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Reformation in der Krise – wider die Selbsttäuschung

Der Wittenberger Theologe und Publizist Friedrich Schorlemmer und der ehemalige Pfarrer an der Thomaskirche Leipzig Christian Wolff haben in diesen Tagen ein Memorandum zum Reformationsfest 2017 veröffentlicht: „Reformation in der Krise – wider die Selbsttäuschung“. Ausgehend von einer kritischen Reflexion der bisherigen Höhepunkte des Reformationsjubiläums setzen sich Schorlemmer und Wolff (selbst-)kritisch mit der Lage der evangelischen Kirche auseinander. Das Memorandum ist hier abrufbar: Memorandum zum Reformationsfest 2017

Das Memorandum liegt auch in gedruckter Form vor und kann bestellt werden: info@wolff-christian.de . Es liegt in Leipzig der Thomaskirche und im Thomasshop und in Wittenberg in der Stadtkirche aus.

Hier der Wortlaut des Memorandums

Reformation in der Krise – wider die Selbsttäuschung. Ein Memorandum zum Reformationsfest 2017

Es gibt nun einmal Dinge, für die es sich lohnt, kompromisslos einzutreten. Und mir scheint, der Friede und die soziale Gerechtigkeit, oder eigentlich Christus, sei so etwas. (Dietrich Bonhoeffer, 14. Januar 1935)

Unser Christsein wird heute nur in zweierlei bestehen: im Beten und im Tun des Gerechten unter den Menschen. Alles Denken, Reden und Organisieren in den Dingen des Christentums muss neu geboren werden aus diesem Beten und aus diesem Tun. (Dietrich Bonhoeffer, Mai 1944)

1          Ausgangspunkt

Der 36. Deutsche Evangelische Kirchentag (DEKT) in Berlin/Wittenberg und die parallel dazu stattfindenden sechs Kirchentage auf dem Weg gehören der Vergangenheit an. Damit sind wesentliche Höhepunkte des Jubiläumsjahres „500 Jahre Reformation“ Geschichte. Die Frage ist geboten: Was hat es gebracht? Haben die Kirchentage den Ertrag der Reformation vor 500 Jahren und die Notwendigkeit von Erneuerung der Kirche im 21. Jahrhundert verdeutlichen können? Hatte der Berlin/Wittenberger Kirchentag ein Profil, das ihn von anderen Kirchentagen unterschieden hat? Was sollte durch die „Kirchentage auf dem Weg“ erreicht werden – Kirchentage im Stammland der Reformation: Leipzig, Halle, Eisenach, Erfurt, Jena, Dessau, also dort, wo die Säkularisierung Europas am weitesten fortgeschritten und der Bedeutungsverlust der Kirchen mit Händen zu greifen ist?

2          Selbsttäuschung

Es wäre durchaus angemessen gewesen, „auf dem Weg“ zum 31. Oktober 2017 sich zwei großen Herausforderungen zu stellen:

  • die Krise der Kirche in der säkularen Gesellschaft offen anzusprechen, ihre Lage zu analysieren, neue Visionen entwickeln;
  • die innere Reform der Kirche auf den Weg zu bringen, d.h. sich vor allem der Frage zu stellen: Wie können die Gemeinden vor Ort dem dramatischen Traditionsabbruch begegnen?

