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Leben in Coronazeiten: zu viel Mehltau, zu wenig Aufbruch

Jeden Morgen dasselbe: die neuesten Zahlen des Robert-Koch-Institutes (RKI) in den Nachrichten und auf den ersten Seiten der Zeitungen. Jeden Morgen eine Zahlenbotschaft – heute: 1.500 Menschen haben sich neu infiziert, insgesamt 238.000 Menschen; über 9.300 Menschen sind an oder mit Covid 19 gestorben, ca. 211.000 Menschen sind genesen. Dann folgen die Überlegungen derer, die Regierungsverantwortung tragen: Masken tragen auch am Arbeitsplatz, keine Karnevalsveranstaltungen ab dem 11.11.2020, um jeden Preis einen erneuten Shutdown verhindern. Was diese täglichen Ansagen mit der immer selben warnenden Botschaft, es könnte alles noch schlimmer werden, auslöst, ist wenig verwunderlich: Lethargie auf der einen, Verdrängung auf der anderen Seite. Bis jetzt hat es noch keine politische Kraft vermocht, aus dem Alarmmodus in einen die Bürgerinnen und Bürger aktivierenden, zum gesellschaftlichen Wandel ermutigenden Modus umzuschalten. Das aber ist überfällig. Denn wir werden nicht mehr lange den Zahlenalarmismus durchhalten. Er legt sich wie Mehltau auf die Seele zu vieler Menschen und verstellt den klaren Blick auf die Wirklichkeit.

Deswegen ist es höchste Zeit, dass vor allem die Parteien neue gesellschaftliche Zielvorstellungen ihrer Politik entwickeln, die den Erfordernissen des Klimawandels, des sozialen Zusammenhalts in der Gesellschaft, der europäischen Einigung und der freiheitlichen Demokratie gerecht werden. Es gilt, neue Ideen freizusetzen, um auf der einen Seite die soziale Abschottungsmentalität zu überwinden und ein hohles, rechtsgewirktes Freiheitspathos der Verschwörungsideologen auf der anderen Seite erst gar nicht aufkommen zu lassen. Das wird aber nur gelingen, wenn erstrebenswerte Veränderungen im gesellschaftlichen Leben als Vision angeboten werden. Es ist hilfreich, sich kurz an den Sommer 2015 zu erinnern. Da kippte die Stimmungslage gegenüber den Geflüchteten und der Politik der damaligen Bundesregierung, als diejenigen in den Medien und in den Parteien die Oberhand gewonnen hatten, die Geflüchtete nur als Bedrohung und Gefahr angesehen haben, als plötzlich die Rede von den „geöffneten Grenzen“ die Runde machte und Fluchtursachen im gesellschaftlichen Diskurs keine Rolle mehr spielten. Das geschah in einem Moment, in dem ein erheblicher Teil der Bevölkerung die gesellschaftspolitische, auch moralische Herausforderung als eine neue, wichtige, lohnende Aufgabe begriffen und angenommen hatte. Das mediale und politische Trommelfeuer führte dann dazu, dass das Engagement vieler Bürgerinnen und Bürger für Geflüchtete in der öffentlichen Debatte systematisch zerredet wurde. Mir ist sehr wohl bewusst, dass dieser Blick auf die sog. Flüchtlingskrise von vielen nicht geteilt wird. Aber ich möchte den Publizisten Georg Diez zitieren, der in seinem Buch „Das andere Land. Wie unsere Demokratie beschädigt wurde und was wir tun können sie zu reparieren“ (München 2018) im Rückblick auf den Sommer 2015 schreibt:

Darum war das, was im Sommer 2015 geschah, die Grenzen, die offen blieben für die, die nach Deutschland wollten, kein Staatsversagen, wie so oft beschworen – es war vielmehr ein Staatsgelingen, es war Demokratie ohne Anleitung, es war ein Bürgertriumph, weil die Menschen von selbst das Richtige taten, ohne zu warten, was gewünscht oder gefordert war, es war etwas, das in der deutschen Geschichte, die so obrigkeitsstaatlich von Abwarten und Argwohn und Angst geprägt ist, eher rar ist.

So kann man die Ereignisse von vor fünf Jahren auch werten: als Staatsgelingen und Bürgertriumph. Das sollte uns ermutigen, einen tiefen gesellschaftlichen Einschnitt wie die Coronakrise als Aufruf zum Umdenken zu verstehen, Menschen positiv an der Verwirklichung von Visionen zu beteiligen und sie zu aktivieren, das Richtige tun. Die Bereitschaft dazu ist vorhanden. Wir sollten sie nur nicht wie 2015 zerreden, um sie zu zerstören. Zu dem Richtigen gehört an erster Stelle und vor allem der Klimaschutz. Er muss viel entschlossener angegangen werden, als es derzeit in Aussicht gestellt wird. Denn es geht beim Klimaschutz nicht darum, das gesellschaftliche Leben mit Verboten zu überziehen, sondern neue Lebensaussichten und damit Freiheit zu gewinnen. Nach drei Dürresommern dürfte auch dem Letzten dämmern, dass der dramatische Klimawandel das Leben auf dieser Erde in ganz anderer Weise bedroht, als es das Coronavirus derzeit vermag – einmal ganz abgesehen davon, dass die Entwicklung von gefährlichen Pandemien durch die Erderwärmung gefördert wird. Darum kommt es jetzt darauf an, dass alles, was dem Klimaschutz dient, auch politisch umgesetzt wird – und zwar so, dass die Bürgerinnen und Bürger die Maßnahmen als ein Mehr an sozialer und ökologischer Lebensqualität in einer offenen, demokratischen Gesellschaft erfahren. Klimaschutz ist kein Programm gegen wirtschaftliches Wachstum und Arbeitsplätze, sondern für den Erhalt umfassender Lebensmöglichkeiten auf diesem Erdball. Man kann nur hoffen, dass mit Beginn des neuen Schuljahres die „FridaysForFuture“-Bewegung neue Fahrt aufnimmt und den politischen Entscheidungsprozess befördert: Ausstieg aus der Braunkohleverstromung sehr viel früher als 2038, neue Investitionen in die Nutzung der Wind- und Sonnenenergie, Umbau der Landwirtschaft einschließlich Abschied von der Massentierhaltung, gesunde Ernährung, Mobilität ohne fossile Brennstoffe. Am Anfang aller Überlegungen, den wirtschaftlichen Stillstand zu überwinden, müssten die genannten Punkte zum Maßstab und Leitfaden für alle zu treffenden Maßnahmen werden. Wer hier zögert, sägt nicht nur an dem Ast, auf dem er sitzt – er öffnet auch dem nächsten Virus Tür und Tor. Darum gilt auch in Sachen Klimaschutz: nicht warten, bis die nächsten Zahlen über Naturkatastrophen jedes Engagement erdrücken. Jetzt anfangen, zum Staatsgelingen und Bürgertriumph aktiv einen Beitrag leisten.

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