In ihrem Auftritt bei „Lanz“ betonte die als Bundesverfassungsrichterin vorgeschlagene Juristin Frauke Brosius-Gersdorf: „Ich vertrete absolut gemäßigte Positionen aus der Mitte unserer Gesellschaft.“ Sie trat damit den Vorwürfen entgegen, ihre Ansichten insbesondere zum § 218 seien linksradikal und mit dem Grundgesetz nicht vereinbar. Doch was ist „die Mitte“? Inzwischen zählen sich die Parteien zur Mitte, die als demokratisch gelten: CDU, CSU, SPD, Bündnis 90/Die Grünen und selbst Die Linke. Ein Grund für dieses Gedrängel in der Mitte ist, dass sich mit der rechtsnationalistischen AfD eine verfassungs- und demokratiefeindliche Partei gebildet hat, deren Verbot in Erwägung gezogen wird. Mehr noch: Die AfD und der mit ihr nach rechts verschobene gesellschaftliche Diskurs sorgen dafür, dass sich unzählige rechtsradikale Gruppierungen gebildet haben bzw. aus der Verborgenheit herausgetreten sind. Diese knüpfen bewusst an den gewalttätigen Nationalsozialismus an und arbeiten mit den gleichen Methoden wie die NSDAP: einschüchternde Gewalt, völkischer Nationalismus, rassistische Umtriebe. Hinzu kommt, dass mit dem BSW am eher linken Rand eine Partei um Wähler:innenstimmen wirbt, die sich in Vielem als kompatibel mit der AfD erweist. Auf diesem Hintergrund sehen sich die Parteien der Mitte auf wichtigen Politikfeldern zur Zusammenarbeit verdammt. Gleichzeitig nimmt aber die Bereitschaft unter den Wähler:innen eher zu als ab, der AfD die Stimme zu geben. Auch liegen insbesondere für die junge Generation die katastrophalen Folgen des nationalsozialistischen Terrorregimes in Deutschland inzwischen zu lange zurück, um als gegenwärtige Gefahr wahrgenommen zu werden.
Also stellt sich noch einmal die Frage: Was ist „die Mitte der Gesellschaft“? Zählen zu ihr alle, die die Grundwerte der Verfassung für unveräußerlich halten? Oder zeigt die gescheiterte Wahl von drei neuen Bundesverfassungsrichter:innen nicht sehr deutlich, dass „die Mitte“ gar nicht in der Lage ist, alles abzudecken, was gesellschaftspolitisch notwendig ist und gedacht werden sollte? Mehr denn je habe ich den Eindruck, dass mit dem Begriff „die Mitte“ die politische Debatte verschwommener wird. Darum plädiere ich dafür, „die Mitte“ anders zu definieren. Vom Mystiker Meister Eckhart (um 1260-1328) stammt der schöne Gedanke: „Wer um seine Mitte weiß, kann weite Kreise ziehen.“ Mitte bedeutet also nicht, auf Kosten der eigenen Programmatik eine konturlose Mittelposition einzunehmen. Im Gegenteil: Es kommt darauf an, sich über seine eigene Lebenshaltung, sein Selbst gewiss zu werden, um angstfrei dem Anderen begegnen zu können. Eckhart fordert dazu auf, sich über seine innere Haltung, seine Überzeugungen, seine eigene Mitte Gewissheit zu verschaffen, um auf diesem Fundament mit anderen kommunizieren zu können. Ein solches Verständnis von „Mitte“ ermöglicht zweierlei: sich selbst klar zu werden über sein inneres Wertegerüst und gleichzeitig dem Anderen, wer immer dies auch sein mag, mit Offenheit zu begegnen.
Wenn wir das auf die gegenwärtige gesellschaftspolitische Situation übertragen, dann benötigen wir gerade in einer multikulturellen und multireligiösen Gesellschaft einen offenen und immerwährenden Diskurs über das, was uns trägt und hält. Einige Fundamente, von dem aus sich der Diskurs führen lässt, haben die Mütter und Väter des Grundgesetzes in den Grundrechtsartikeln versucht festzuhalten – nach der Erfahrung des nationalsozialistischen Terrorregimes. Dieses hat bewusst und gezielt alle Werte zerstört, die Menschen Lebensgewissheit vermittelt und die Achtung des nahen und fernen Nächsten gefördert haben. Gleichzeitig waren sich die Mütter und Väter des Grundgesetzes darin einig, dass bei der Bildung „der Mitte“ den Religionsgemeinschaften eine herausragende Rolle zukommt – allerdings unter der Maßgabe, dass gerade die Religionsgemeinschaften Menschen dazu befähigen sollen, weite Kreise zu ziehen. Wer sein Leben vor Gott und den Menschen verantwortet, kann gar nicht anders, als in dieser Weise zu glauben, zu denken und zu handeln. Denn alles Tun und Lassen der Menschen ist darauf ausgerichtet, Gott (für Christen: Jesus Christus) als die Mitte alles Seins, als Ausgangspunkt des Lebens zu betrachten, um mit Gottvertrauen in die Welt zu gehen, sich dem Nächsten zuzuwenden und voller Dankbarkeit ins Zentrum, in die Mitte zurückzukehren. Dort kann dan für den erneuten Aufbruch Kraft getankt werden.
