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Hilfe zum Sterben oder: Problemlösung durch Problemvernichtung – einige Gedanken zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts

Es sind drei Wochen vergangen, seit meine am 13. Februar 2020 verstorbene Frau die künstliche Ernährung beendet hat. Am gleichen Tag wurde sie auf die Palliativstation des St. Elisabethkrankenhauses aufgenommen und dort in eindrucksvoller Weise im Prozess des Sterbens begleitet. Nach siebeneinhalb Tagen hat sie aufgehört zu atmen, ohne zusätzlich leiden zu müssen und Schmerzen zu verspüren. Vor über zwei Jahren wurde bei ihr ALS (Amiotrophe Lateralsklerose) diagnostiziert, eine schreckliche Krankheit, vor der die Ärzte machtlos stehen und die sich unerbittlich des Körpers eines Menschen bemächtigt: Nach und nach setzen die Sprache aus, dann die Ess- und Trinkmöglichkeiten, dann greift die Krankheit auf den Bewegungsapparat über (oder umgekehrt). Am Ende führt es zur völligen Versteifung des Körpers und Atemnot. Dies alles bei vollem Bewusstsein des Erkrankten. Meine Frau und ich haben versucht, mit der Krankheit zu leben – wohl wissend, dass diese Krankheit jeden Augenblick präsent und keine Heilung möglich ist. Trotz aller Einschränkungen konnten wir noch viel unternehmen. Doch es nahte der Zeitpunkt, dass die Aussichtslosigkeit unerträglich zu werden drohte. Wir waren froh und dankbar, dass wir – nachdem wir vor einem dreiviertel Jahr mit der Palliativstation Kontakt aufgenommen hatten – in der Gewissheit leben konnten: Meiner Frau wird geholfen, wenn sie sich entscheidet, mit der künstlichen Ernährung aufzuhören. Oder kurz und bündig: Wir waren froh über das Angebot der Sterbehilfe. Natürlich hat meine Frau in Momenten der Verzweiflung geäußert: Das Beste wäre es, wenn ich eine Spritze bekommen könnte. Das ist angesichts der Tatsache, dass ALS keinen Raum für Hoffnung lässt, nur zu verständlich. Aber dieser Wunsch wurde Gott sei Dank immer wieder überlagert vom eigenen Lebenswillen, der Freude an den nächsten Menschen und dem Bestreben, die letzten Dinge zu ordnen, das Feld zu bestellen.

Nun hat das Bundesverfassungsgericht ausgerechnet am Aschermittwoch ein wegweisendes Urteil in Sachen Sterbehilfe, genauer: Hilfe zum Suizid, gesprochen. Das BVG stellt fest, dass das 2015 eingeführte Verbot der geschäftsmäßigen Sterbehilfe (§ 217 StGB) gegen das Grundgesetz verstößt. Es gebe ein Recht auf selbstbestimmtes Sterben, sagte der Präsident des Bundesverfassungsgerichts Andreas Voßkuhle bei der Urteilsverkündung in Karlsruhe. Das schließe die Freiheit ein, sich das Leben zu nehmen und dabei Angebote von Dritten in Anspruch zu nehmen. Nach Voßkuhle gilt das grundsätzlich, d.h. altersunabhängig und auch für gesunde Menschen. So problematisch der 2015 eingeführte § 217 StGB war (die „geschäftsmäßig“ durchgeführte Sterbehilfe) – das Urteil hinterlässt bei mir zwiespältige Gefühle. Zum einen ist zu begrüßen, dass die Ärzte, die bei schwerkranken Patienten aktive Sterbehilfe leisten, also Medikamente für ein schnelles Sterben zur Verfügung stellen, keine Strafverfolgung mehr befürchten müssen. Zum andern aber kann nun jeder, der seinem Leben aus welchen Gründen auch immer ein Ende setzen will, dafür Hilfe in Anspruch nehmen – durch Ärzte oder Vereine, die sich auf Sterbe- bzw. Suizidhilfe spezialisieren. Das ist aus zwei Gründen höchst problematisch:

  • Durch die nunmehr unbeschränkte Möglichkeit der Sterbe- bzw. Suizidhilfe droht das Angebot der Palliativmedizin in den Hintergrund zu geraten, Menschen in einer krankheitsbedingt schwierigen Lebenssituation auf das Sterben vorzubereiten und dieses zu begleiten, ohne das Sterbe- bzw. Suizidbegehren zu befördern. Vor allem wird der Sterbeprozess als notwendiger Teil des Lebens entwertet. Sterben und damit Hilfe zum Sterben ist etwas grundsätzlich anderes als ein begleiteter Suizid.
  • Das Urteil des BVG befördert die leider auch im politischen Bereich um sich greifende, aber höchst gefährliche Strategie „Problemlösung durch Problemvernichtung“: Mir geht es schlecht, also versuche ich mich aus dem Weg zu räumen. Doch einen solchen Wunsch hat leider nicht nur der Betroffene, sondern das kann auch zum Begehren der Angehörigen oder der Gesellschaft werden: Alles wäre einfacher, wenn der Kranke, der pflegebedürftige alte Mensch, der Mensch mit Behinderungen nicht mehr leben würde. Was individuell vollzogen noch hinnehmbar zu sein scheint, wird auf die Gesellschaft projiziert mehr als fragwürdig. Die Strategie „Problemlösung durch Problemvernichtung“ steht im Widerspruch zur Botschaft von der Gnade Gottes und zum Geist des Grundgesetzes. Denn dass die Würde des Menschen unantastbar ist, bezieht sich nicht nur auf das Individuum, sondern gleichzeitig auf den nahen und fernen Nächsten.

Keine Frage: Am Ende einer schweren Krankheit kann der Wunsch stehen, auf alle lebensverlängernden und medizinisch möglichen Maßnahmen wie einer künstlichen Ernährung zu verzichten und nur noch sterben zu wollen. Einen solchen Wunsch zu erfüllen, ist eine der Aufgaben, der sich die Palliativmedizin stellt. Aber das ist etwas anderes, als – in welcher Lebenslage auch immer – die Spritze zu verlangen, die mein Leben sofort beendet. Wir haben also zu bedenken: Das Recht festzustellen, sein Leben selbst beenden zu dürfen, und dies aus Artikel 1 und 2 des Grundgesetzes abzuleiten, ist das eine; das andere ist: Diese Freiheit entbindet uns nicht davon, der Vergänglichkeit des Lebens Rechnung zu tragen und Krankheit, Leiden und Sterben Raum zu geben und zuzulassen. Sterben ist keine Angelegenheit des Augenblicks, sondern ein Prozess – nicht nur für den betroffenen Menschen, sondern auch für seine Umgebung. Dieses im Blick zu behalten, ist jetzt nicht nur Sache des Gesetzgebers. Es ist auch tägliche Aufgabe von uns allen, um den Wert des Lebens zu ermessen. Der Bibel verdanken wir den weisen Satz: „Lehre uns bedenken, dass wir sterben müssen, auf dass wir klug werden.“ (Die Bibel: Psalm 90,12)

Lesetipp: Interview mit dem Vorsitzenden des Deutschen Ethikrates, Peter Dabrock. Er ist Theologieprofessor an der Universität Erlangen.

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… und am Sonntag heißt es:

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