Es war erst vor wenigen Wochen: Niels Gormsen fuhr auf seinem Elektro-Rolli in die Thomaskirche, um die Samstag-Motette zu besuchen. Wenige Minuten nach Beginn der Motette schloss er die Augen. Besorgte Blicke trafen ihn: Geht es dem Mann schlecht? Nein, bei der Begrüßung erzählte er mir, dass er wohlauf sei dank der ärztlichen Betreuung in Borna. Aber wer Gormsen kannte, wusste, dass dieser Mann schon immer viele Veranstaltungen mit geschlossenen Augen, „schlafend“ verfolgte. Sprach man ihn darauf an, huschte ein mildes Lächeln über sein markantes Gesicht. So nahm Niels Gormsen bis ins hohe Alter hinein und allen körperlichen Einschränkungen zum Trotz als wacher Zeitgenosse aktiv am städtischen Leben teil. Oft genug erhob er seine Stimme, wenn sich wieder einmal in seinen Augen falsche Weichenstellungen im Städtebau anbahnten, und brachte dadurch seine Liebe zu seiner Wahlheimat Leipzig zum Ausdruck. Nun ist der ehemalige Baudezernent der Stadt Leipzig (1990-1995) am vergangenen Dienstag in Borna gestorben – im hohen Alter von fast 91 Jahren.
Niels Gormsen kenne ich seit Mitte der 80er Jahre. Er war seit 1973 Baubürgermeister der Stadt Mannheim. 1988 wurde er aber nicht wiedergewählt. Grund: Die SPD beanspruchte den Bürgermeisterposten für ein Parteimitglied, das „versorgt“ werden musste– ein für mich als Sozialdemokrat sehr unappetitlicher Vorgang. Denn die Kompetenz von Niels Gormsen war über die Parteigrenzen hinweg unbestritten. Es gab keinen sachlichen Grund, ihn nicht wiederzuwählen. Es spricht für die Souveränität Gormsens, dass er die Arbeit seines Nachfolgers anerkannte und positiv bewertete. Gormsen kandidierte daraufhin für den Stadtrat und engagierte sich vermehrt in der Evangelischen Kirche. Dort begegneten wir uns immer wieder. 1988/89 war er dann sowohl auf städtischer wie auf kirchlicher Ebene sehr hilfreich: Die Kita der Gemeinde, in der ich tätig war, benötigte dringend Räumlichkeiten für eine dritte Kita-Gruppe. Die Lösung war nur über einen Containeranbau zu erreichen. Doch zuvor musste verhindert werden, dass das Grundstück von der Kirche Mannheims anderweitig genutzt wird. Gormsen setzte sich für die dann immerhin 25 Jahre währende Lösung ein.
1990 ließ sich Gormsen vom damals gerade neu gewählten Oberbürgermeister Leipzigs Dr. Hinrich Lehmann-Grube (SPD) dazu bewegen, in Leipzig das Baudezernat zu übernehmen. Lehmann-Grube hat immer wieder erzählt, wie er auf einer Zugfahrt mit einem ihm bekannten Fachmann für Städtebau ins Gespräch kam. Diesem berichtete er, dass er dringend einen Baudezernenten benötigt. Der nannte den Namen Gormsen; der sei sozusagen „arbeitslos“. Lehmann-Grube rief Gormsen umgehend an und dieser sagte zu, nach Leipzig zu kommen. Da Gormsen der Herrnhuter Brüdergemeine angehörte, hatte er zumindest geistliche Wurzeln in Sachsen. Mitte 1990 zog Gormsen nach Leipzig, ohne seine Zelte in Mannheim abzubrechen. Bis 1995 wirkte er sehr engagiert und vollzog entscheidende, noch heute wirksame Weichenstellungen.
