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Kein Abgesang – die SPD in schwerem Fahrwasser (die Kirche übrigens auch)

Seit fast 70 Jahren gehöre ich zur Evangelischen Kirche, seit fast fünf Jahrzehnten bin ich Mitglied der SPD – zwei Institutionen, die wie kaum andere Grundwerte des Zusammenlebens verkörpern, Traditionen tiefgreifender Aufbrüche als großen Schatz bewahren und Bindungskräfte ausstrahlen. Zwei Institutionen, denen ich sehr viel zu verdanken habe: Orientierung, Beheimatung und ausreichend viele Reibungsflächen. Obwohl ich selbst sehr institutionenkritisch eingestellt bin, habe ich nie ernsthaft über einen Austritt aus der Kirche oder der SPD nachgedacht. Das gilt auch jetzt, da beide Institutionen in eine tiefe Krise geraten sind. Beide wirken derzeit wie aus der Zeit gefallen. Der Virus Bedeutungsverlust hat einen bedrohlichen Erosionsprozess in Gang gesetzt. Evangelischer Kirche und SPD mangelt es an Programmatik, einschließlich der Verankerung bzw. Rückbindung an ihre historischen Anfänge (darum war es ein so fatales Signal, dass die SPD die „Historische Kommission (HiK)“ aufgelöst hat). Beide tun sich schwer damit, ein Menschen aufrüttelndes, begeisterndes Zukunftsprogramm anzubieten. Beide haben erheblich an Menschennähe verloren. Kirche und SPD verkennen seit Jahren das Erfordernis, die Besetzung von Führungspositionen nicht dem Selbstlauf zu überlassen und enge Beziehungen zu gesellschaftspolitisch relevanten Gruppen aufzubauen. Zunehmend schlägt sich der quantitative Aderlass auch qualitativ nieder. Es fehlen die überzeugenden, charismatischen Persönlichkeiten und die Brückenbauer in andere gesellschaftliche Bereiche (wozu heute YouTuber genauso gehören wie Kleingärtnervereinigungen).

1973 war ich in Heidelberg als stellvertretender Ortsvereinsvorsitzender Mitglied in einem Vorstand, dem fünf Frauen und zwei Männer angehörten. Wir lösten damals eine Riege alter Parteimitglieder ab. Das ging nicht kampflos über die Bühne. Schon damals aber diskutierten wir über die Frage, ob die SPD das überleben wird: Nicht wenige Angehörige meiner Generation übernahmen – ohne berufliche Praxis – vom Studium aus Mandate und hauptamtliche Positionen in parteinahen Bildungsinstituten, um von dort aus ihre politische Karriere zu organisieren. Ein Grund für diese Entwicklung war, dass zum einen sich sehr viele Studierende – angezogen durch die charismatische Persönlichkeit Willy Brandts – in der SPD engagierten. Zum andern wurde 1974 durch ein Urteil des Bundesverfassungsgerichtes der Abgeordnete zum Beruf erhoben (statt einer Aufwandsentschädigung gab es nun ein festes Einkommen; damit sollten die Abgeordneten, die keine Beamten waren, finanziell abgesichert werden.). Vielen, die in den 70er Jahren in der und für die SPD Mandate errangen und Führungsposten übernahmen, ging aber schon in den 80er Jahren früher als gedacht politisch die Luft aus. Langfristig hat die SPD (gerade in Baden-Württemberg) diesen Aderlass nicht verkraftet.

Einen doppelten historischen Fehler hat die SPD 1989/90 gemacht: Sie hat zum einen die deutsche Einheit nur zögerlich begrüßt und dadurch ganz viel Vertrauen in der ostdeutschen Bevölkerung verspielt, die durchaus sozialdemokratisch dachte. Noch gravierender war aber, dass die SPD versäumt hat, den Parteiaufbau in Ostdeutschland systematisch zu fördern und zu unterstützen. Dadurch war die SPD der SED-Nachfolgepartei PDS und den alten Blockparteien von Anfang an logistisch (und auch programmatisch) unterlegen. Zu keinem Zeitpunkt konnte die SPD diese Schwäche wettmachen – vor allem nicht in Sachsen.

