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Predigt über Jesaja 62,6-12
Reformationstag
Thomaskirche Leipzig, 31. Oktober 2013

Gnade sei mit euch und Friede von Gott, unserm Vater, und unserm Herrn Jesus Christus. Amen.

Im Herbst 1520 gab Martin Luther eine Schrift heraus, in der er sich äußerst polemisch mit der sog. Sakramentslehre seiner Kirche auseinandersetzte. „Vom babylonischen Gefängnis der Kirche“ titelte er die Streitschrift – unter Anspielung auf das erzwungene Exil des Volkes Israel in Babylonien, dem heutigen Irak, vor zweieinhalbtausend Jahren. Auf der einen Seite sah Martin Luther im Glauben an Jesus Christus, der uns allein in Wort und Sakrament begegnet, die Freiheit des Menschen begründet. Auf der anderen Seite hatte sich die Kirche in einer Art babylonischen Gefangenschaft verstrickt, weil sie die sieben Sakramente als Machtinstrumente missbrauchte und nicht als Quelle von Freiheit verstand. Da wurde den Gläubigen beim Abendmahl ohne Grund der Kelch verweigert und die zusätzlichen Sakramente wie Beichte, Priesterweihe, Firmung, Ehe und letzte Ölung wurden eingesetzt, um durch sie die Menschen zu gängeln, zu beherrschen, unmündig zu halten. Martin Luther ließ aber nur die Taufe und das Abendmahl als Sakrament gelten. Denn sie wurden von Gott eingesetzt. Sie dienen der Befreiung des Einzelnen von der Macht des Bösen und aus selbstverschuldeter Unmündigkeit.

Uns mag es heute kaum nachvollziehbar erscheinen, dass sich wegen der Sakramentslehre die Kontrahenten damals bis aufs Messer bekämpften. Aber die Frage, wie frei wir eigentlich leben bzw. in welchen Zwängen wir gefangen sind, diese Frage ist so aktuell wie damals. Denn Religionslosigkeit führt ja nicht automatisch zur Freiheit. Darum ist es durchaus angebracht, auch am Reformationsfest 2013 kritisch zu prüfen, ob und wo wir Spuren einer babylonischen Gefangenschaft feststellen können, wo in säkularisierten Gesellschaften Freiheit aufs Spiel gesetzt wird, weil wir ihr Fundament nicht kennen.

Die zunächst sehr schleppend in Gang gekommene Debatte um die Globalspionage international agierender Geheimdienste führt uns deutlich vor Augen, wie leichtfertig wir uns mit der digitalen Ausspionierung unseres Lebens abfinden – es sei denn, eine Bundeskanzlerin ist betroffen. Dabei handelt es sich bei der massenhaften Datenspeicherung um eine Art passiver Beichte: Fremde Mächte durchleuchten unsere Lebensgewohnheiten, können sich der intimsten Verhaltensweisen bemächtigen und verlangen noch nicht einmal Rechenschaft von uns, können uns aber auch keine Absolution erteilen – denn jeder ist zu jeder Zeit erpressbar geworden. Gegen diese Entmündigung des Einzelnen ist eine verlogene Beichtpraxis der Kirche, die ihr immer wieder vorgeworfen wird, geradezu ein Klacks. Und der Generalverdacht, unter den jede Bürgerin und jeder Bürger gestellt werden, stellt die Sündenlehre der Kirche weit in den Schatten. Wir sind zu Gefangenen eines Systems kollektiver Verdächtigung, kollektiver Durchleuchtung, kollektiver Schnüffelei geworden.

