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Der Thomanerchor und die Kollateralschäden der Corona-Pandemie

Heute ist der 20. März 2021 – der 809. Geburtstag der THOMANA, der Trias von Thomaskirche, Thomanerchor und Thomasschule – damals hervorgegangen aus dem 1212 gegründeten Thomaskloster. Eigentlich ein Feiertag, der in früheren Jahren mit einem festlichen Essen im Alumnat begangen wurden. Viele werden sich auch noch an den Festakt zum 800-jährigen Jubiläum der THOMANA erinnern am 20. März 2012 – unter dem Motto „glauben, singen, lernen“. Gleichzeitig wurde der Bildungscampus forum thomanum eingeweiht. Wer in diesem Jahr und in diesen schwierigen Zeiten der Corona-Pandemie einen Impuls des Thomanerchors, der ältesten Kulturinstitution der Stadt Leipzig, erwartet hat, sieht sich leider enttäuscht. Weder tritt der Thomanerchor – natürlich nur in kleiner Besetzung – bei der ersten Motette seit langem noch im Festgottesdienst zu Bachs 336. Geburtstag am 21. März 2021 in der Thomaskirche auf. Stattdessen berichtet heute die Leipziger Volkszeitung (LVZ) von einem „Offenen Brief“, einem „Hilferuf“ der Obernschaftler des Thomanerchors. Darin fordern sie, dass Universitätsmusikdirektor David Timm neuer Thomaskantor werden, und dass der Geschäftsführer des Thomanerchors Emanuel Scobel sein Amt aufgeben soll. Diese Botschaft haben sie in der Nacht von Donnerstag zum Freitag auch dem im Dezember 2020 gewählten neuen Thomaskantor Andreas Reize in einer nicht namentlich unterzeichneten Mail mitgeteilt. Aus der Mail und dem „Hilferuf“ geht nicht hervor, ob die Obernschaft (also alle 11- und 12-Klässler) geschlossen den Inhalt des Briefes mitträgt oder ob es sich um eine Mehrheitsentscheidung handelt. Auch ist unklar, wie sich der ganze Chor zu dem Vorgang verhält.

Natürlich haben die Thomaner das Recht, sich in Debatten einzumischen, solche auszulösen, sich öffentlich zu positionieren – vor allem in Angelegenheiten des Chores. Auch sollte niemand die jetzigen Einlassungen trotz aller Merkwürdigkeiten als spätpubertäres Gebaren abtun. Nein, was die Obernschaftler schreiben, muss ernst genommen werden. Darum waren sie auch von Anfang an in das Auswahlverfahren des neuen Thomaskantor einbezogen. Ihre Meinung zu den verschiedenen Kandidaten hatte im Wahlverfahren großes Gewicht. Doch zeigte sich auch da schon, dass die Beurteilungen der verschiedenen Kandidaten innerhalb des Chores durchaus unterschiedlich waren. Wenn nun – über drei Monate nach Abschluss des Wahlverfahrens und der einstimmigen Wahl von Andreas Reize zum neuen Thomaskantor durch den Stadtrat der Stadt Leipzig im Einvernehmen mit dem Kirchenvorstand der Kirchgemeinde St. Thomas – die Obernschaftler fordern, dass David Timm neuer Thomaskantor werden soll, dann muss man sich fragen: Was soll denn das? Oder haben die Obernschaftler in der Schweiz recherchiert und schwerwiegende Erkenntnisse gewonnen, die zu einer Revision der Wahlentscheidung führen müssen? Davon ist aber mit keinem Wort die Rede. Vielmehr zeugt der Brief von einem sehr spät empfundenen (neu geweckten?) Frust darüber, dass die Ansichten der Obernschaftler ungenügend beachtet wurden. Nur: Schon im Dezember hatte es auf Initiative von Andreas Reize eine offene, konstruktive Aussprache zwischen ihm und den Obernschaftlern gegeben. Dabei haben die Obernschaftler nach eigenem Bekunden Herrn Reize gegenüber geäußert, „dass wir die Wahl so annehmen wie sie ist.“

Was aber hat zu dem Sinneswandel geführt? Auch dazu äußern sich die Obernschaftler: „Durch Unterdrückung unserer Meinung seitens Emanuel Scobel und der Kündigung des Assistenten des Thomaskantors Titus Heidemann (von sich aus, weil er mit den internen Umständen nicht mehr klar kommt), sehen wir uns gezwungen uns nun doch an die Presse zu wenden und unsere Meinung klar und deutlich zu äußern.“ Doch was haben diese beiden Dinge mit Andreas Reize zu tun? Und wieso fordern sie David Timm (und „notfalls“ (!) Ludwig Böhme) als neuen Thomaskantor – ohne mit diesem vorher zu sprechen oder ihn zu informieren? Sind sich die Obernschaftler bewusst, dass sie damit zwei hervorragende Musiker in aller Öffentlichkeit beschädigen, ohne dass diese sich wirklich wehren können? Und was – wenn Andreas Reize zu der Überzeugung kommt, das Amt nicht anzutreten? Glauben die Obernschaftler wirklich, dass das dem Thomanerchor irgendwie nutzt?