Als ich mich 1991 von Mannheim aus um die Pfarrstelle an der Thomaskirche Leipzig bewarb, legte es sich nahe, mit Niels Gormsen Kontakt aufzunehmen. Wir trafen uns Ende September 1991 im damaligen Café Concerto auf dem Thomaskirchhof zum Gespräch. Da mich Gormsen auch aus Mannheimer Zeiten kannte, fragte ihn direkt, ob er sich das vorstellen könne, dass ich die Pfarrstelle an der Thomaskirche übernehmen könne. Er antworte ebenso direkt: Predigen können Sie ja, und das andere wird sich ergeben. Er redete mir im weiteren Verlauf des Gespräches sehr zu, die Chance zu ergreifen. Er jedenfalls habe den Wechsel nach Leipzig nicht bereut. Einig waren wir uns in der rein gefühlsmäßigen Einschätzung, dass sich Leipzig als Stadt auf jeden Fall gut entwickeln wird.
Schneller als gedacht, habe ich dann 1992 das Gespräch mit dem Baudezernenten Gormsen gesucht. Das war umso einfacher, als Gormsen zur Kirchgemeinde St. Thomas gehörte. Für mich war ziemlich grotesk, dass der südliche Thomaskirchhof regelmäßig zugeparkt war – die Autos standen rings um das Bachdenkmal bis an die Stufen des Bach-Portals. Das war in einer Zeit, da der passionierte Fahrradfahrer Gormsen eine autofreie Innenstadt präferierte, aber die meist aus Westdeutschland kommenden Geschäftsführer der Kaufhäuser am liebsten die Autos bis zur Kasse vorfahren lassen wollten. Gormsen hat dann sehr schnell durch das Setzen von Pollern dafür gesorgt, dass Plätze wie der Thomaskirchhof von Autos freigehalten wurden. Aber er handelte sich dafür viel Kritik ein. Ebenso wurde er wegen der sog. „Keksdosen“ kritisiert, die abgerundeten Ecken an Neubauten – wobei er die Verantwortung dafür von sich wies. Gormsen war ein Kommunalpolitiker, der stark auf die Ideen anderer setzte und Bürgerbeteiligung initiierte. Dabei verband er bürgerschaftliche Kommunikation und Entscheidungskraft miteinander. Das hat Leipzig insgesamt gut getan. Niels Gormsen gehörte zu den Menschen, die unmittelbar nach friedlichen Revolution aus Westdeutschland gekommen sind, sich aber nicht „auf Besuch“ wähnten, sondern die sich ganz den neuen Herausforderungen stellten und dabei die vorhandenen Kompetenzen der Leipziger Bürgerinnen und Bürger achteten und nutzten. Für ihn war auch klar, dass er nach seiner aktiven beruflichen Tätigkeit in Leipzig blieb – nicht zuletzt deshalb, weil er sich weiter für die städtebauliche Entwicklung dieser großartigen Stadt engagieren und im wahrsten Sinne des Wortes immer wieder „zu neuen Ufern“ aufbrechen wollte.
Neben seinem wunderbaren „Skizzenbuch“, in dem er seine Stadtansichten sammelte, ist Gormsen zu verdanken, dass er zusammen mit dem Fotographen Armin Kühne Leipzig als eine „Stadt im Wandel“ dokumentierte. Jene, die noch immer und schon wieder allzu nostalgisch auf die Zeit vor 1990 zurückblicken und die der neuen Architektur nichts abgewinnen können, sollten sich die erschienenen Bände zu Gemüte führen. Da kann jeder erkennen, was in den vergangenen fast drei Jahrzehnten in Leipzig erhalten, erneuert und geschaffen werden konnte. Dass Niels Gormsen sich in den vergangenen Jahren vehement gegen Abrisse (kleine Funkenburg) und für den Erhalt historischer Bausubstanz (Höfe am Brühl) eingesetzt und zu Wort gemeldet hat und dabei vor demonstrativen Aktionen nicht zurückschreckte, ist seinem liberalen, demokratischen, streitbaren Geist zu verdanken, der in Leipzig gedeihen kann wie in kaum einer anderen Stadt – aber leider zu Lebzeiten solcher Zeitgenossen nie wirklich gewürdigt wird. Für Niels Gormsen war es ein großes Glück, dass er nach dem Tod seiner Frau Traute, die in Mannheim lebte, vor eineinhalb Jahren noch einmal heiraten konnte, seine langjährige Leipziger Weggefährtin Hella Gormsen geb. Müller. In ihr fand er in den vergangenen Jahren für all sein Wirken den notwendigen Rückhalt und Unterstützung.