Doch das war von den Organisatoren der Kirchentage offensichtlich nicht gefragt und der (selbst-)kritische Diskurs nicht gewollt. Stattdessen wurde acht ostdeutschen Städten vom Kirchentagsapparat (damit sind gemeint: EKD, DEKT, r2017) ein überdimensioniertes Mammutprogramm übergestülpt. Natürlich: Es gab eindrucksvolle, gelungene Veranstaltungen mit viel Engagement und Ideenreichtum vorbereitet. Aber insgesamt geriet das Programm zum Fanal einer grandiosen Selbsttäuschung und machte gleichzeitig die tiefe inhaltliche und strukturelle Krise vieler Kirchgemeinden offenbar. Mit dieser Einschätzung wollen wir nicht die ehrenamtliche Mitarbeit vieler Menschen bei den Kirchentagen und in den Kirchgemeinden in Abrede stellen. Gerade in den vergangenen zwei Jahren haben viele Kirchgemeinden durch die konkrete Zuwendung zu den Geflüchteten gezeigt, wie wertvoll und bereichernd diese geschwisterliche Solidarität für unsere Gesellschaft ist. Wir wollen uns auch nicht besserwisserisch über den oft schwierigen kirchlichen Alltag erheben. Wir waren und sind Teil dieses Alltags und damit Beteiligte an der Krise. Gerade deshalb sind wir so beunruhigt, dass sich die Begeisterung für die Themen des Reformationsjubiläums sehr in Grenzen hält und es in diesem Jahr noch nicht gelungen ist, zum Kern reformatorischer Erneuerung der Kirche vorzudringen. Zu diesem werden wir aber nur gelangen, wenn wir ohne jede Selbstgerechtigkeit bereit sind, uns der Krise der Kirche zu stellen. Wir dürfen uns den Blick aufs Ganze nicht länger verstellen lassen durch den Dampf von Illusionen.

3          Parallelen

Vor 500 Jahren war aufgrund gravierender Missstände in Kirche und Gesellschaft die Zeit für grundlegende Reformen gegeben:

  • Die Institution Kirche versuchte durch Druck, Angst und Prachtentfaltung ihren eigenen Zerfall zu überlagern. Macht ersetzte theologische Kompetenz und menschliche Zuwendung.
  • Biblische Glaubensinhalte und damit Anknüpfungspunkte für Reformen wurden großen Bevölkerungsgruppen durch Bildungsverweigerung vorenthalten.
  • Die Gesellschaft befand sich in einem sozialen und ökonomischen Umbruch und Aufbruch durch Freiheitswillen und Beteiligungsansprüche größerer Bevölkerungsgruppen.
  • Die politischen Mächte in Mitteleuropa sortierten sich neu.

Allen vier Punkten können heutige Entwicklungen zugeordnet werden:

  • Der Bedeutungsverlust der Kirchen schreitet mit wachsender Intensität voran. Dabei verlieren Alleinstellungsmerkmale wie der Gottesdienst an Qualität und Profil, an geistlicher Tiefe und kommunikativem Erlebnisgehalt. Kasualien wie Taufe, Konfirmation, kirchliche Trauungen und kirchliche Bestattungen büßen an Gewicht in der Biografie vieler Menschen ein.
  • Durch den Traditionsabbruch gehen wesentliche Inhalte des Glaubens verloren und sind kaum mehr abrufbar; Glaube und Bildung, durch die Reformation miteinander verbunden, fallen heute auseinander.
  • Die europäischen Gesellschaften befinden sich in einem streitigen Aneignungsprozess von Demokratie, sozialem Zusammenhalt, Pluralität und internationaler Kooperation.
  • In der globalisierten Welt wird der Vorrang von Friedenspolitik bei der Neuordnung von Regionen radikal infrage gestellt. Gerechtigkeit für die Benachteiligten, Hungernden und Heimatlosen bleibt auf der Strecke, während die ganze Schöpfung unter dem ausbeuterischen Gebaren der Gattung Mensch seufzt (vgl. Römer 8).

4          Krise der Kirche

Natürlich hat Vergleichbarkeit Grenzen. Was aber unstrittig sein sollte: Wenn wir dem faktischen biblischen Analphabetismus und dem Traditionsabbruch innerhalb der Kirchen nicht offensiv begegnen, wird sich die Kirche weiter marginalisieren. Wir brauchen eine Rückbesinnung, also „Re-formatio“, um aus den Quellen des Glaubens und der Geschichte Kraft schöpfen zu können. Dazu gehört als erstes, dass wir die Krise der Kirche heute klar benennen:

  • Immer mehr Menschen verabschieden sich von der Kirche, weil sie jeden Bezug zu wesentlichen Glaubensinhalten verloren oder nie bekommen haben.
  • Immer mehr Menschen leben unter uns, die ohne kirchlichen Bezug aufwachsen bzw. aufgewachsen sind und dabei nichts vermissen.
  • Immer mehr Religionen sind vor allem in den Städten präsent, machen konkurrierende Sinn stiftende Angebote und legen offen, wie oberflächlich und verletzbar die Glaubenswelt christlicher Gemeinden ist.
  • Immer schwieriger wird es für die Kirchgemeinden, personell und inhaltlich ihre Präsenz vor Ort zu organisieren und Menschennähe zu praktizieren.

