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In Memoriam Irene Lawford-Hinrichsen (8. April 1935 – 2. Mai 2017)

Anfang der vergangenen Woche ist sie gestorben – Irene Lawford-Hinrichsen. Nach Peter Held (1922-2016) und Sir Ralph Kohn (1927-2016) ist sie die dritte der vier bedeutenden gebürtigen Leipziger/innen, die in der Nazi-Zeit nach London flüchteten, die sich nach der Friedlichen Revolution 1989/90 wieder in vielfältiger Weise sich für ihre Geburtsstadt Leipzig engagiert haben und deren Stimme nun für immer verstummt ist. Irene Lawford-Hinrichsen wurde am 8. April 1935 geboren. Sie war Tochter von Max Hinrichsen (1901-1965), dem ältesten Sohn des Besitzers des Musikverlages C F Peters Henri Hinrichsen. Max Hinrichsen war seit 1934 mit der Katholikin Marie-Luise von Siegroth und Slawikau verheiratet. Aufgrund der drohenden nationalsozialistischen Rassegesetze ließen sich beide evangelisch taufen. Auch Irene wurde evangelisch getauft. Doch damit hatten sie sich nach den nationalsozialistischen „Gesetzen“ der Rasseschändung schuldig gemacht. Irene galt als „Mischling“. Die drohende Verfolgung führte dazu, dass Max, inzwischen Mitbesitzer des Peters Verlages, im November 1937 mit seiner Familie nach England emigrierte. Sein Vater Henri verstand diesen Schritt nicht. Er wollte nicht glauben, dass die Nazis alles jüdische Leben ausrotten wollten. Im Gepäck von Max befand sich die Firmengeschichte „Chronik des Hauses S.F. Peters“, die Henri Hinrichsen 1933 maschinenschriftlich und mit vielen Fotos versehen verfasst hatte – ein in Leder gebundenes Dokument der Musikgeschichte Leipzigs im 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts und gleichzeitig eine Schrift, die aufzeigt, wie unendlich viel Henri Hinrichsen für Leipzig getan hat. Die Mutter von Max hatte das Buch ihrem Sohn 1935 übergeben. Vor ihrem ersten Besuch in Leipzig im November 1991 hat Irene Lawford-Hinrichsen dieses Buch wieder in die Hand genommen. Bei meinem letzten ausführlichen Besuch bei Irene in London hat sie mir dieses wertvolle Unikat gezeigt. Erschütternd zu lesen, was Henri Hinrichsen am 1. Oktober 1933 als Resümee schrieb:

Mein Herzenswunsch ist nun, dass mein Sohn Max und die später mitarbeitenden Söhne unser  deutsches  Unternehmen  im Geist ihrer Vorfahren weiterführen mögen , denn auf  deutsche  Musik  ist  der  Verlag  von  Anfang  an  und  während  seines  ganzen  Bestehens  in  erster  Linie  eingestellt  gewesen ! (Hervorhebungen im Original)

Irene Lawford-Hinrichsen wuchs nach 1937 in London auf. Die Liebschaft ihrer Mutter zu dem ungarischen Pianisten Peter Solymos führte 1949 zur Scheidung ihrer Eltern. Ihre Mutter lebte nun in Ungarn. Erst 1956 begegnete Irene wieder ihrer Mutter für einige Wochen in London. Irene war seit 1960 mit Dr. Derek Lawford verheiratet. Sie hat eine Tochter und einen Sohn und zwei Enkelkinder. Sie war zunächst in der Hinrichsen Edition Ltd. tätig. Nachdem es aber zum Zerwürfnis zwischen ihr und der zweiten Frau ihres Vaters Carla unmittelbar nach dem Tod ihres Vaters kam und sie aus der Firma aussteigen musste, war sie als Journalistin und Sprachwissenschaftlerin tätig. Bis zuletzt hat sie viele Vorträge und Vorlesungen gehalten. Nach der Friedlichen Revolution 1989/90 nahm Irene Lawford-Hinrichsen wieder Kontakt zu ihrer Geburtsstadt Leipzig auf. Ihren ersten Besuch am 17. November 1991 bezeichnete sie selbst als eine Art Wiedergeburt: „I like to say that I was reborn in Leipzig.“ All ihre Aktivitäten hatten ein Ziel: dass das Erbe der Familie Hinrichsen bewahrt und lebendig gehalten wird. Denn gerade ihr Großvater Henri hat so viel für die Stadt Leipzig getan. Ohne ihn gäbe es kein Musikinstrumentenmuseum oder eine Henriette Goldschmidt Schule. Ohne seine Förderung wäre das Komponistenleben eines Edvard Grieg oder Max Reger sehr anders verlaufen. Es ist den Aktivitäten von Irene Lawford-Hinrichsen mit zu verdanken, dass 1992 aus Anlass des 50. Jahrestages der Ermordung ihres Großvaters Henri Hinrichsen im KZ Auschwitz auf dem Südfriedhof ein Gedenkstein für die Hinrichsen Familie errichtet wurde. Traurige Ironie der Geschichte: Die Grabstätte der Familie Hinrichsen wurde in den 80er Jahren von den Kommunisten beseitigt, um einen Aufmarsch- und Kundgebungsplatz am Ehrenhain für Widerstandskämpfer und Opfer des Nationalsozialismus zu schaffen.