Derzeit deute ich viele politischen Vorgänge als Ausfluss des Verlustes dieser Mitte – seien es die Nein-Stimmen im ersten Wahlgang der Bundeskanzlerwahl, die vielen Nein-Stimmen bei der Wahl von Lars Klingbeil zum SPD-Vorsitzenden, die skandalösen Vorgänge bei der gescheiterten Wahl von drei neuen Bundesverfassungsrichter:innen, die bewusste und gezielte Missachtung des Rechts in der Migrationspolitik – alles Ausdruck eines gefährlichen Opportunismus und Egoismus. Auch die absurde Aufrüstungsspirale, in die unser Land durch groteske Beschlussfassungen auf Initiative eines Politganoven geraten ist, oder der fatale Begriff der „Kriegstüchtigkeit“ zeigen an, dass wir derzeit die Mitte, das Fundament einer auf Frieden und Verständigung ausgerichteten Politik aus den Augen verloren haben. Damit sind dem Opportunismus, aber auch dem Anwachsen des Rechtsnationalismus Tür und Tor geöffnet. Es ist also höchste Zeit, dass wir uns alle mehr um „die Mitte“ kümmern müssen, die uns beides ermöglicht: Haltung und eine (für mich jedenfalls) im Gottvertrauen verankerte Selbstgewissheit auf der einen und Offenheit und demokratische Vielfalt auf der anderen Seite.
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Im Herbst 2021 befürwortete Brosius-Gersdorf die diskriminierenden 2G-Verbote (und sogar das komplett verrückte 2G+) und hat damit alle Glaubwürdigkeit als Juristin verloren (https://x.com/chluetge/status/1944727239637037514). Allerdings vertrat sie damit die Meinung der Mehrheit der Bevölkerung – das war aber damals nicht die „Mitte“, sondern eine radikalisierte Masse, die keine Skrupel hatte, die andersdenkende Minderheit an den Rand zu drängen. „Maß und Mitte“ haben sich immer gegen diese Verbote gewandt und haben auch die Verbote der Deminstartionen gegen 2G-Diskriminierung verurteilt. Das war damals aber nur eine kleine mutige Minderheit (immerhin wurde Michael Ballweg jetzt freigesprochen – es gibt also die Chance und die Hoffnung auf Versöhnung und Wiedergutmachung).
Danke für die Quelle.
Wenn ich die Stellungnahme der beiden Professoren lese, ist eigentlich klar, dass Prof. Brosius-Gerstorf ungeeignet für das Bundesverfassungsgericht ist. Etwas Anstand würden zum eigenen Rückzug der Kandidatur führen. Praktisch alles, was dort aus medizinischer Sicht dargelegt wird, hat sich als falsch erwiesen.
Das ist die unbewußte Unwissenheit – man weiß so wenig, dass man nicht erkennt, wie unwissend man ist.
Auch wenn das damals Mainstream war (es gab aber Ärzte und Wissenschaftler, die genau dass vertraten, was sich heute als richtig erwiesen hat) , sollte man sich aktuell zurückhalten, wenn man so weit daneben lag und auf so schwankendem Boden derartig krasse Forderungen aufstellte.
Am 17. Mai 25 fand ein sog. Remigrationskongress in Italien statt. Acht Mitglieder der Identitären Bewegung wurden von der Bundespolizei auf dem Münchner Flughafen an der Ausreise gehindert. Auf anderen Wegen gelangten die Teilnehmer doch noch nach Italien. Den Eilantrag auf aufschiebende Wirkung der Betroffenen lehnten zwei verwaltungsgerichtliche Instanzen ab. Durch die Teilnahme am Kongress drohe der Bundesrepublik ein internationaler Ansehens- und Glaubwürdigkeitsverlust. Mir war nicht klar, dass ein derartiger Passus im Passgesetz existiert. Hier wurde die Verhältnismäßigkeit staatlichen Handelns nicht gewahrt. M. E. schadet diese Handlung dem Ansehen der Bundesrepublik mehr als die Teilnahme eines Häufleins von Identitären an einem Treffen Gleichgesinnter.
Siehe auch https://www.belltower.news/italien-rechtsextreme-aus-ganz-europa-beim-remigrations-gipfel-160187/
Ich habe einen Meinungsbeitrag der emeritierten Politikwissenschaftler Falter und Jesse in der heutigen „Welt“ hier hochgeladen: https://c.gmx.net/@327755440907619083/AZRebUqIdvUU5tgbE8GXpg
Ähnlich nach hinten ging das ARD-Interview mit Alice Weidel unter den Störmanövern des „Zentrums für Politische Schönheit“ los. Man hätte es in ein geschlossenes Studio verlegen müssen. So brüstete sich die AfD in der Märtyrerrolle.
Philipp Ruch, hat in einem heute veröffentlichten Podcast mit dem Bild-Redakteur Paul Ronzheimer freimütig zugegeben, dass die Störaktion des ZPS in Absprache mit der Polizei und der ARD geplant und durchgeführt wurde.
https://www.youtube.com/watch?v=lF-o3ZrG1uI
… und in Absprache mit der AfD – so Philipp Ruch in dem Interview. Dieses belegt, was für ein relativ durchgeknallter Verein dieser „Verein für politische Schönheit“ ist: eine gewagte Gratwanderung zwischen politischer Absicht und Klamauk.
Die Berliner Polizei dementiert jede Absprache mit dem ZPS. Ebenso natürlich die ARD und die AfD.
Sh. heutiger Ronzheimer-Podcast: https://ronzheimer.podigee.io/
Wie blind muss man sein, um auf das satirische Sammelsurium eines Philipp Ruch hereinzufallen … so viel also zu Herrn Breuer.