Die Entwicklungen haben gravierende soziale, kulturelle, gesellschaftliche Folgen, vor denen wir die Augen nicht verschließen dürfen. Sie markieren unsere Aufgabe:

  • Auszehrung der Kirchgemeinden. Damit gehen die Schätze verloren, die Kirchgemeinden bewahren: Barmherzigkeit, Respekt, Option für die Armen, Vorrang der Gewaltlosigkeit.
  • Verlust der Grundwerte des Glaubens. Der Philosoph Wilhelm Schmid bemerkte kürzlich: „Moderne heißt, sich absichtsvoll befreien von Religion, Tradition und Konvention. Das sind die Instrumente, die definieren, wie man zu leben hat. Nur etwas war von vornherein nicht bedacht worden: Was machen wir dann?“ Unsere Aufgabe ist: Anknüpfungspunkte zu schaffen zu dem, woraus sich Wertvorstellungen speisen und wodurch sie erneuert werden können.
  • Selfie-Bewusstsein. Das „Selfie“ mit dem iPhone steht für die zunehmende und alleinige Konzentration des Menschen auf sich selbst. Von Kindesbeinen an daran gewöhnt, führt das zu einer inneren Vereinsamung, lässt menschliche Beziehungen verkümmern und den realen Nächsten zugunsten des virtuellen aus den Augen verlieren.
  • Mangelndes inneres Krisenmanagement. Der Verlust des Vertrauens auf einen gnädigen Gott erschwert den persönlichen Umgang mit Verlusterfahrungen, Krankheit, Niederlagen, Scheitern, Tod – dem Tod mitten im Leben und dem Tod als definitives Ende des irdischen Daseins.
  • Größere Angstpotentiale. Angst bestimmte das Lebensgefühl der Menschen in der Reformationszeit. Unter Angst vor Unübersichtlichkeit des Lebens, vor Verlust, vor einem hilflosen Ausgeliefertsein, vor dem Scheitern leiden auch heute viele Menschen. Sie fallen schnell denen zum Opfer, die ihre Ängste in Überlegenheitsgefühle zu verwandeln versuchen. Doch das ist das Gegenteil von Befreiung.

5          Anknüpfungspunkte

500 Jahre nach der Reformation müssen sich die Kirche, die einzelnen Kirchgemeinden, auch die Gemeindemitglieder fragen, ob sie ihrem Auftrag nach Matthäus 28 noch gerecht werden: zu den Menschen zu gehen; ihnen die Grundsätze des christlichen Glaubens zu vermitteln; das biblische Welt-, Gottes- und Menschenbild zu entfalten; Rechenschaft über unsere Hoffnung abzugeben gegenüber jedermann; sie durch die Taufe von allen Ängsten um das eigene Ich zu befreien; sie durch Gottvertrauen und einen wachen Geist zu stärken und „die herrliche Freiheit der Kinder Gottes“ (Römer 8) mitten in allen Zweifeln und aller Verzweiflung zu leben. Bei der Suche nach einer Antwort reicht es nicht, die reformatorischen Erkenntnisse des 16. Jahrhunderts als tragfähiges Bekenntnis zu wiederholen. Es reicht nicht, „noch und noch“ auf Luthers Mut und Standfestigkeit hinzuweisen, ohne heutige Herausforderungen anzunehmen, ohne Rechenschaft über unsere Hoffnung abzulegen. Vielmehr gilt es die Erkenntnisse und die Bedingungen für Überzeugungskraft ins 21. Jahrhundert zu übertragen, um so Menschen zu stärken:

