Kirche in der Stadt –
ein paar Überlegungen zum Abschluss
Pfarrkonvent Leipzig Mitte am 04. Dezember 2013

0 Vorbemerkung
Nach fast 22 Jahren Tätigkeit an der Thomaskirche möchte ich im Folgenden ein paar Gedankenanstöße geben – natürlich auf dem Hintergrund der konkreten Erfahrungen an einer Kirche, die beides ist: ganz normale Kirchgemeinde und touristischer und kultureller Anziehungspunkt für Menschen aus aller Welt.

1 Eindrücke
Als ich vor meinem Amtsantritt im März 1992 bei meinen regelmäßigen Besuchen 1991/92 zum ersten Mal Evangelische Kirche in Ostdeutschland intensiv kennen lernte, drängten sich mir zwei widersprüchliche Eindrücke auf:

• Zum einen begegnete mir eine kraftvolle Kirche, gerade in Leipzig: Nikolaikirche, geprägt von der Friedlichen Revolution, und die Thomaskirche, die sich mir als sehr lebendige Gemeinde präsentierte – und alles wurde untersetzt durch die wunderbare Musik in beiden Kirchen.
• Zum andern erschienen mir die Kirche, vor allem wichtige Repräsentanten, als sehr ausgebrannt, verunsichert, ihrer Identität beraubt. Das zusammengebrochene System von Diktatur und Bevormundung hatte ganz viele Kräfte verbraucht und es stellte sich das ein, was schon ein Elia erleben und erleiden musste: Im Augenblick des größten Triumphs stellt sich tiefste Leere, eine Sinnkrise, ein. Wie soll es weiter gehen? Geht es überhaupt weiter?

1.1
Im Verlauf der Jahre zeigte sich, dass Kirche große Mühe hatte, ihr Profil in einer pluralen Gesellschaft erkennbar zu halten. Das lag zum einen an den grundlegend veränderten gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen Kirche seit 1990 existiert. Zum andern hat die Kirche viel zu lange den strukturellen Druck unterschätzt, unter dem sie spätestens ab 1996 (Wegfall der Gelder aus dem Hilfsplan II) geraten war – und das, obwohl unter den Bedingungen eines relativ komfortablen Kirchensteuersystems sich die Strukturen relativ schnell hätten verändern lassen können.

1.2
Dazu wäre aber die Einsicht in die Zahlen und ein deutliches Signal der Westkirchen notwendig gewesen:

• Mit der Vereinigung von EKD und BEK stellen wir in West und Ost alles auf den Prüfstand. Tarifsystem, Militärseelsorge, Religionsunterricht, öffentliche Finanzierung der Kirche, landeskirchliche Strukturen.
• In Leipzig liegt der Anteil der evangelischen Kirchenmitglieder seit 1990 relativ konstant bei 12 Prozent oder derzeit ca. 60.000. Das heißt: Heute leben in Leipzig so viele evangelische Christen, wie die Stadt Leipzig 1850 Einwohner hatte. Doch seit 1870/71 hat Leipzig im Stadtgebiet 17 neue Kirchen erhalten; sechs Kirchen wurden im 2. Weltkrieg zerstört (Matthäi, Johannis, Andreas, Trinitatis, Erlöser). Für 60.000 evangelische Kirchenmitglieder reichen aber rein rechnerisch 15-20 Kirchen bzw. Gemeindezentren. Tatsächlich aber verfügen wir heute über 42 Kirchgebäude und ca. 10 gottesdienstlich genutzte Gemeindezentren. Das kann nicht funktionieren – weder inhaltlich, noch finanziell.

1.3
Leider wurde in allen Strukturreformen (1998, 2004 und 2012) versäumt, vor den Personalzuweisungen die Gemeindegrößen in der Stadt so zu formen, dass daraus lebensfähige Einheiten hervorgehen mit klar benannten Zentren. Natürlich sind dabei gewachsene Strukturen und städtebauliche Entwicklungen zu berücksichtigen. Solange dies nicht geschieht, wird der Kirchenbezirk sich von Strukturreform zu Strukturreform hangeln, ohne dass dies wirklich zu nachhaltigen Lösungen führt. Und wie in der Vergangenheit werden ganz viel Arbeits- und Finanzkraft vergeudet, die an anderer Stelle fehlen. Es bleibt auf der Strecke eine inhaltliche Neuausrichtung kirchgemeindlicher Arbeit.