Eine Neuauflage der babylonischen Gefangenschaft erleben wir auch in den aktuellen Konflikten der katholischen Kirche. Um jetzt nicht missverstanden zu werden, möchte ich darauf hinweisen, dass wir es im Katholizismus mit zweierlei Kirchen zu tun haben:
• Da sind die vielen Gemeinden, in denen Christen in Freiheit und Lebendigkeit ihren Glauben leben und längst die reformatorischen Errungenschaften verinnerlicht haben, Ökumene eine Selbstverständlichkeit ist.
• Zum andern aber zeigt sich eine Kirche, die nach wie vor autoritär strukturiert ist und sich der Kritik, auch der durch das Wort Gottes, zu entziehen versucht.
In einem solchen Machtapparat muss es zu den Missständen kommen, die uns derzeit so bewegen – sei es die offene Kumpanei der Vatikan-Bank mit der Mafia, seien es die Missbrauchsfälle, sei es das merkwürdige Agieren eines Bischofs Tebratz-van Elst. Wohl gemerkt: krumme Geschäfte, sexueller Missbrauch, Geldverschwendung kommen überall vor. Aber dass man sie bis zuletzt vertuscht, sich jeder Kontrolle und der Öffentlichkeit entzieht und nichts an den autoritär-diktatorischen Machtstrukturen ändert – das ist Ausdruck von babylonischer Gefangenschaft.

Gegen diese babylonische Gefangenschaft, die den Menschen an seinem Selbst hindert, die die unmittelbare Begegnung zwischen Mensch und Gott nicht zulassen will, ist Martin Luther aufgestanden. Aber damit ist nicht gesagt, dass wir Protestanten nicht auch in die Fänge derer geraten können, die die Freiheit des einzelnen beschränken und uns von Gott trennen wollen. Auch die evangelischen Kirchen sind ja nicht frei von der Versuchung, um die Kirche einen Zaun zu ziehen, Menschen religiös zu gängeln, die Freiheit eines Christenmenschen unter die Kontrolle der Institution zu stellen. Auch bei uns sind all die Missstände möglich, gegen die die Reformatoren zu Felde gezogen sind. Dagegen hat Martin Luther das vierfache „sola“ gesetzt: sola scriptura (allein die Bibel), sola Christus (allein Christus), sola fide (allein der Glaube, sola gratia (allein die Gnade) – aber eben nicht: sola ecclesia (allein die Kirche).

Darum ist es gut, wenn wir uns immer wieder durch den Rückbezug auf Gottes Wort, auf die biblische Botschaft, kritisch prüfen. Heute wollen wir dies tun mit dem Predigttext für das Reformationsfest, ein Abschnitt aus dem 62. Kapitel des Prophetenbuchs des Jesaja. Mit ihm werden wir in eine Zeit geführt, von der uns 2.500 Jahre trennen. Nach dem Jahrzehnte währenden Exil kehrten Gruppen der Israeliten in ihre Heimat zurück – voller Hoffnung, dass sich die Verheißung Gottes auf Freiheit erfüllen wird; so wie vor 24 Jahren die Menschen voller Hoffnung die Fesseln der Diktatur ablegten und den Aufbruch zur Demokratie wagten. Doch damals wie heute erlebten Menschen herbe Rückschläge. Damals wie heute erfüllten sich viele Sehnsüchte nicht. Auch in der Zeit der Reformation stellten sich bittere Enttäuschungen ein: Die Juden erwarteten zu Beginn des 16. Jahrhunderts endlich Anerkennung und Rechte – und mussten dann doch die Hasstiraden und Vernichtungsphantasien eines Martin Luther über sich ergehen lassen. Die Bauern erhofften sich Gerechtigkeit – und mussten dann miterleben, wie Martin Luther sich von ihnen abwandte und ein Bündnis mit den Fürsten einging. Und 1989? Da forderten die Menschen Gerechtigkeit – und fanden sich bald in den Niederungen des Rechtsstaates wieder. Sie hofften auf Teilhabe – und bekamen die ganz Wucht des Kapitalismus zu spüren. Sie lösten die Stasi auf – und sehen sich nun der digitalen Schnüffelei ausgesetzt. Auch vor 2.500 Jahren zerbrachen die Hoffnungen der Menschen auf ein neues Jerusalem an der Realität, die sie nach der Rückkehr aus dem Exil vorfanden. Diesen Menschen wollte der Prophet Mut machen:

6 O Jerusalem, ich habe Wächter über deine Mauern bestellt, die den ganzen Tag und die ganze Nacht nicht mehr schweigen sollen. Die ihr den HERRN erinnern sollt, ohne euch Ruhe zu gönnen, 7 lasst ihm keine Ruhe, bis er Jerusalem wieder aufrichte und es setze zum Lobpreis auf Erden! 8 Der HERR hat geschworen bei seiner Rechten und bei seinem starken Arm: Ich will dein Getreide nicht mehr deinen Feinden zu essen geben noch deinen Wein, mit dem du so viel Arbeit hattest, die Fremden trinken lassen, 9 sondern die es einsammeln, sollen’s auch essen und den HERRN rühmen, und die ihn einbringen, sollen ihn trinken in den Vorhöfen meines Heiligtums. 10 Gehet ein, gehet ein durch die Tore! Bereitet dem Volk den Weg! Machet Bahn, machet Bahn, räumt die Steine hinweg! Richtet ein Zeichen auf für die Völker! 11 Siehe, der HERR lässt es hören bis an die Enden der Erde: Sagt der Tochter Zion: Siehe, dein Heil kommt! Siehe, was er gewann, ist bei ihm, und was er sich erwarb, geht vor ihm her! 12 Man wird sie nennen »Heiliges Volk«, »Erlöste des HERRN«, und dich wird man nennen »Gesuchte« und »Nicht mehr verlassene Stadt«.
Jesaja 62,6-12

Eine dreifache Ermutigung, aber auch dreifache Zu-Mutung ist den Worten des Propheten zu entnehmen:
1.
Der Prophet ermuntert die Menschen, nicht klein beizugeben, sich nicht in Resignation zu ergehen. Ja, wir Menschen sollen Gott keine Ruhe gönnen und ihn immer und immer wieder an seine Zusagen erinnern. Martin Luther sagte einmal: „Man muss Gott mit seinen Verheißungen die Ohren reiben.“ Mit jedem Gesang, mit jedem Gebet, mit jedem Stoßseufzer tun wir das. Und erst wenn wir diese Vorstellung haben, Gott die kalten Ohren heiß zu reiben, werden wir die Kraft spüren, die vom gemeinsamen Gesang und Gebet ausgeht. Dann wird das Floskelhafte konkret: die Schöpfung bewahren, die Gerechtigkeit achten, den Frieden gestalten … und wir nehmen als Kirche, als Gemeinde, als einzelne Christen das das Wächteramt wahr – nicht, um Menschen zu kontrollieren, sondern um das vor Gott und in die Gesellschaft zu tragen, was uns bedrückt und gefangen hält. Spätestens hier wird die Ermutigung zu einer Zu-Mutung: Kirche, nimm dein prophetisches Wächteramt unerschrocken, wach und öffentlich an und wahr.

2.
Die zweite Ermutigung, die wir dem Prophetenwort entnehmen können, soll nach den Vorstellungen derer, die die Predigttexte zusammenstellt haben, eigentlich ausgespart werden. Dabei bringen die Verse 8 und 9 ein höchst aktuelles Problem zur Sprache, das Anlass für viel Frustration ist und uns zur öffentlichen Positionierung geradezu zwingt:
Der HERR hat geschworen bei seiner Rechten und bei seinem starken Arm: Ich will dein Getreide nicht mehr deinen Feinden zu essen geben noch deinen Wein, mit dem du so viel Arbeit hattest, die Fremden trinken lassen, 9 sondern die es einsammeln, sollen’s auch essen und den HERRN rühmen, und die ihn einbringen, sollen ihn trinken in den Vorhöfen meines Heiligtums.
Darum also geht es: dass Menschen von dem, was sie erarbeiten, auch leben können; dass das, was an Nahrung produziert wird, vor allem denen zugute kommt, die säen und ernten. Beides ist ja heute überhaupt nicht selbstverständlich. Menschen können ihre Familien nicht von dem Lohn nähren, den sie für ihre Arbeit erhalten, während andere ohne produktive Arbeit zu ungeheurem Reichtum gelangen. Dass ist nicht nur ökonomisch höchst zweifelhaft, es stellt auch eine Entwertung von Leistung dar; zerstört also den so wichtigen Leistungsgedanken. Und auch das andere Problem kennen wir: In den unterentwickelten Regionen dieser Erde fehlen die Nahrungsmittel, die zwar dort angebaut, aber dann zu uns exportiert werden, hier den Überfluss vermehren und – weil wir die Menge nicht verzehren können – vernichtet werden. Es sind erst 24 Jahre vergangen – da spielte sich genau das auch zwischen der DDR und der alten BRD ab. Und nun die Zu-Mutung des Propheten: Das darf und das wird so nicht bleiben. Gott hat Gerechtigkeit verheißen – und an dieser gilt es sich weiter zu orientieren. Darum nicht aufgeben, das Ziel der Gerechtigkeit nicht aus den Augen verlieren, sich Gerechtigkeit nicht ausreden lassen, sondern beharrlich Gott an seinen Schwur erinnern.