  • Ad fontes – zurück zu den Quellen: Wer dem Traditionsabbruch entgegentreten will, muss ein Verhältnis zu den Traditionen finden. Das ist vor allem ein Bildungsauftrag. Wir benötigen GlaubensBildung. Glaubensvermittlung sollte zentral auch als Bildungsauftrag verstanden werden – in Kirchgemeinden wie in allen Einrichtungen der Kirche.
  • Gott: Heute ist für die meisten Menschen nicht die Grundfrage: Wie finde ich einen mir gnädigen Gott? Vielmehr suchen viele Menschen – teilweise auch verzweifelt – ihren Platz in der Gesellschaft, suchen nach Anerkennung und Zuwendung und strampeln sich dabei genauso ab wie Martin Luther vor 500 Jahren. Als Kirche haben wir aber auch zu fragen: Was geschieht mit uns Menschen und der Gesellschaft, wenn wir die Gottesfrage ausklammern, wenn wir unser Leben nur noch vor uns selbst, nicht aber so vor Gott verantworten, dass immer auch der Nächste im Blick bleibt?
  • Priestertum aller Gläubigen: Christen können sich als grundsätzlich gleichberechtigte Geschöpfe Gottes verstehen. Diesen reformatorischen Anspruch gilt es heute kirchlich, politisch, sozial umzusetzen – durch die Stärkung bzw. Implementierung von Beteiligung aller in demokratischen Prozessen.
  • Denken und Beten: Die Verbindung von beidem lässt uns in schwingenden Spannungsfeldern leben – von Beten und Tun (Kontemplation und Kampf), von gelingender Traditionsaneignung und mutigem Heutigwerden, von Selbstliebe und Fürsorge, Mehrheit und Wahrheit, Macht und Machtkritik, Sinnstiftung und Zweckorientierung, Werte und Würde, Festigkeit im Eigenen und Toleranz gegenüber dem Fremden, Lebenslust und Entsagung, Diesseitssorgen und Jenseitshoffnungen, Sinnenglück und Transzendenzerfahrung, Entfaltungsfreiheit für sich und Verantwortung füreinander, von Menschenrechten und Menschenpflichten, von Horizontalem und Vertikalem, Heil und Heilung, von Leistungswillen und Gnadenzuspruch.
  • Kirche: Christliche Gemeinde wird nur dann überleben, wenn sie entlastende und verbindliche Menschennähe will, praktiziert und ermöglicht. Kirchliche Arbeit darf sich nicht erschöpfen in der strukturellen Umsetzung von Sparmaßnahmen. Vielmehr gilt es Glauben zu vermitteln, Menschen durch den Zuspruch des Evangeliums zu stärken, gesellschaftliche Verantwortung wahrzunehmen. Jede Gemeinde muss vor Ort die Frage beantworten können: Warum soll es uns überhaupt geben? Welchen Schatz, über den wir verfügen bzw. der uns anvertraut ist, gilt es zu heben? Selbstvertrauen braucht Demut und umgekehrt, um die Sinnkrise zu überwinden.
  • Ich: Viele Menschen sind heute nicht nur allein auf sich selbst gestellt (Einsamkeit), sie suchen auch ihre unverwechselbare Individualität. Die Folge beider Entwicklungen ist, dass mancher sich damit überfordert sieht, in der pluralen Gesellschaft einen Platz, Orientierung und Anerkennung zu finden. Das Angebot der Taufe verspricht dem Menschen zu Beginn des Lebens oder zu einem späteren Zeitpunkt: Dein eigenes Ich musst Du vor niemandem begründen. Du musst Dich vor niemandem rechtfertigen, dass du lebst – weder am Beginn, noch am Ende deines Lebens. Denn Dein Leben ist von Gott gewollt und mit Recht und Würde gesegnet. Diese Gnade Gottes umschließt alles: das Gelingen und das Scheitern, das Glück und die Leere.
  • Pluralität: Die Kirche muss zum einen die Wahrheitsfrage stellen und ihren spezifischen Wahrheitsanspruch erheben. Sie muss sich aber darüber im Klaren sein: Dies kann sie nur, wenn Glaubensfreiheit garantiert ist. Diese setzt voraus, dass Kirche das multi- und interreligiöse Leben bejaht. Gleichzeitig erfordert dieses, dass Kirche alles dafür tut, damit ihre Mitglieder über den Glauben so selbstbewusst wie sie sprach-, diskussions- und auskunftsfähig sind.
  • Obrigkeit: Christen beteiligen sich am gesellschaftlichen Leben und nehmen politische Verantwortung wahr. Heute geschieht das unter den Bedingungen der Demokratie: der Obrigkeit untertan zu sein, bedeutet, sich an der Demokratie zu beteiligen. Sie stellt das „weltlich Regiment“ dar. Christen suchen mit anderen zusammen „der Stadt Bestes“ (Jeremia 29,4-13) und nehmen so ihre Verantwortung als mündige Bürger selbst unter erschwerten Bedingungen wahr. Die Kirchgemeinden sind Teil der Stadtgesellschaften und Dorfgemeinschaften, aber gehen darin nicht auf. Das „Priestertum aller Gläubigen“ steht nicht nur in Widerspruch zur Hierarchisierung des Glaubens, es ist auch eine der Wurzeln für demokratisches Zusammenleben. Darum ist die Demokratie die dem christlichen Glauben gemäße Form des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Demokratie sollte auch die Praxis der Gemeinde bestimmen, ohne auf kompetente und legitimierte Führung zu verzichten.
  • Gottesdienst: Er ist und bleibt die zentrale Veranstaltung der christlichen Gemeinde, Begegnungsstätte von Gott und Mensch, Jenseits und Diesseits. Es wird darauf ankommen, dass die drei Alleinstellungmerkmale des Gottesdienstes gepflegt und belebt werden: Liturgie, Predigt, Musik. Diese gilt es immer wieder zu qualifizieren und darauf hin zu befragen, was sie beitragen zur Stärkung des Glaubens, zur Schärfung der Gewissen, zur Bildung und Erbauung des Menschen. Gemeinden als „Sammelplätze der Beunruhigten“ (Ernst Lange) brauchen gegenseitige Bestärkung und umgreifenden Segen Gottes. Die drei traditionellen Säulen des kirchlichen Auftrags brauchen gleiche Aufmerksamkeit und Anstrengung: Kerygma (Verkündigung), Koinonia (Gemeinschaft), Diakonia (Dienst).