2 Kritische Bestandsaufnahme und inhaltliche Schwerpunkte
Wie müssten heute die Schwerpunkte kirchgemeindlicher Arbeit aussehen? Diese Frage habe ich vor fünf Jahren in Bezug auf die Kirchgemeinde St. Thomas gestellt. Die Kirchgemeinde St. Thomas ist seit der Gemeindevereinigung mit der Lutherkirche 2002 von 3.200 Gemeindegliedern auf über 4.600 gewachsen. Diesem quantitativen Wachstum entspricht aber nicht in gleicher Weise ein Beteiligungswachstum. Wir mussten feststellen, dass wir in wichtigen Bereichen Rückgänge bzw. Stagnation zu verzeichnen haben:

• Gottesdienstbesuch (in Relation zu den gewachsenen Gemeindegliederzahlen)
• geringe Beteiligung an der jährlichen Bibelwoche
• mangelnde Beteiligung am Kirchgeld (nur 30 % zahlen Kirchgeld)
• abnehmender Teilnehmer/innen an der Seniorenarbeit
• Stagnation bei Erwachsenentaufen und Kircheneintritten
• erschreckend viele nichtkirchliche Bestattungen von Kirchenmitgliedern (2013: 45 %)
• zu viele Kirchenaustritte

Auf diese Missstände gilt es zu reagieren. Das beginnt damit, dass wir sie deutlich wahrnehmen und benennen, sie uns nicht schönreden und uns fragen:

• Was ist daran hausgemacht und was entspricht allgemeinen Trends, die wir nur bedingt beeinflussen können?
• Was bedeutet für uns das Reformationsjubiläum 2017 (500 Jahre Thesenanschlag)? Wie können wir dieses Ereignis für die Belebung der Gemeindearbeit nutzbar machen?
• Wie können wir die Thomaskirche als musikalisches und touristisches Zentrum besser missionarisch und für den Gemeindeaufbau nutzen?
• Was können wir tun, um das Zusammengehörigkeitsgefühl der Gemeindeglieder zu stärken?
• Welche Initiativen sind sinnvoll, um auf der einen Seite die Austritte zu verringern und mehr Menschen zum Kircheneintritt zu bewegen?

2.1
GlaubensBildung

Als christliche Gemeinde werden wir in einer säkularen Gesellschaft auf Dauer nur bestehen, wenn wir uns unserer Glaubensgrundlagen bewusst sind, sie also kennen und von Generation zu Generation tradieren. Dies ist auch Grundvoraussetzung für ein angstfreies und friedliches Zusammenleben in einer multireligiösen Gesellschaft. GlaubensBildung sollte ein Programm sein, das in alle Gemeindegruppen, vor allem auch auf Tauffamilien und Konfirmandenarbeit, ausstrahlt. Es geht vor allem darum, Menschen in Sachen Glauben gesprächsfähig zu machen: Glauben bildet, bildet Glauben.

2.2
Ökumenisches und interreligiöses Leben

Als Kirchgemeinde bewegen wir uns in einer a-religiösen Gesellschaft, sind aber auch Teil eines vielfältigen religiösen Lebens, das zunehmend geprägt wird durch nicht-christliche Glaubensgemeinschaften. Mit diesen, insbesondere auch mit islamischen Gemeinden, haben wir in einen Dialog zu treten und uns dabei einer Kommunikation zu bedienen, die nicht vernichtet. Das bedeutet zum einen, dass wir ganz bewusst auf einen Absolutheitsanspruch des christlichen Glaubens verzichten, zum andern aber unser eigenes christliches Profil schärfen, um im Dialog zu bestehen. Gerade weil der christliche Glaube eine für alle Menschen gültige Botschaft und Ausstrahlung hat, muss er andere Lebensentwürfe und andere Glaubensweisen respektieren.

2.3
Menschennähe

Städtisches Leben ist unübersichtlich geworden. Gemeindeglieder verlieren sich im Stadtteil. Vernetzung findet zu wenig statt: im Alltagsleben und im www. Der Gottesdienst als Zentrum reicht als Begegnungsstätte nicht aus. Auch kennen sich diejenigen, die in einer Kirchgemeinde aktiv sind, viel zu wenig. Das hat auch eine Ursache: das Bewusstsein, dass wir zu dem einen „Leib Christi“ gehören, ist äußerst unterentwickelt. Eine doppelte Pluralität steht dem entgegen: die Vielfalt in der Gesellschaft und in der Gemeinde. Doch diese darf nicht zurückgeführt werden. Vielmehr muss in ihr das Gemeinsame und das Wesen des Glaubens erkannt werden. Darum haben wir das ThomasNetz aufgebaut – eine Initiative, die je nach Gemeindesituation aufgegriffen werden kann: Menschen, die Hilfe, Zuwendung, Unterstützung, Beistand benötigen, verbinden sich mit Menschen, die diese Nachfrage bedienen können. Wie weit dafür auch die Möglichkeiten des www in Anspruch genommen werden können, sollte die Kirche sehr bald und ohne Scheuklappen prüfen, um den Kontakt zu vielen Menschen nicht zu verpassen.