Nun wissen wir jedenfalls, was NICHT Mitte ist: Ein unerzogener Mitblogger (früher nannte man solche Leute schlicht „Flegel“), der seine Mitdiskutierer „Hooligans“ nennt (ein Begriff, der u.a. für Gewalt und Vandalismus steht), wen immer er damit in seiner Einfachheit auch treffen will. Und Sie, lieber Herr Wolff, machen sich wieder einmal unglaubwürdig, indem Sie diese Beleidigung anstandslos (im wahrsten Sinne) veröffentlichen, obwohl Sie doch Beleidigungen nicht tolerieren. Und ebenfalls NICHT Mitte ist eine Versammlung von Pöbel, die eine Fernsehsendung stört und damit das Ziel dieser Intervention, die AfD-Vorsitzende, auch noch erhöht und zum Opfer dieser primitiven Aktion macht anstatt, anstatt sie sich in ihre populistischen Unwahrheiten verstricken zu lassen.
Lieber Herr Lerchner,
Mit Ihren wissenschaftlichen Ausführungen zur Gauß’schen Kurve mögen Sie Recht haben, auch wenn ich sie etwas pedantisch finde. Ich glaube, mein Punkt kommt trotzdem rüber: Dass eine solche Kurve, die auf der Achse durchaus nach rechts oder links verschiebbar ist, eine Mehrheit in einem akzeptablen Spektrum IN DER MITTE versammeln kann, wenn nicht blinder Eifer und Rechthaberei bis ins Detail keinerlei inhaltliche Kompromisse erlaubt und wenn der Stil der Auseinandersetzung im konsensualen Rahmen bleibt – was ja hier einigen negativ-„Eliten“ schwer fällt.
Andreas Schwerdtfeger
Mit seinem Beitrag vom 21.7.25, 16:51 Uhr will Herr Schwerdtfeger anscheinend abschließend klären, wer/wer nicht Mitte ist.
„NICHT Mitte ist: ein unerzogener Mitblogger (…Flegel)“.
Damit kann ich umgehen – zumindest solange nur ich an den Pranger gestellt werde.
Es reicht ihm aber offensichtlich nicht, nur mich zu diffamieren (hirnloses Echo, würdelos), jetzt klagt er auch noch meine Eltern, Familie, Erzieher:innen, Freund:innen und Kolleg:innen, an, sie hätten mich nicht gut/richtig (zumindest nach SEINER Definition) erzogen; das ist infam! Dagegen setze ich mich ganz entschieden zur Wehr!!!
Er ist über den Begriff Hooligan erbost (dieser ist eher gewaltbereit, im Vergleich zu sog. Ultras); das ist sein gutes Recht.
Allein Gewalt beschränkt sich nicht nur auf die physische, es gibt durchaus auch z.B. die verbale Gewalt. Und da ist Herr Schwerdtfeger alles andere als zurückhaltend, man lese nur seine Wertungen für Jo.Flade…
Ultras/Hooligans kennzeichet auch die unbedingte Unterstützung bis hin zur Glorifizierung der bewunderten Person, des Vereins, der Organisation, des Themas, ungeachtet aller Widersprüche, Bewertungen/Einstellungen Andersdenkender.
Folgerichtig wertet Herr Schwerdtfeger nach einer Sommer-Pressekonferenz:
„Der Kanzler – Hochachtung – antwortete sachlich, unaufgeregt, kurz und präzise, kenntnisreich und auf hohem inhaltlichem Niveau. Das war „Mitte“ (19.7.25, 9:33 Uhr).
Ich lasse das so stehen, will mich nicht erneut dem Vorwurf der „Merz-Hetze“ aussetzen.
Ich bin sehr einverstanden, dass Herr Wolff die Werte aus der christlichen Lehre abzuleiten vorschlägt. Dazu müssten aber zunächst einmal die dazu Berufenen, diese Werte darlegen und auf die Anforderungen der Zeit konkretisieren und dauerhaft zu lehren. Daran scheint es mir sehr erheblich zu mangeln. Im übrigen
sind die Auffassungen der Katholischen und Evangelischen Lehre ja auch im Detail nicht deckungsgleich, auch nicht, was die Frage betrifft, wann die Menschenrechte konkret beginnen, die es zu schützen gilt.
Abgesehen davon halte ich grundsätzlich nichts um dien Diskussion Was ist die Mitte. Dafür ist der Begriff eifach zu schwammig und unbestimmt. Auch der Hinweis auf Art. 1 GG und die jetzt aufgekommene Diskussion um „ Das Recht zu leben“ und dem Schutz nach Art. 1 zeigen es ja gerade.
Im konkreten Fall geht es auch nicht um die Mitte. Das ist nicht das Thema. Es geht darum, wie das politische System funktioniert.
Um es kurz zu machen: In der Vergangenheit gab es das gut funktionierende System des Fraktionszwangs, was rein rechtlich ein System der Fraktionsdisziplin war. Das machte das Regieren über die Hierarchie der Parteien verlässlich. Nun stellen wir aber fest, dass die Abgeordneten dem nicht mehr folgen, was andere vorher gesagt oder verabredet haben. Das kann von reinen Demokratiefreunden sehr begrüsst werden, schliesslich kommt es ja alleine auf die Gewissenentscheidung des Abgeordneten an.
Was das für die Funktionsfähigkeit von auf den Kompromiss angewiesenen Koalitionen und Parlamenten bedeutet, dürfte klar sein.
