgibt und demgegenüber nur 6.1 Mio Euro für die Aufnahme der Flüchtlinge. Aber eigentlich ist mir das egal. Ich will gar nicht wissen, was ein Asylbewerber kostet oder welchen potenziellen wirtschaftlichen Nutzen er haben kann. Das ist erstens völlig abstrakt, da das Geld sowieso im Landkreis verbleibt (für Mieten, Nahrung, Sozialarbeiter etc…) zweitens, weil sich die im Grundgesetz verankerte Menschenwürde, die für alle gilt und nicht nur für Vertriebene Deutsche, sich ohnehin nicht mit Geld messen lässt. Keiner hier kann sich ausmalen, welches Leid die Flüchtlinge hinter sich haben. Kaum jemand stellt den Zusammenhang her, dass unser Wohlstand hier auch auf Kosten anderer erwirtschaftet wurde und das nicht nur aufgrund des enormen deutschen Waffenexportes, sondern auch, da alle Welt unsere Maschinen kauft und unsere global player überall in der Welt – und nicht nur zum Guten für die betroffenen Regionen – Gewinne erwirtschaftet.

Und so hätte ich mir gewünscht, dass der Landrat die Aufnahme der Asylbewerber nicht so sehr unter dem ökonomischen Aspekt betrachtet, sondern eher als eine Frage der Mitmenschlichkeit und Nächstenliebe angesehen hätte. Denn es gibt auch hiervon Anzeichen in Tröglitz. Mit Schnürsenkeln hatte man improvisiert, eilig wurden sie aus den Schuhen gezogen und damit das große Transparent der Burtschützer Kirche (Ortsteil von Tröglitz) über die Brüstung des Ranges gehangen. Überall war es zu sehen: „Nächstenliebe verlangt Klarheit. Evangelische Kirche gegen Rechtsextremismus“. Zum Schluss ergreifen zwei Frauen das Wort. Frau Nierth, die Frau des zurückgetreten Bürgermeisters, tritt an das Mikrophon, welches die letzten Stunden noch von den dumpfen Beiträgen aus den letzten Reihen okkupiert worden war. Sie aber sprach von zuversichtlich stimmenden Zeichen. Es kommen Spenden und Unterstützungsbriefe aus ganz Deutschland. Das wird Tröglitz bei der Aufnahme der Flüchtlinge zugute kommen. Die andere Frau spricht von einer Initiative, die aus den Friedensgebeten in der Burtschützer Kirche hervorgegangen ist. Alle Menschen, die sich engagieren wollen, sind willkommen um zu helfen, die Hürden abzubauen und Tröglitz zu einem menschenfreundlicheren Ort zu machen. Und da klatscht auch die ansonsten sehr stille Mehrheit im Saal.

Daniel Walther, Promotionsstudent Theologie Uni-Leipzig (daniel-walther(at)posteo.net)

 

 