Irene Lawford-Hinrichsen hat nach 1990 zwei wichtige Bücher veröffentlicht, die leider nur in englischer Sprache zur Verfügung stehen: „Music Publishing and Patronage. C F Peters: 1800 to the Holocaust“ (2000) und „Five Hundred Years to Auschwitz. A family Odyssey from the Inquisition to the Present“ (2008). Beide Bücher sind im Eigenverlag erschienen. Sie sind auch bedeutende Beiträge zur Stadtgeschichte Leipzigs. Sie dürfen nicht verloren gehen, denn sie zeugen davon, wie groß die Versöhnungsbereitschaft derer ist, denen unter dem Nazi-Terror großes Unrecht widerfahren ist. Allerdings machen die Bücher auch deutlich, dass diese Versöhnung nur möglich ist, wenn wir uns heute der Verbrechen bewusst bleiben, die in deutschen Namen begangen wurden, und dafür die politische Verantwortung tragen. Irene Lawford-Hinrichsen hat sich um diese Erinnerungskultur verdient gemacht. Nie werde ich ihren erschütternden Vortrag in der Alten Handelsbörse im Jahr 2007 über ihren Onkel, den bedeutenden Leipziger Arzt Dr. Ludwig Frankenthal, vergessen. Er war mit Ilse Hinrichsen, der Schwester von Irenes Vater Max, verheiratet. Frankenthal war am Eitingon-Krankenhaus tätig. Er wurde am frühen Morgen des 10. November 1939 am Operationstisch stehend von der Gestapo verhaftet und ins KZ Buchenwald verschleppt. Das Erschütternde: Kein Leipziger Arzt protestierte gegen die Verhaftung. Nach einer schlimmen Odyssee wurde Frankenthal 1944 im KZ Auschwitz ermordet. Zwar wurde für ihn am Dittrichring 13 ein Stolperstein verlegt – aber die organisierten Ärzteschaft Leipzigs sieht sich bis heute nicht in Verantwortung, die Erinnerung an die jüdische Ärzte wachzuhalten.

Mit dem Tod von Irene Lawford-Hinrichsen hat die Stadt Leipzig eine ganz wichtige Zeitzeugin verloren. Alle, die Irene in den vergangenen 26 Jahren erleben konnten, werden sie schmerzlich vermissen – vor allem aber sind sie dankbar für ihr großartiges Wirken für ihre Geburtsstadt Leipzig. Leider hat die Stadt Leipzig versäumt, das unermüdliche Engagement von Irene Lawford-Hinrichsen öffentlich zu würdigen. Das sollte nun unbedingt posthum nachgeholt werden. Denn eines ist unstrittig: Ohne dieses Engagement wäre die Erinnerungskultur in Leipzig um vieles ärmer.

Am 18. Mai 2017 wird Irene Lawford-Hinrichsen in London beigesetzt. Unsere Gedanken sind nun bei der Familie. In ihr fühlte sich Irene in den Monaten ihrer schweren Erkrankung geborgen. Wir wissen von ihrer Tochter Julie, dass sie sich über die vielen guten Wünsche von Leipziger Bürgerinnen und Bürger sehr gefreut hat. Ihr war es wichtig, nach all den schrecklichen Verbrechen, die auch etliche Verwerfungen in der großen Hinrichsen Familie zur Folge hatten, in Frieden das Leben beenden zu können.

Das Foto habe ich im April 2015, wenige Tage nach ihrem 80. Geburtstag, in ihrem Haus in London aufgenommen.

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