Spätestens seit den 2005 in Nordrhein-Westfalen und dann auf Bundesebene verlorenen Wahlen wurde offenbar, dass es der SPD an einer Programmatik mangelt, die Regierungshandeln überlagert, aber nicht konterkariert. Sie hat nicht erkannt, dass angekündigte oder durchgesetzte soziale Errungenschaften für bestimmte Bevölkerungsgruppen kein wahlentscheidender Faktor sind. Der Fehler der SPD in der rot-grünen Bundesregierung waren nicht die Hartz-Gesetze – also der Ansatz, Arbeit zu finanzieren, anstatt Nichtarbeitendürfen zu alimentieren. Der Fehler war, dass die SPD zu keinem Zeitpunkt versucht hat, dieses Reformprogramm programmatisch zu unterfüttern und gegen die Verwässerung durch die CDU im Bundesrat offensiv zu verteidigen. Doch als politisch verheerend hat sich herausgestellt, dass sich die SPD seit 2005 an Hartz IV abarbeitet – und es hat ihr nichts genutzt. Es ist eine programmatische Groteske, dass die SPD auch 15 Jahre nach der Agenda 2010 immer noch so tut, als ob sie schuldhaft etwas Falsches veranlasst hat. Niemand nimmt ihr das ab und niemand honoriert diese Haltung.

Die SPD hat versäumt, ihre sozialpolitischen Vorhaben als Fortentwicklung der Agenda 2010 zu kommunizieren. Aber wie gesagt: wahlentscheidend ist dies nicht. Es sei denn, die Vorhaben sind eingebettet in einen gesellschaftlichen Zukunftsentwurf. Den aber hat die SPD weder entwickelt noch kommuniziert. Stattdessen wird nach jeder Wahlniederlage die Erneuerung der SPD bemüht. Tatsächlich hat sich aber nur wenig bewegt – übrigens unabhängig davon, ob die SPD sich in der Opposition (2009-2013) oder in der Regierungsverantwortung (2005-2009, ab 2013 bis heute) befand bzw. befindet.

Jetzt ist die SPD in einen Zustand geraten, in dem sie nur wenig vorzuweisen hat, was junge Menschen begeistern und Alte mitreißen könnte. So richtig die Grundrente ist – sie ist kein Thema, dass generationsübergreifend Menschen politisch in Bewegung setzt. Schon gar nicht hat sie sich geeignet als Ersatz für eine fehlende Europa-Vision. Als in den 80er Jahren die Friedens- und Ökologiebewegung in Westdeutschland Hunderttausende Menschen auf die Straße trieb, waren es Leute wie Willy Brandt und Erhard Eppler, die zum zweiten Mal eine Brücke schlugen zwischen SPD und politisch engagierten Bürgerinnen und Bürgern. Von einem solchen Brückenschlag war in den vergangenen Jahren wenig zu sehen und zu spüren. Stattdessen machten Andrea Nahles oder Sigmar Gabriel die Grünen als Hauptgegner aus. Es wird nicht einfach, aus dieser Sackgasse herauszukommen. In Ostdeutschland ist sie so eng geworden, dass kaum Platz für Umkehr ist. Was kann in einer solchen Lage helfen? Patentrezepte gibt es nicht. Aber ich bin überzeugt davon, dass die SPD sich auf drei Grundthemen konzentrieren muss: Europa und eine aktive Friedenspolitik, sozial ausgerichteter Klimaschutz, Bildung und Demokratie im digitalen Zeitalter. Dabei geht es darum, für die drei Bereiche Zukunftsperspektiven zu entwickeln, die die Bürgerinnen und Bürger emotional bewegen und aus denen sich eine Politik der kleinen Schritte ableiten lässt (umgekehrt geht es eben nicht!). Der SPD fällt die wichtige Aufgabe zu, die Grundthemen von den Menschen her zu denken, die aufgrund ihrer sozialen Lage kaum Möglichkeiten haben, sich aktiv an Veränderungen zu beteiligen – nicht um sie vor Veränderungen zu schonen oder diese einzuschränken, sondern um sie dort beginnen zu lassen und so Teilhabe zu ermöglichen. Auf Sachsen bezogen bedeutet dies, dass die SPD mit drei Grundbotschaften vor die Wähler/innen treten muss: Klimaschutz und Kohleausstieg jetzt (Willy Brandt trat in den 60er Jahren im Ruhrgebiet mit der Botschaft auf: Der Himmel über der Ruhr wird blau!); mit den Menschen vor Ort das städtische und dörfliche Leben gestalten; Demokratie und kulturelle Vielfalt entwickeln.

Bleibt die Frage: Soll die SPD auf Bundesebene in der Koalition bleiben? Ja, natürlich. Denn die programmatische und organisatorische Neuaufstellung wird nicht einfacher, wenn die SPD die Bundesregierung verlässt. Die Partei muss endlich ihre Hausaufgaben machen – auf allen Ebenen.

Nachtrag: Ob die SPD in der Regierung bleibt, ist für mich ebenso zweitrangig wie das Prozedere der Wahl eines/einer neuen Vorsitzenden oder einer Doppelspitze. Wichtig ist, dass die SPD endlich und überzeugend programmatische Zielsetzungen vornimmt. Das verstehe ich unter „Hausaufgaben“.

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