4 Antworten

  1. Ja, Herr Walther, da sind wir uns nun praktisch komplett einig! Gastfreundschaft und Mitgefühl sind hohe Güter; die Ausländer bei uns sind sowieso ein großer Gewinn für uns und unser Land; Ausgaben für Sinnvolleres als Waffen sind vernünftig und – ja, es besteht ein Zusammenhang zwischen Wohlhabend = Abgrenzung und weniger Wohlhabend = Bereitschaft zum Teilen. Das ist alles richtig.
    Aber es gilt eben, die Balance zu halten zwischen dem ideal zu Erstrebenden und dem in einer sehr unperfekten Welt real zu Erreichenden – und hier ist Kompromissbereitschaft auch unter Verzicht auf die edle Vision (ohne diese aus dem Auge zu verlieren) erforderlich. Und im Grunde versuche ich hier nichts Anderes, als darauf hinzuweisen und deshalb die notwendige Gelassenheit und die notwendige pragmatische Kompromißbereitschaft anzumahnen.
    Daß das augenblicklich im sächsischen Raum (oder auch im Ruhrgebiet und in gewissen Teilen Bayerns) angesichts der rechtsradikalen Exzesse schwieriger ist als weitab im Rheinland, gestehe ich zu. Aber gerade deshalb – aus der Distanz – hat man vielleicht auch den besseren Überblick über die „Gesamtdimension“ des Problems. Und die ist:
    1. Es gibt in Deutschland in Prozent eine nur geringe Rechtsradikalität (zum Glück), die sich (Wahlergebnisse) jedenfalls nicht über 10% erhebt (also im normalen Bereich der Gauss’schen Kurve und kaum verringerbar); (leider sind diese augenblicks eben im sächsischen Raum überproportional versammelt)
    2. Wir dürfen nicht der Versuchung erliegen, rechtsradikale Widerlichkeiten durch eigene Überreaktionen aufzuwerten und den Tätern die Genugtuung verschaffen, sich und ihre Taten täglich im Fernsehen kommentiert zu sehen und vielleicht noch verbunden mit einem Unterton der Angst – was nicht heissen soll, dass man das Problem negiert oder verdrängt.
    3. Und Waffen sind nicht die schönsten Erfindungen der Menschheit, aber wohl nötig zur Stabilisierung von gewünschten oder auch nur minimal erreichbaren Zuständen. Saudi Arabien – ich schrieb es – ist doch so ein Beispiel. Im Augenblick zittert die ganze westliche Welt, was wohl IS im Flüchtlingslager Yarmuk in Damaskus anstellt. Und – ironisch gesprochen – nun warte ich eben darauf, dass Frau Käßmann dort mal hinfährt und das Problem „auf die eine oder andere Weise“ löst (wie sie es am Sonntag so schön im DLF formulierte) und dabei Waffen jedenfalls nicht meinte. Ich lasse mich gerne überzeugen!
    Mkt freundlichem Gruss,
    Andreas Schwerdtfeger

  2. Ups – Entschuldigung, da ist mir eine Null durchgerutscht – ein peinlicher Fehler! Die deutschen Waffenexporte beliefen sich auf unter 20 (zwanzig) Milliarden Euro angesichts einer Gesamtexportleistung von rund 1 100 Milliarden. Das Argument bleibt freilich trotzdem gültig.
    A. Schwerdtfeger

  3. Der Bericht ist beeindruckend und – Herr Walther – ich will gleich sagen, damit Sie nicht wieder etwas falsch auffassen, ein wichtiger, aufrichtiger und eben anrührender Beitrag ohne Zweifel. Aber ist es denn nicht möglich, trotzdem sachlich zu bleiben?
    1. Ist es nicht richtig, dass die Menschen, die aus fremden Ländern – aus welchen Motiven auch immer und sicherlich sind darunter überwiegend tatsächlich Motive grosser Not und Bedrohung – ist es nicht trotzdem richtig, dass diese Menschen für ihr eigenes Land einen fürchterlichen brain-drain und einen grossen Verlust darstellen? Ist es nicht auch richtig, dass wenn die Elite eines Landes, die Jungen und Starken, dieses verlassen, der dortige Diktator gestärkt wird? Natürlich müssen die Leute fliehen, wenn ihr Leben, etc, bedroht ist, aber unsere Hilfe muss sich neben der Aufnahme dieser Menschen eben auch auf die Stabilisierung der Verhältnisse in ihren Ländern richten – und das geht nicht mit der Bergpredigt alleine! Und schon gar nicht ist es falsch, darauf hinzuweisen.
    2. Die deutschen Gesamtexporte (2014) beliefen sich auf rund 1 100 Milliarden Euro. Im gleichen Zeitraum war der Anteil der Rüstungs- und Waffenexporte – je nachdem was man alles einbezieht – deutlich unter 2 Milliarden Euro. Dies zum Verhältnis – und wie Sie Ihre Einschätzung „enorm“ (auch angesicht der Preise für Waffen) rechtfertigen, ist mir rätselhaft. Aber selbst wenn man komplett gegen Waffenexporte ist, dann muss man sich auch über die Konsequenzen im Klaren sein: Nehmen wir das Beispiel Saudi-Arabien – ein Land, dessen politisch-rechtliche Struktur ich nicht beschreiben muss, denn da sind wir uns sicherlich einig. Aber Saudi-Arabien herrscht über zwei der drei wichtigsten Stätten des Islam und stellt (mehr oder weniger) einen reibungslosen Ablauf der jährlichen Hadj für alle islamischen Glaubensrichtungen sicher. Ich möchte mir nicht vorstellen, was passieren würde, wenn dort ein sogenannter „arabischer Frühling“ den augenblicklichen islamischen Bürgerkrieg um diese Stätten noch in ein Vielfaches steigern würde. Leider (!) spricht also wohl auch einiges FÜR eine Stabilisierung des dortigen Königshauses.
    3. Die Bundesrepublik Deutschland hat ja nicht nur (augenblicklich mehr, aber nicht ausschliesslich, in den ostdeutschen Ländern) ein Rechtsradikalenproblem, sondern (überwiegend in den westdeutschen Ländern) auch ein Linksradikalenproblem, wenn ich an Chaos-Tage in Hannover oder Ausschreitungen à la Gorleben denke. Wir haben ein Demokratie-Verständnis-Problem, wenn ich daran denke, dass in Stuttgart die Gegner des Bahnhofs unmittelbar nach verlorener demokratischer Abstimmung ankündigten, dies nicht zu akzeptieren. Die Republik ist zum Glück stark genug (und hierzu trägt unsere geschichtliche Erfahrung wesentlich bei), diese Exzesse zu ertragen und zu überwinden. Sachlichkeit auch angesichts des widerlichen Geschreis im hinteren Abteil des Saales, wie sie es beschreiben, sollte also unsere gemeinsame Haltung sein.
    Ich grüße Sie,
    Andreas Schwerdtfeger