Wenn die CDU/CSU bei ihrer Entscheidung bleiben sollte, dem gemeinsam verabredeten Vorschlag der ernannten Kandidaten nicht folgen zu können, dann haben wir den Supergau aus der Sicht der Parteiführungen. Ich kann mir nämlich nicht vorstellen, dass SPD und Grüne zurückziehen.
Ich denke daran wird keiner der Herrschenden ein Interesse haben, ausser er will etwas zerstören.
“ Ich kann mir nämlich nicht vorstellen, dass SPD und Grüne zurückziehen.“
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Das wird auch nicht passieren, weil Frauke Brosius-Gersdorf ihre Kandidatur zurückziehen wird. Sie wird sich die Umstände ihrer Kandidatur nicht länger zumuten.
Die Aussage von Frau Brosius-Gersdorf „Ich vertrete absolut gemäßigte Positionen aus der Mitte unserer Gesellschaft“, Aufhänger des Blog-Artikels, ist m.E. eher im Sinne einer sozialwissenschaftlich definierten „Mitte“ zu verstehen, d.h. im Sinne einer in ganz vielen gesellschaftlichen Gruppen übereinstimmend herrschenden Anschauung, denn im Sinne einer parteipolitisch verorteten Position. Gleichwohl kann man in ihrem Satz auch eine Antwort auf die plumpe Verdächtigung sehen, „linksradikal“ zu sein.
Wenn Sie, lieber Herr Plätzsch, meinen, die Kandidatin Brosius-Gersdorf sei „verbrannt“, und Bundeskanzler Merz habe mit seiner Antwort zur Menschenwürde des Ungeborenen und zur Wählbarkeit der Professorin denselben Fehler gemacht, wie seine Vorgängerin Merkel, indem er essentielle Befindlichkeiten vieler Konservativer missachte, so drängt es mich, Herrn Merz für seine Antwort – „Ja, Brosius-Gersdorf wählbar“ – in Schutz zu nehmen. Denn mit seiner Antwort ließ er sich gerade nicht ein auf die polemische Instrumentalisierung der Ansicht von Brosius-Gersdorf zu dem Rechtsproblem der Abwägungsfähigkeit der Menschenwürde – und führte damit erfreulicherweise vor, wie man als verantwortungsvoller Parteipolitiker der Verfälschung von Fakten bzw., hier, einer wissenschaftlichen Position, entgegentritt. Frau von Storch hingegen, um es praktisch zu sagen, steht für mich im Verdacht, Lebensgefahr und auch den Tod Schwangerer in Kauf zu nehmen, weil die Unantastbarkeit der Würde des Ungeborenen die Rettung qua Abtreibung strikt verbiete – das ab Nidation. Die furchtbare Praxis in Polen lässt grüßen. Die Menschenwürdegarantie des Ungeborenen ist rechtlich schwierig. Aber auch wer sie bejaht, kommt dann spätestens beim Lebensrecht (von Schwangerer und Ungeborenem) um die Abwägung nicht herum. Selbst nicht als konservatives CDU-Mitglied.
Der Beitrag selbst ist wieder ein typischer Wolff: Er fordert als Ausdruck der „Mitte“:
– „sich selbst klar zu werden über sein inneres Wertegerüst und gleichzeitig dem Anderen, wer immer dies auch sein mag, mit Offenheit zu begegnen“ und
– „benötigen wir gerade in einer multikulturellen und multireligiösen Gesellschaft einen offenen und immerwährenden Diskurs über das, was uns trägt und hält“,
und dem kann wohl jeder zustimmen.
Und dann schreibt er über Andersdenkende genau das Gegenteil von dem, was er fordert:
– „gezielte Missachtung des Rechts in der Migrationspolitik– alles Ausdruck eines gefährlichen Opportunismus und Egoismus“,
– „absurde Aufrüstungsspirale, in die unser Land durch groteske Beschlussfassungen …, (und der) fatale Begriff der „Kriegstüchtigkeit“ zeigen an, dass wir derzeit die Mitte, das Fundament einer auf Frieden und Verständigung ausgerichteten Politik aus den Augen verloren haben.“
Schließlich garniert er diese intoleranten und eben genau nicht „offenen“ Aussagen mit dem unpolitischen Hetzbegriff „Politganove“. Wo ist die geforderte „Offenheit“ in solcher Sprache; wo ist die Anerkennung anderer Argumente in solcher Rechthaberei – Anerkennung wohlgemerkt nicht im Sinne von Zustimmung, sondern im Sinne von Respekt (vor, im übrigen, seinen eigenen Parteigenossen); wo ist die Bereitschaft zum Diskurs und zur inhaltlichen Auseinandersetzung? Alles bei Wolff nicht vorhanden, wie dieser so richtig beginnende und so schlecht endende Beitrag uns vor Augen führt, auf den inhaltlich einzugehen sich nicht lohnt, weil die Diskussion ja die ewig gleiche ist (die Wolff-Schleife, halt).
Konkret zu den Vorgängen der letzten Tage:
– Frau Brosius-Gersdorf ist eine ehrenhafte Juristin, die, nach allem was man weiß, für das vorgeschlagene Amt geeignet ist. Die Union hätte auch im Parlamentsplenum zustimmen sollen. Aber Gewissensentscheidungen von Abgeordneten sind nicht erzwingbar.