6          Katechismus

Wenn Kirche im öffentlichen Raum wahrgenommen werden will, dann muss sie Abschied nehmen von Selbstsäkularisierung und Beschäftigung nur mit sich selbst. Sie wird umso kraftvoller unter den Menschen und in der Gesellschaft wirken, je deutlicher sie machen kann, welch segensreiche Dynamik dem christlichen Glauben innewohnt – auch weil dieser über eine Jenseitsperspektive verfügt, die uns für das Diesseits orientierende und motivierende Hoffnungspotentiale schenkt. Wenn nun gefragt wird, was diesen Glauben ausmacht, so lässt sich dies katechismusartig so zusammenfassen:

  • Der Glaube an den einen Gott. Er relativiert alle weltlichen, politischen, ökonomischen Hierarchien, Machtstrukturen und Ideologien, beraubt sie ihrer beherrschenden Funktion und schenkt dem Menschen so Freiheit.
  • Taufe. Mit der Geburt wird jeder Mensch von Gott ins Leben gerufen und mit der Taufe zum Leben berufen. Durch diese Glaubensgewissheit erfährt jeder Mensch passiv und aktiv und unabhängig von seiner Herkunft und Beschaffenheit, seinem Glauben und seiner Leistungsfähigkeit Achtung und Würde.
  • Alles Leben ist endlich. Entscheidend ist nicht die zeitliche Länge des Lebens. Entscheidend ist, dass wir die Zeit, die Gott uns schenkt, sinnvoll und verantwortlich gestalten – in der Hoffnung, dass uns die Fülle des Lebens nach dem Tod bevorsteht. Wir haben keinen Anspruch auf Leben wohl aber allen Grund zur Dankbarkeit für das Leben.
  • Jesus Christus. Durch das Leben, Leiden, Sterben und die Auferweckung Jesu Christi erfahren wir, was Gott uns zukommen lässt und uns ermöglicht: Gerechtigkeit und Frieden, Gnade und Barmherzigkeit, die Ehrfurcht vor dem Leben und Glück des Lebens in seiner Fülle.
  • Vergebung. Obwohl wir Menschen trotz aller guten Vorsätze immer wieder an uns selbst scheitern und wissentlich das Falsche tun, begegnet uns Gott als der, der das Böse in Gutes umdenkt und uns durch die Zusage der Vergebung für das so erneuerte Leben wieder in den Dienst nimmt. In diesem Sinn ist Vergebung die Befreiung des Menschen aus der selbst verschuldeten Unmündigkeit und Verkrümmung in sich selbst.
  • Engagement. Der Einsatz für Gerechtigkeit, Frieden und Bewahrung der Schöpfung in der bedrohten Weltzeit braucht das Globale und das Lokale, das Gesellschaftliche und das Persönliche, das Zuversichtliche und das Realistische, das Hoffnungsvolle und das Niederlagenresistente. „Hoffnung lässt nicht zuschanden werden.“ (Römer 5,3-5)

Solche Inhalte gilt es in den Gottesdiensten, im Unterricht, in den Kirchgemeinden zu kommunizieren – aber auch in die öffentliche Auseinandersetzung um Grundfragen des Lebens und in den interreligiösen und interkulturellen Dialog einzubringen. Die Werthaltigkeit der Glaubensbotschaft sollte dazu führen, dass Kirche Qualität und Qualifizierung ihrer Mitarbeiter/innen im Blick hat – wo Sachkenntnis, Orientierungswissen und instrumentelle Fähigkeiten zusammenkommen.