Mit dem Tod von Niels Gormsen hat Leipzig einen großen, engagierten Kommunalpolitiker und Bürger verloren. Für sein reiches Wirken können wir nur dankbar sein. Es bleibt in vielfältiger Weise lebendig. Dass der Trauergottesdienst für Niels Gormsen in der Thomaskirche stattfindet, entspricht seiner Verankerung im christlichen Glauben und seiner engen Verbindung zu diesem Gotteshaus, das er bis zuletzt zu Gottesdiensten und Motetten aufgesucht hat. Er war glücklich darüber, dass er von seiner Wohnung aus einen direkten Blick auf die Thomaskirche hatte – fast so wie einstmals Felix Mendelssohn Bartholdy.
4 Antworten
…ein bisschen habe ich geweint, als ich das erfuhr…
Gerade habe ich einfach mal wieder „Niels Gormsen“ gegoogelt, um zu schauen, was er macht, wie es ihm geht – und erfahre, dass er vor 14 Tagen gestorben ist…
Als Baudezernent in Mannheim war er auch für das Stadtreinigungsamt zuständig. Dort arbeitete ich als Kraftfahrer. Dass es mir gelungen war, eingestellt zu werden und sich dann herausstellte, dass ich promovierter Musikwissenschaftler war, der im Eigenexperiment herausfinden wollte, warum die Arbeiterklasse keine Revolution macht, war ja schon außergewöhnlich genug. Als ich dann auch noch in dem Dokumentationsroman „Kein Pech Arbeiter zu sein – Lehrjahre bei der Müllabfuhr“ die Strukturen und Abläufe in Betrieb, Personalvertretung und Gewerkschaft genauestens beschrieb, war meine Kollegenschaft hoch erfreut, die Hierarchie jedoch vollkommen verunsichert. Sie reagierte panisch und wies mir nur noch Arbeiten zu, deren einziger Zweck darin bestand, mich von den Kollegen möglichst zu isolieren.
Dem machte Gormsen ein Ende. Auf der Betriebsversammlung fragte er mich, ob er eine Passage aus meinem Buch vorlesen dürfe. Er wählte die Stelle, wo der Arbeitermund die Personalversammlung abqualifiziert: „Auf der Betriebsversammlung, da hält erst der Personalratsvorsitzende seinen Sermon, dann hält der Chef seinen Sermon, dann hält meistens ein Bürgermeister seinen Sermon, und dann hält noch ein Gewerkschaftsfritze seinen Sermon. Und während die da vorn am Palavern sind, müssen unsre Kollegen ja irgendwie die Zeit überbrücken.“ – Gormsen sagte, er wolle sich bemühen, diesmal die Kollegen nicht zu langweilen.
Nachdem sich ihr oberster Chef so freundlich und respektvoll zu mir verhalten hatte, konnten die örtlichen Vorgesetzten mich nicht weiter als eine Ausgeburt des Bösen betrachten. Spätfolge war, dass ich zum Personalratsvorsitzenden gewählt wurde.
Gormsen war sichtlich erfreut, als er mich auf der Amtsbesprechung wieder sah, womit eine großartige Zusammenarbeit ihren Anfang nahm.