– Die Ablehnung dieser Kandidatin ist kein Skandal, keine Parlamentspleite, keine Beschädigung von wem auch immer (und schon gar kein Anlass für unglückliche Anmerkungen des Bundespräsidenten), sondern ein Vorgang, der vor wenigen Monaten sich schon einmal ereignete – damals wegen der Grünen-Ablehnung eines CDU-Kandidaten und ebenfalls aus „politischen Gründen“). Die Union tauschte damals den Kandidaten aus. Die Hysterie der grünen Fraktionsspitze ist recht lächerlich. Frau BG ist nicht „verbrannt“, sie hätte das Amt verdient. In der eingetretenen Lage allerdings sollte sie – leider – verzichten.
– Merz hat – ein Vorgang, zu dem Wolff zB sich über die letzten Jahre und gerade neulich wieder (Stichwort „Wahlempfehlung“) als unfähig erwiesen hat – Fehler eingeräumt: In der Kommunikation und in der Taktik. Das ist das zu Erwartende und es ist anständiger als Wolff. Hätten wir nicht gerade das übliche Sommerloch bei den Medien und die ständige erhitzte (und eben nicht „offene“) und gezielte „Abschießungs-Hetze“ insbesondere gegen Spahn, der Vorgang wäre längst vergessen.
– Spahn hat nach allen sachlichen Erkenntnissen auf der Basis der damaligen Lage in der Maskenaffäre nichts Wesentliches falsch gemacht; genau so wenig wie Habeck im Fall Northvolt oder mit seinen LNG-Katar-Verträgen (alles sehr teuer) und andere Minister (zB Heil mit seinen überteuerten „Respekt-Sozialleistungen“, etc.). Politik geschieht „im Augenblick“ – nachträgliche Besserwisserei ist die Eitelkeit der Feigen oder unerträglich Selbstgerechten (ich habe das schon mal am Fall Scheuer nachgewiesen; nicht ganz, aber fast vergleichbar).
Also: Wolff hat neulich, wie er meinte, unerwartete Zustimmung bei mir festgestellt, was nur zeigte, dass er meine Beiträge nicht oder nicht vorurteilsfrei liest: Ich habe ihm schon oft geschrieben: Im Ziel stimmen wir überein (was er ja offensichtlich nicht anerkennen will); im Weg dorthin schon deshalb nicht, weil er in der Formulierung dieser Wege ideenlos ist und nur Allgemeinplätze, nicht aber konkrete Politik empfiehlt. Wer Letzteres tut, erntet Kritik (klar!); wer nur ersteres tut, erhält billiges Lob. Und wie „flexibel“ Wolff ist, zeigt sich ja in seiner Zurückweisung des völlig berechtigten Hinweises von Plätzsch in Sachen der Wolff’schen Wahlempfehlung, die angeblich keine war.
Andreas Schwerdtfeger
Wieder ein Kommentar von Herrn Schwerdtfeger, den ich schon beim Erstellen meines Blog-Beitrages selbst hätte schreiben können, weil so erwartbar – vor allem auch deswegen, weil Herr Schwerdtfeger um den eigentlichen Inhalt des Beitrages einen großen Bogen schlägt. Denn mit der von mir beschriebenen „Mitte“ kann und will er nichts zu tun haben. Das ist sein gutes Recht, aber gleichzeitig sehr bedauerlich.
Jetzt irren Sie aber, lieber Herr Wolff: Meinen Beitrag hätten Sie nie schreiben können, denn erstens sind Sie ja völlig unfähig, eigene Fehler einzugestehen, und zweitens sind Sie ebenso unfähig, dem Meinungsgegner wenigstens gelegentlich einmal zuzustimmen.
Und auch Ihre Anmerkung zum „großen Bogen“, den ich angeblich um die „Mitte“ mache, ist doch ganz falsch, denn – lesen Sie mal unsere beiden Beiträge – ich entspreche Ihren „Mitte“-Forderungen deutlich mehr als Sie, indem ich „offen“ bin für Ihre Meinung, zB wie immer betont betreffend Ihrer Ziele, und nur teilweise eine begründete Abweichung vertrete, Sie dagegen bestehen in verbissenem Eifer auf Ihrer Meinung und lassen nichts anderes zu, weswegen Sie auch gar nicht inhaltlich darauf eingehen – und genau das bezeichnen Sie selbst als Verlust der Mitte.
Es gibt in Ihrem Blog niemanden außer Ihnen, der nicht in der Lage ist, sich von einer Aussage wie der Ihren vor einigen Jahren als Ausrutscher zu distanzieren, „wer so … redet, … der geht – wenn’s drauf ankommt – über Leichen und will dabei nicht gestört werden.“ Es gibt keinen hier, der eine klare Wahlempfehlung nicht als solche anerkennt. Es gibt niemanden, der kein einziges Argument eines Meinungsgegner auch im Detail so konsequent zurückweist wie Sie, wenn es nicht auf seiner Linie liegt, und der Beleidigungen nur so einseitig erkennt.