3.
Und schließlich die dritte Ermutigung:
Bereitet dem Volk den Weg! Machet Bahn, machet Bahn, räumt die Steine hinweg! Richtet ein Zeichen auf für die Völker!
Wege bereiten, Barrieren beseitigen, Zeichen setzen. Von diesem Dreiklang soll alles, was wir glauben, reden, tun, durchdrungen sein. Als Kirche haben wir all das aus dem Weg zu räumen, was Menschen daran hindert, sich dem Glauben und dem Leben zuzuwenden. Wie viele Steine müssen junge Erwachsene überwinden, um sich taufen zu lassen? Welche Hürden an Vorbehalten, an Verdächtigungen, an Formalitäten stellen wir denen in den Weg, die zu uns kommen wollen? Die Reformatoren räumten wahre Felsbrocken aus dem Weg: eine Sprache, die keiner verstand; der Lettner in den Kirchen, der den Klerus vom Kirchenvolk trennte; die Anmaßung, dass einer in Rom alles entscheiden kann. Luther bereitete dem Volk den Weg, indem er den Choral, den gemeinsamen Gesang, einführte, durch den wir Gott kollektiv in den Ohren liegen können. Und heute? Da haben wir ganz praktisch Steine aus dem Weg zu räumen, damit Menschen, die auf der Flucht sind, bei uns Heimat, Geborgenheit, ein neues Zuhause finden. Da gilt es den Asylbewerbern Wege zu bahnen, anstatt diesen Menschen Steine der Angst in den Weg zu legen.

Und dann spricht der Prophet von den Zeichen, die wir für die Völker aufrichten sollen. Ich will an dieser Stelle ganz kurz auf das Zeichen eingehen, welches Pfarrerin Taddiken und ich mit unserer Erklärung zum Moscheebau gesetzt haben. Ja, wir sehen in der Befürwortung des Baus einer Moschee in unserer Stadt ein wichtiges Signal für unsere ureigensten Glaubensüberzeugungen, aber auch für all die Menschen, mit denen wir in der Stadt das Leben teilen, die aus anderen Kulturkreisen kommen – und das werden eher mehr als weniger. Natürlich wissen wir, dass es im Islam sehr unterschiedliche Strömungen gibt und ihm die Reformation noch bevorsteht. Natürlich verkennen wir nicht, dass es in vielen islamisch geprägten Ländern keine Religionsfreiheit gibt und der Bau einer christlichen Kirche dort derzeit unmöglich ist. Und ebenso wissen wir auch, dass Christen im Sudan, in Ägypten, in Saudi-Arabien gewalttätig verfolgt werden. Aber gerade das ist für uns Anlass, jetzt und hier nicht Gleiches mit Gleichem zu vergelten. Vielmehr gilt es, dass wir uns von den Werte leiten lassen, die unserem Glauben entsprechen und um deren willen Menschen woanders unterdrückt werden. So können wir Zeichen der Hoffnung, des Respekts, des Friedens setzen – eben ein Zeichen für die Völker in unserer Stadt. Davon geht Ermutigung aus: für uns selbst und für die, die ihre Glaubensüberzeugung frei leben möchten. Und gleichzeitig ist dies eine große Zu-Mutung.

Wenn wir so im Geist der Ermutigung leben und uns diese Zu-Mutungen gefallen lassen, dann taumeln wir nicht aus der einen in die nächste Gefangenschaft. Dann können wir uns immer wieder aufmachen als Gelöste des Herrn, als Gesuchte und Gefundene, als solche, die darauf vertrauen, dass Gottes Heil kommt und dass dieses Heil in Jesus Christus sichtbar und lebendig geworden ist.

Und der Friede Gottes, welcher höher ist als all unsere Vernunft, der bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

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