Herausragendes Ereignis war die Ausstellung „Nicht nur Dreck wegmachen“. Ich hatte herausgefunden, dass eine ganze Reihe von Müllwerkern und Kehrern sich in ihrer Freizeit künstlerisch betätigten. Mein Vorschlag, auch einmal Motive aus dem Arbeitsalltag zu gestalten, wurde aufgegriffen und führte zu ausdrucksstarken Darstellungen, die es verdienten, öffentlich gezeigt zu werden. Obwohl die Kollegen und das ganze Amt durch Image-Hebung von dem Projekt profitierten, kamen doch auf einmal wieder uralte Ressentiments gegen mich, den Kommunisten, zum Vorschein, und was der mit dieser Aktion wohl im Schilde führen mochte…. Einige der kreativen Kollegen wurden dadurch verunsichert. Das erläuterte ich Gormsen und fragte, ob er die Schirmherrschaft über die Ausstellung übernehmen und sich selber als Ausstellender beteiligen würde, da er ja auch Mitarbeiter des Stadtreinigungsamtes sei. Er sagte Beides umgehend zu. Irgendwann saßen wir dann – weit nach Mitternacht – in seinem Dienstzimmer im Collini-Center und wählten aus seinem dicken Stapel genialisch hingekritzelter Städte- und Gebäudeansichten Exemplare für die Ausstellung aus. – Diese wurde ein großer Erfolg, von Funk und Fernsehen deutschlandweit beachtet.
Auch in den Tagesfragen der Personalvertretung trug diese Zusammenarbeit ihre Früchte: Als die 39-Stunden-Woche eingeführt wurde, sollten dadurch mehr Arbeitsplätze entstehen. Dies war bei der Müllabfuhr aber nur dadurch möglich, dass die wöchentliche Stunde zu freien Tagen angesammelt wurde und somit in die Personalbedarfsrechnung einging. Dem Wortlaut des Tarifvertrags entsprach das nicht unbedingt, doch Gormsen erklärte die Argumentation des Personalrats für logisch und dass dementsprechend verfahren werden sollte. Gemeinsam mit dem Amtsleiter setzte er durch, dass 6 Müllwerkerstellen neu errichtet und umgehend besetzt wurden – zu einem Zeitpunkt, als bei der Stadt Mannheim absoluter Einstellungsstop bestand!
Klar, dass dieser Freigeist nicht jedem in der Stadtverwaltung – und am wenigsten wohl deren Spitze – genehm war. Aber Viele wussten, wen Mannheim mit ihm verliert. Im Rahmen des Abschiedsprogramms spielte ich für ihn Bachs „Orgelmesse“ in der Mannheimer Schlosskirche.
Nun also der endgültige Abschied.
Am 28. Juli habe ich vor, nach Leipzig zu fahren, um für den Kohleausstieg zu demonstrieren (ich lebe seit 15 Jahren in der Altmark). Deswegen habe ich an ihn gedacht und ins Internet geschaut…
Das ist ein würdiger Nachruf auf Niels Gormsen, der ein Glücksfall für die Entwicklung Leipzigs nach der friedlichen Revolution war. Herzlichen Dank. Bei Gormsen hat mich sein Entwicklungsweg sehr beeindruckt. Denn auch er kam ursprünglich von der Idee der autogerechten Stadt und ist dann zu einem überzeugten Bewahrer des urbanen Erbes geworden. Das kann man nicht von vielen seiner Architektengeneration sagen. Seine Stimme wird fehlen!
Man kann nur bewundern, lieber Herr Wolff, mit welchem Einfühlungsvermögen, mit welcher Liebe, mit welcher Sprachgewalt und mit welcher Übersicht Sie hier einem Menschen – ich kannte ihn nicht, natürlich – Tribut zollen und ihn verabschieden. Sie haben eine große Gabe und ich bewundere das.
Schade, daß es Ihnen nicht möglich ist, diese Gabe auch in Ihren politischen Formulierungen und Urteilen zu nutzen. Schade, daß Sie im politischen Diskurs glauben, genau so drauf hauen zu müssen, wie andere es tun, die aber eben Ihre Gabe auch nicht haben. Und schade ist dies besonders, weil Sie Ihr eigenes Ziel auf diese Weise in politischer Hinsicht ständig konterkarieren.
Zu diesem Nachruf aber: Er geht ans Herz!
Ich grüße Sie,
Andreas Schwerdtfeger