2.4
Gesellschaftspolitische Verantwortung

Christliche Gemeinde lebt nicht im luftleeren Raum, sondern ist Teil der Gesellschaft. Mich haben zwei Bilder geprägt: Christengemeinde und Bürgergemeinde, die sich in konzentrischen Kreisen um die Mitte „Jesus Christus“ bilden (Karl Barth), sowie das Bild des mittelalterlichen Städtebaus: das Dreiecksverhältnis von Kirche, Markt und Rathaus (also von Glauben, Ökonomie und Politik). Beiden Bildern liegt zugrunde, dass Kirche eine eigenständige Rolle im gesellschaftlichen, städtischen Leben spielt, aber mit den Institutionen von Kommune, Staat, Gesellschaft in Beziehung steht, also der Stadt Bestes sucht. Dieses konsequent gelebt, wird uns immer wieder in Konflikte bringen. Sie sind nicht zu verhindern, sondern Teil des prophetischen Amtes der Kirche.

2.5
Demokratische und kommunikative Leitungsstrukturen

Für die Kirche der Reformation sind demokratische und kommunikative Leitungsstrukturen Grundvoraussetzung dafür, dass das Priestertum aller Gläubigen sich in der gesellschaftlichen Wirklichkeit niederschlägt (vgl. Markus 10,35ff). Darum müssen sich nicht nur die Entscheidungsgänge zwischen Kirchgemeinden und Landeskirchenamt ändern. Der bevormundende Leitungsstil muss einer demokratisch durchlässigen Kommunikation weichen. Verwaltungsebenen müssen sich als Dienstleister und nicht als Besserwisser verstehen. Auch in der Ausbildung muss darauf geachtet werden, dass gerade in der verfassten Kirche für „flache Hierarchien“ Sorge getragen werden muss. Aller Anschein von Gängelei ist vermeiden, dafür muss sich das kritische Institutionenverständnis der Bibel auch in der verfassten Kirche niederschlagen. Wir leben vom und im Spannungsverhältnis von „Institution und Intuition“.

2.6
Profilierung des Ureigensten

Nach wie vor ist Kirche aufgefordert, vor allem ihr Ureigenstes, also ihre Alleinstellungsmerkmale zu profilieren: Seelsorge, Verkündigung, Diakonie. Dies umso mehr, als Kirche viele Kompetenzfelder freiwillig und unfreiwillig geräumt hat (z.B. der ganze Bereich der Trauer). Ich halte den Gottesdienst für das Zentrum der kirchlichen Arbeit. In ihm gilt es besonders die Liturgie, Kirchenmusik, Predigt zu pflegen. Nur so werden die Kraft finden für all die Aufgaben, die sich uns stellen. Nur so werden wir aber auch den Menschen dienen können.

3 Kirche der Armen?
Die Armen seien für die Kirche zuerst eine theologische Kategorie, dann erst eine soziologische oder politische. „Aus diesem Grund wünsche ich mir eine arme Kirche für die Armen.“ (198) Jede Gemeinschaft in der Kirche, welche die Armen vergesse, stehe in der „Gefahr der Auflösung“ (207), weil das religiöse Tun fruchtlos werde und in einer „spirituellen Weltlichkeit“ aufgehe.
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Durch Papst Franziskus ist ein Thema wieder in der Fordergrund gerückt, das eigentlich selbstverständlich ist, aber immer wieder aus dem Blickfeld gerät: Was bedeutet Jesu Option für die Armen und Schwachen für das konkrete Kirchesein heute? Wie muss sich Kirche in einer Wohlstandsgesellschaft positionieren und welche Gestalt muss/darf sie annehmen? Historisch hat das Christentum die Erfahrung gemacht: ausschließlich als arme Kirche für die Armen kann sie auf Dauer nicht existieren. Auch die Abgrenzung zu einer „spirituellen Weltlichkeit“, also das sich Abschotten vom gesellschaftlichen Leben, wird die Kirche auf Dauer handlungsunfähig machen. Es gilt weiter den Spagat zu wagen, Jesu Option für die Armen so umzusetzen, dass auch der/die reiche Mann/Frau daran beteiligt wird, und so die Menschen aus der Demütigung durch Armut und von der Beherrschung durch Reichtum befreit werden. Wir werden Kirche weder gegen die Armen noch gegen die Reichen gestalten können, sondern nur mit ihnen. Und wir werden als Kirche auch weiterhin mit dem umgehen müssen, was Beziehungen und Vorgänge ordnet: das Geld. Je transparenter und offener dies geschieht, desto besser. Jedenfalls sollte für uns Jesu sehr pragmatischer Umgang mit dem Geld Leitfaden sein.