Dass „Mitte“ ein variabler Begriff ist, der durch die Generationen und über die Zeit sowie auch je nach entsprechender politischer Position schwankt, ist offensichtlich. Wichtig zu seiner Beschreibung ist wohl eher der gesellschaftliche Konsens zu bestimmten Fragen in doppelter Hinsicht: Einmal – klar – in inhaltlicher Übereinstimmung zu wesentlichen Fragen der Zeit; zum zweiten in der Erkenntnis, dass Kontroverses in sachlichem und unaufgeregtem Stil zu diskutieren ist. Den Medien kommt dabei eine wichtige Rolle zu – gestern zB in der Sommerpressekonferenz des Kanzlers haben eine Menge unserer Journalisten versagt, indem sie fast ein Drittel der Zeit einer längst abgehandelten Frage widmeten. Der Kanzler – Hochachtung – antwortete sachlich, unaufgeregt, kurz und präzise, kenntnisreich und auf hohem inhaltlichem Niveau. Das war „Mitte“. Denn „Mitte“ ist ja nach der Gauß’schen („Glocken-„)Kurve ein breiter Bereich eben des gesellschaftlichen Konsenses – und muss es in der Demokratie auch sein. Passt Ihre Unfähigkeit zur Anerkennung dieses breiten Meinungsspektrums wirklich zum Begriff der „Mitte“?
Also, lieber Herr Wolff, schreiben Sie lieber weiter Ihre eigenen Beiträge, die schon wegen ihres eher geringen politisch-konzeptionellen und konkreten Inhalts und ihres Stils am Rande dieser Kurve liegen. Meine Beiträge scheibe ich dann weiter selbst und danke Ihnen sehr herzlich für ihre Veröffentlichung.
Andreas Schwerdtfeger
Vielen Dank für Ihren Rat am Ende Ihres Kommentars. Den werde ich gerne beherzigen. Wie gering und konkret die Inhalte meiner Beiträge sind, das zu beurteilen, überlasse ich gerne den Leser:innen, aber nicht nur einem.
Ich habe in den letzten Jahren viele Texte (vermutlich die meisten, zumindest in diesem Blog) des Merz-Hooligans und des SPD-Mitglieds und ehemaligen Pfarrers der Thomaskirche in Leipzig gelesen.
Müsste ich Anregungsgrad, Substanz, Relevanz, Vielfalt, oder Anstand, Arroganz, Nervigkeit, ermüdende, weil sich ständig wiederholende „Argumente“ der beiden Protagonisten auf einer Skala von 0 bis 10 bewerten, betrüge der Abstand zwischen ihnen für mich mindestens eine Zahl zwischen 8 und 9.
Lieber Herr Schwerdtfeger,
hier die Gaußkurve zu bemühen, finde ich irreführend. Es zeigt aber gut, wie problematisch der Gebrauch des Terminus „Mitte“ ist und welcher Missbrauch damit getrieben werden kann.
Die Gaußkurve beschreibt die Verteilung von Werten/Bewertungen einer statistischen Gesamtheit. Wird z. B. die Länge ein und desselben Ziegelsteins einhundert mal gemessen, bilden die einhundert Messwerte die statistische Gesamtheit und die Wahrscheinlichkeit des Auftretens einzelner Werte nimmt mit der Abweichung vom „wahren Wert“ der gemessenen Größe ab. So ungefähr sieht es der Naturwissenschaftler.
Bezogen auf gesellschaftliche Verhältnisse wäre nach Ihrer Lesart der „wahre Wert“ (oder Wertebereich, wie Sie sinngemäß schreiben) der Konsens bezüglich eines konkreten Problems. Die Schwäche dieser Sichtweise besteht m. E. darin, dass Antagonismen ausgeschlossen werden, d. h. die Möglichkeit, dass es gegensätzliche, einander ausschließende Positionen gibt, die jede für sich „wahr“ sein können, weil sie realen gegensätzlichen, sozialökonomisch bedingten Interessen entsprechen. Um im Bild zu bleiben, müsste man sich je nach Interessengemenge überlagernde Gaußkurven vorstellen, um die Wirklichkeit adäquat abzubilden. Dass es antagonistische Interessengegensätze gibt, ist nicht zu leugnen. Bin ich Besitzer eines größeren Pakets von Rheinmetall-Aktien, macht mich die horrende Aufrüstung reich. Lebe ich am unteren Ende der Sozialskale, werde ich bald den Einsparungsdruck bei den Staatsfinanzen am eigenen Leibe spüren. Davon, dass die Konfrontation mit Russland auf die Spitze getrieben wird, habe ich als einfacher Bürger nur Nachteile. Für andere eröffnete es ungeahnte Profitmöglichkeiten, sollte es doch gelingen, die ressourcenreiche Russische Föderation zu zerlegen.
Dass die Vorstellung von einer gesellschaftlichen Mitte eine Fata Morgana ist, hat der Misserfolg der Ampel gezeigt. Die noch vor einigen Monaten von den Ampel-Apologeten gepredigt Idee, man bräuchte nur ein hinreichend breites Spektrum gesellschaftlicher Kräfte an einen Tisch holen, um zu allgemein akzeptierten Lösungen zu kommen, ist eben falsch. Ähnliches werden wir mit der gegenwärtigen Regierungskoalition erleben. Das Problem mit der „Mitte“ und deren Missbrauch liegt m. E. darin, dass bei Postulierung einer singulären Gaußkurve Abweichungen von der „Mitte“ leicht abqualifiziert und gegensätzliche Positionen zu extremen Randerscheinungen erklärt werden können. Damit wird „Mitte“ tatsächlich zu dem Kampfbegriff, den Fersterra meint, nur für die Vergangenheit feststellen zu können (16.07., 20:11). Sicherlich lässt sich in vielen Fragen ein gesamtgesellschaftlicher Konsens anstreben, in anderen aber eben nicht. Dann geht es um den Kampf gegensätzlicher Interessen. In diesem Zusammenhang vor einer Spaltung der Gesellschaft zu warnen, leistet der Vernebelung real existierender Widersprüche Vorschub (Widerspruch zu Fersterra!).