Nun ist davon auszugehen, dass die Obernschaftler ihre Presseaktion sicher nicht ohne Wissen von Eltern und Mitarbeiter*innen im Chor gestartet haben. Da stellt sich nicht nur die Frage: Was sagt der Brief aus über den inneren Zustand des Thomanerchors und die Chorleitung? Es ist wohl so, dass die Aktion der Obernschaftler am wenigsten mit dem neuen Thomaskantor und nur sehr bedingt mit dem Geschäftsführer zu tun hat. So gehen von dem Brief zwei Botschaften aus:

  • Auch der Thomanerchor bleibt vor den Kollateralschäden der Corona-Pandemie nicht verschont. Da liegen nicht nur die Nerven blank. Die offene Kommunikation ist durch das eingeschränkte Chorleben erheblich beeinträchtigt. Das bleibt offensichtlich nicht ohne Folgen. Doch deren Folgen können mehr als ärgerlich sein.
  • Der Thomanerchor bedarf dringend eines Neuanfangs. Dafür sind die Voraussetzungen ab Herbst eher günstig: Es beginnt nicht nur ein neuer Thomaskantor seine Tätigkeit. Er hat auch die Möglichkeit, die Assistentenstelle nach seinen Vorstellungen zu besetzen. Und: Die Stelle der Leitung der Thomasschule wird auch neu besetzt, da die bisherige Leiterin Kathleen Blecher (vormals Kormann) aufhört. Das wird die THOMANA hoffentlich stärken.

Insofern können alle mit großen Hoffnungen und viel Erwartungen dem Herbst 2021 entgegensehen: Andreas Reize – herzlich willkommen! Bis dahin aber sollte alles getan werden, die Kommunikation innerhalb des Thomanerchors und in der Öffentlichkeit transparent und fair zu gestalten. Denn die große Tradition der THOMANA ist für das gesellschaftliche und kulturelle Leben viel zu wichtig, als dass man sie durch nicht zu Ende gedachte Aktionen gefährden darf.

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Nachtrag: Alle, die sich jetzt äußern, sollten ein paar Dinge bedenken:
1. Es zeichnet die Nominierungskommission aus, dass in die engere Auswahl vier hochqualifizierte Musiker kamen, von denen jeder das Amt des Thomaskantors hätte ausfüllen können. Es ging und geht nicht um besser oder schlechter, sondern um die Frage, wer unter den gegebenen Umständen und nach der umfangreichen Vorstellung der geeignete ist.
2. Über die Nominierung des Kandidaten, der dem Oberbürgermeister als Thomaskantor vorgeschlagen wird, entscheiden weder die Kirchgemeinde, noch die Thomaner, noch die Mitarbeiter*innen im Alumnat, noch die Experten, noch die eingesetzte Kommission alleine. Dies geschieht nach einem sorgfältig durchgeführten Prozess durch eine Abstimmung im Stadtrat nach Vorschlag durch den Oberbürgermeister im Einvernehmen mit der Kirchgemeinde St. Thomas – im konkreten Fall war dies einstimmig!
3. Bei den hier aufgeführten Kriterien hätten Johann Sebastian Bach und nach ihm viele andere Thomaskantoren niemals das Amt bekleiden können/dürfen. Sie kamen von auswärts und waren im Falle Bach sogar zweite Wahl!
4. Frage: Aus welcher Kenntnis heraus wird unterstellt, dass der gewählte neue Thomaskantor nicht “von tiefem Glauben beseelt” ist, nicht vertraut ist mit der Tradition der THOMANA, keine Ahnung von der Leitung eines Knabenchors und der reformatorischen Musiktradition an der Thomaskirche haben soll?
5. Noch einmal: Dass drei von vier Kandidaten bei der Wahl keine Berücksichtigung fanden, bedeutet nicht, dass etwas “gegen seine (deren) Bewerbung gesprochen haben soll”. Es heißt lediglich, dass sich die Gremien unter Abwägung aller Argumente und Eindrücke für einen Kandidaten entschieden haben. Eigentlich ein ganz normaler Vorgang.
6. Wer sagt eigentlich, dass der Thomanerchor in Gänze den neuen Thomaskantor ablehnt und für David Timm eintritt. Dem Votum der Obernschaft liegt keine Abstimmung unter den Mitgliedern des Thomanerchors zugrunde. Da herrschen sehr unterschiedliche Meinungen. Auch stimmen längst nicht alle Obernschaftler dem Votum zu.

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