7          Erwartung

Die Kirche wird sich gerade in diesem Jubiläumsjahr offen und ehrlich mit ihrer eigenen Krise auseinanderzusetzen haben, auch mit dem gravierenden Schwinden ihrer gesellschaftlichen Bedeutung und Akzeptanz. Sie wird so selbstbewusst wie konfliktfähig ihre Vergangenheit kritisch in den Blick nehmen und sich darüber klar werden, was in unserer 500jährigen Geschichte wie und warum schief gelaufen ist. Ebenso muss die EKD sich der Tatsache stellen, dass der von ihr vor über 10 Jahren initiierte Reformprozess mehr oder weniger im Sande verlaufen ist. Was damals „Leuchtfeuer“ entfachen sollte, ist mehr oder weniger erloschen. Feuer kann eben nicht kirchenamtlich „von Oben“ verordnet werden. Es muss sich in den Menschen entzünden, sie erhellen und inspirieren. Dann kann Kirche Schritte gehen, die das Christliche als Sauerteig in die Welt einbringt und aus einem ermüdeten Apparat einen Motor für die ecclesia semper reformanda, für eine „Mission der Hoffnung“ (Jürgen Moltmann) macht.

In einer Zeit, in der die Welt nicht nur unwirtlicher, das Klima unberechenbarer, die globalisierten Konflikte unheimlicher, die Übermacht der ökonomischen Interessen der Besitzenden dominanter und wenig ökologisch ausgerichtet sind, wo dem gescheiterten Kommunismus der globale Konsumismus mit der ihm innewohnenden rücksichtslosen Wachstumsideologie gefolgt ist, wo Innovation nur unzureichend verbunden ist mit Herkunftswissen, wo die Entkirchlichung und Entchristlichung sowie die Multireligiosität der Gesellschaft rasant voranschreitet, muss die Kirche sich vor allem nach dem Tragfähigen ihrer Tradition fragen und nach dem, was sich davon bewährt hat. Das Erbe des Glaubens gilt es in der modernen Welt sich praktisch anzueignen und gleichzeitig sorgsam zu pflegen und lebensdienlich auszufüllen. Dabei können wir uns an den Errungenschaften orientieren, die vor 500 Jahren entscheidend zum Durchbruch der Reformation beigetragen haben – insbesondere die Verbindung von Glaube und Bildung. Zwar können heute die meisten Menschen lesen, schreiben und rechnen – dennoch ist der biblische Analphabetismus genauso weit verbreitet wie der Mangel an musikalischer, kultureller und religiöser Bildung. Diesem Missstand muss Kirche begegnen – und zwar durch ihr eigenes Tun. Das christliche Traditionsgut und die daraus gewachsenen lebenswichtigen Gedanken und Lebensentwürfe für die nächste Generation sollten – unter Vermeidung jeder Selbstbanalisierung – in lebendiger, ansprechender und zeitgemäßer Form so vermittelt werden, dass sie das Innerste erfüllen und junge Menschen darin etwas finden, was Barmherzigkeit und Vernunft miteinander verbindet, was sie mit Angst und Ängsten umgehen lässt und Hoffnung und Zuversicht eine Stimme gibt. So können Aufbruchsimpulse ausgelöst und Orientierung ermöglicht werden.