    1. Vielen Dank für ihre Rückmeldung. Selbstverständlich haben Sie recht. Die Abwanderung ist ein enormer Verlust für die betroffenen Länder. Und ja, die Verhältnisse vor Ort müssen stabilisiert werden. Aber wie gelingt das? Ich meine, dass wir das nicht aus unserer erhabenen Warte aus machen können. In der globalisierten Welt sind wir gerade aufgrund unseres Wohlstandes unmittelbar mitverantwortlich für die Verhältnisse vor Ort. Einen Exkurs in die Historie unserer Verantwortlichkeiten möchte ich hier nicht machen. In Ihren Augen sind 20 Mrd. Euro (die Zahl kann ich nicht überprüfen) an Waffenexporten vielleicht Peanuts, aber in meinen Augen ist das eine enorme Summe (enorm auch da Dtl. wieder 3. größter Exporteur ist). Stellen sie sich das Waffenarsenal vor, dass man mit solchen Summen erwerben kann. Ich bin auch skeptisch, was eine plötzliche und völlige Einstellung der Waffenlieferungen angeht. Aber das war auch nicht der Punkt meines Beitrages. Es besteht ein Zusammenhang zwischen billigem Obst, Kakao … in unseren Supermärkten, dem billigen Benzin, den billigen Rohstoffen für die Unterhaltunsindustrie und vieles vieles mehr und den weltweiten Konflikten. Es scheint einen Zusammenhang zu geben zwischen materiellen Wohlstand, Besitzstandswahrung und Angst vor dem Fremden und Veränderung. Aber hier denken wir offensichtlich in ganz verschiedenen Kategorien. Die Flüchtlingsfrage darf nicht primär als ökonomische Angelegenheit betrachtet werden. Was das angeht, ist es eine Chance für alle Beteiligten, auch für uns. Wenn wir dadurch lernen, dass Einschränkung und Zuwendung zu Anderen eine große Bereicherung für uns sein kann. Das ist im Prinzip ein äußerst unsachlicher Zusammenhang. Durch Verzicht entsteht Gewinn, aber natürlich einer der ganz anderen Art, oder wundern Sie sich nicht, dass gerade in den armen Gegenden Gastfreundschaft ein hohes Gut ist?
      Zuguterletzt hoffe ich sehr, dass sie recht behalten und unsere Republik diese Form des Rechtsextremismus verkraftet, der sich immer geschickter maskiert und die Verhältnisse ins Gegenteil verkehrt. Allzugroße Gelassenheit kann eine Kettenreaktion zur Folge haben, in der alles außer Kontrolle gerät.

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