Dass Wolff die berechtigte Kritik am politisch determinierten Mitte-Begriff als Aufhänger nutzt, um eine religiöse Interpretation von „Mitte“ an den Mann und an die Frau zu bringen, ist eine andere Frage, die sich zudem einer rationalen Debatte entzieht. Wenn man nicht das berühmte Opium ins Spiel bringen will.
Beste Grüße,
Johannes Lerchner
Das ist immer wieder der Trugschluss unter den „Gebildeten unter den Verächtern der Religion“ (Schleiermacher). Sie meinen, dass sich grundlegende Maßstäbe des Glaubens der „rationalen Debatte entziehen“. Doch damit wird und soll nur eine kritische Instanz aus dem Diskurs ausgeschlossen werden, damit man eben ach so rational über das absolut Unvernünftige wie Krieg reden kann.
Die Kandidatin Prof. Dr. Frauke Brosius-Gersdorf ist verbrannt. Wer aus der CDU/CSU-Bundestagsfraktion sollte sich noch umstimmen lassen nachdem es am vergangenen Freitag im Bundestag zu folgendem Vorfall kam:
Auf die Frage vvon Beatrix von Storch (AfD), ob er es mit seinem Gewissen vereinbaren könne, eine Kandidatin zu wählen, „für die die Würde eines Menschen nicht gilt, wenn er nicht geboren ist“, sagte Bundeskanzler und CDU-Chef Merz: „Auf Ihre hier gestellte Frage ist meine ganz einfache Antwort: Ja!“.
Der früheren CDU-Bundesvorsitzenden Dr. Angela Merkel wurde gerade von dem heutigen Unionsfraktionsvorsitzenden Jens Spahn und Friedrich Merz (zwar nicht offen) vorgehalten, sie verstehe die CDU nicht – und jetzt mißachten diese Leute die essentiellen Befindlichkeiten vieler Konservativer.
Nein, lieber Herr Plätzsch, Frauke Brosius-Gersdorf ist nicht „verbrannt“. Sie ist auch kein Opfer. Im Gegensatz zu allen, die mit unsauberen, der politischen Rechten wohl vertrauten Methoden gegen sie agiert haben (allen voran auch Juristen der seit Jahrzehnten als erzkonservativ ausgerichteten Juristischen Fakultät der Universität Heidelberg), kann sie erhobenen Hauptes an ihrer Kandidatur festhalten. Unhaltbar geworden ist allerdings Jens Spahn, wobei das wahrlich nicht überraschend ist.
Kritikwürdig ist vor allem, dass die Bedenken gegenüber Frau Brosius-Gersdorf von den Vertretern der CDU/CSU nicht im Richterwahlausschuss des Bundestags zur Sprache kamen. Spätestens nach dem einstimmigen Votum dieses Gremiums für die drei Kandidaten hätten die Einwände gegen Frau Brosius-Gersdorf durch die Abgeordneten der Unionsfraktion vorgebracht werden müssen. In dem Interview mit Markus Lanz (nobel: allein wie ein Bundeskanzler) hat sie angedeutet, dass sie keinen Anlass für eine Regierungskrise sein wird. Also wird es eine Pressekonferenz mit ihr und dem SPD-Chef geben, auf der sie ihren Rückzug erklären wird.
Warten wir es einmal ab …
Frau Brosius-Gersdorf hat heute ihre Kandidatur zurückgezogen.
Aus ihrer Sicht nachvollziehbar und sehr nobel. Wenn es noch so etwas wie Anstand und Konsequenz gibt, müsste die SPD heute die Koalition verlassen. Mit einer solchen CDU/CSU kann man eigentlich keine verantwortungsvolle Regierungsarbeit machen.
Der Begriff der Mitte schillert.
In meiner Erinnerung war er über viele Jahrzehnte hinweg ein Kampfbegriff in der Auseinandersetzung der Parteien. „Wir sind die Mitte.“ So sagten es mal SPD, mal CDU und damit war gesagt: „Ihr seid es nicht: ihr seid extrem.“ „Freiheit oder Sozialismus“ so hieß es dann zum Beispiel in der Anwendung dieses Denkens.
Eine andere Bedeutung hat der Begriff als Beschreibung des demokratischen Diskurses der letzten Jahrzehnte. Mitte, das waren die Parteien, die trotz manchmal erheblicher Differenzen vieles einte. Mitte, das waren die Parteien, die sich bei aller Gegnerschaft letztlich doch mit Toleranz und Höflichkeit begegnet sind, die dann auch in vielen Fragen zu Konsens und Kompromiss fähig waren. Mitte, das waren Parteien, denen es dann auch keine Probleme machte, die Entscheidungen der Vorgängerregierung, gegen die sie heftig gekämpft hatten, zu übernehmen. Parteien der Mitte waren bei allen Gegensätzen auch in der Lage, Koalitionen einzugehen und erfolgreich zu gestalten. Mitte, das waren nicht zuletzt Politikerinnen und Politiker, die trotz heftiger Auseinandersetzung den Tag im Parlament mit einem Bier gemeinsam ausklingen lassen konnten und über Parteigrenzen hinweg sogar befreundet waren.