Wichtig bleibt: Der Glaube braucht ein Zuhause in einem menschlichen, einem sehr persönlich betreffenden, Vertrauen schaffenden sowie in einem vertrauten, aber nicht beengenden und andere ausschließenden Umfeld. Menschen suchen ein solches Umfeld in einem identitätsstiftenden Territorium samt seiner besonderen Traditionen, auch ein Zuhause in ihrer Kirche, vor allem in ihrer Gemeinde vor Ort. Das sollte nicht vorschnell als Kirchturmperspektive abqualifiziert werden, wiewohl eine starre Fixierung von Gemeindemitgliedern auf „ihre Kirche“ nicht selten mit Horizontverengung und Verweigerung von Realitätseinsicht einhergeht. Es sollte einer allgemeinen Erfahrung Rechnung getragen werden: Je größer die Einheiten werden, desto lockerer gestalten sich die persönlichen Bindungen und Verbindungen. In einer schnelllebigen Zeit und einer sich rasant verändernden Gesellschaft bedarf es stabiler Beziehungen, der – auch personell bedingten – Beheimatung und einer Verwurzelung im Unverwechselbaren. Es bedarf der Räume und der Refugien, die das ermöglichen, ohne dass diese sich zu Nischen verengen. Wo immer Kirchengemeinden zusammengelegt werden, Pfarrstellen gestrichen, Gemeindehäuser verkauft, Kirchen geschlossen werden, sollte bedacht werden, ob dies der Menschennähe dient. Denn der Verlust derselben ist auf Dauer auch finanziell sehr teuer. Umgekehrt muss sich jede Kirchgemeinde ehrlich befragen, was sie da warum und für wen und zu welchem Preis eigentlich aufrechterhalten will.

Die Besinnung auf das, was zentral ist, und auf das, was uns trägt, muss auch im Personal der Kirche zum Tragen kommen. Da geht es nicht zuerst um eine schwammige „spirituelle Kompetenz“, sondern um geistig-geistliche Substanz sowie um persönliche Ausstrahlung und Authentizität und die Befähigung zu Leitungs- und Führungsaufgaben. Das gilt für alle, die als Hirten tätig sind – und das sind nicht nur Pfarrer/innen. Sie sollten so erfüllt, inspiriert und begeistert sein, dass ihnen nicht nur der Mund übergeht. Wer ein wirklicher Hirte ist, übernimmt seine Aufgaben nicht als Last, sondern als ein (bisweilen recht schwieriges) Glück, in dem auch Lasten zu tragen sind. Wer in der Kirche – an welcher Stelle auch immer – lediglich einen „ Job“ machen will, soll es von vornherein sein lassen. Darauf liegt kein Segen. Segen soll aber von den Kirchgemeinden ausgehen – ein Segen, der das ganze Leben umschließt und die Kirche darum an alle Menschen weist, auch an die, die ihr nicht oder einer anderen Glaubensgemeinschaft angehören.

Alles hat seine Zeit und die Hauptsache ist, dass man mit Gott Schritt hält und ihm nicht immer schon einige Schritte vorauseilt, allerdings auch keinen Schritt hinter ihm zurückbleibt. (Dietrich Bonhoeffer, 18. Dezember 1943)

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