Diese Mitte hat es in den letzten Jahrzehnten geschafft, sich trotz schwerer Probleme und beachtlicher Meinungsverschiedenheiten nicht spalten zu lassen. Spaltung ist vielleicht der eigentliche Gegenbegriff zu Mitte. Und Spaltung ist das wichtigste Mittel der Feinde der Demokratie in unserer Zeit. Diese Leute wollen die Mitte zerstören, jenen Bereich, in dem man sich bei allen Gegensätzen respektiert und toleriert.
Ein starkes Mittel der Gegner der Demokratie, um die Mitte zu zerstören, ist der Kulturkampf. Kulturkämpfe erheben Sachfragen (oft mit geringer Bedeutung!) zu Grundsatzfragen um den richtigen Weg und fügen sie in ein dualistisches Schema ein. Sie suggerieren, dass über die entsprechenden Fragen keine Diskussion und dann auch kein Kompromiss und kein Konsens mehr möglich ist. Kulturkämpfe leben von extremen Positionen und daher profitieren auch nur die Extreme von ihnen. Kulturkämpfe können von Demokraten nur verloren werden. Konservative und Linke schaden sich selber, wenn sie sich darauf einlassen. Kulturkämpfe emotionalisieren, erzeugen Angst und schalten die Ratio aus.
Um die Neubesetzung der Stelle im Bundesverfassungsgericht wurde von interessierter Seite ein Kulturkampf inszeniert, dem Teile der CDU Fraktion verhängnisvollerweise auf den Leim gegangen sind. Falls die Drahtzieher dieser Eskalation Erfolg haben sollten, wird die Mitte einen Schaden erleiden, der nach meinem Gefühl kaum wieder gut gemacht werden kann. Manchmal gibt es ein schicksalhaftes Ereignis, dessen Wirkungen wie ein Dammbruch sind. Das scheint mir in dieser Frage der Fall zu sein.
Noch sind die ersten 100 Tage, die man gemeinhin einer neuen Regierung eräumen sollte, nicht vorbei; es fällt allerdings zunehmend schwer, sich nicht zu deren selbstgemachten Krisen und Fehleinschätzungen zu äußern.
Diese sind ja nicht von außen gekommen (wie die unzähligen Migrant:innen 2015 an der österreichisch/deutschen Grenze, Corona, der Überfall Putins auf die Ukraine), sondern durch unbedachte Äußerungen und handwerkliche Fehler entstanden!
Ich stimme Christian Wolff absolut zu, dass wir in unserer multikulturellen und multireligiösen Welt einen offenen und immerwährenden Diskurs benötigen und dabei das Grundgesetz und christliche Werte als Orientierung nutzen können.
Dazu passt dann nicht, wenn Dorothee Bär gestern bei Sandra Maischberger die schuldenfinanzierte Mütterrente als Akt der Gerechtigkeit darstellt, wissend, dass sie mit der Gießkanne an alle Mütter ausbezahlt wird, den Einkommensschwächsten diese aber sofort wieder gegen andere staatliche Unterstützungsleistungen abgezogen/verrechnet wird.
Oder, wenn Friedrich Merz am Tag der anstehenden Richter:innen-Wahl den hanebüchenen Plagiatsvorwurf gegen Frau Brosius- Gersdorf als Begründung für die Verschiebung der Wahl nennt!
„Links/Grün ist abgewählt“ und „Germany is back“ sollte ja wohl für eine Rückkehr der kleinen Koalition zu einer Politik der Mitte stehen; stattdessen feiert die unsägliche AfD ein Freudenfest nach dem anderen. Und Jens Spahn wollte sie neulich noch wie eine „normale“ Partei behandeln, derselbe Jens Spahn, der wegen seiner höchst problematischen Maskendeals massiv unter Druck steht und die Stimmung in seiner Fraktion ganz offensichtlich nicht richtig einschätzen kann.
Es wäre schön und auch hilfreich, wenn Friedrich Merz (und sein Kabinett) Christian’s letzten Satz lesen würde und sich zu Herzen nähme!
„… der schöne Gedanke: „Wer um seine Mitte weiß, kann weite Kreise ziehen.“
Ein richtig schöner Aufhänger!
Die „Mitte“ ist in der Bundesrepublik Deutschland im Artikel 1 unseres GG mit allen Konsequenzen, die sich daraus ableiten, eindeutig festgelegt.
Alle Politik, die dem GG folgt, „kreist“ um die Mitte.
Die rechten Ideologen versuchen zu verängstigen, weil Angst alles „Kreisende“ einschnürt, die Gedanken verengt, Verunsicherung und Panik erzeugt, und allmählich eine völkische Gedankenwelt hervorbringen kann, in der die Volkseinheits- und Überlegenheitsphantasien sprießen kann….,
Und dann gibt es noch die, die meinen mit den „geheimen Ängsten“ des Bürgertums „spekulieren“ zu können, die Entourage des Jens Spahns und seine Freunde …
Der Talk von Lanz mit Frauke Brosius-Gersdorf ist wichtig und in der Tat ein sehr schöner Augenöffner und zeigt, wo die Reise gegenwärtig hingeht, wenn die Union der Tanzboden für rechtskonservative Traumtänzer wird.
Es ist wieder ein Kampf um den Staatsgedanken entbrannt.
PS: „Der Kampf um den Staatsgedanken in der Sozialdemokratie“ von Kurt Schuhmacher ist ein wieder aktuelles Vermächtnis für den den sozialdemokratisch-demokratischen Rechtsstaat.
Danke für die klaren Worte