Der 8. Mai – Tag der Befreiung. Nach der berühmten Rede von Bundespräsident Richard von Weizsäcker (1920-2015) am 8. Mai 1985 schien dies ein gesamtdeutscher Konsens zu sein: „Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung. Er hat uns alle befreit von dem menschenverachtenden System der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft.“ (https://www.tagesschau.de/inland/rede-vonweizsaecker-wortlaut-101.html) Doch das wird jetzt von den Rechtsnationalisten mehr als infrage gestellt. So ließ der Vorsitzende der AfD-Fraktionsvorsitzende und Ehrenvorsitzende seiner Partei Alexander Gauland zum 8. Mai 2020 verlautbaren ließ: „Der 8. Mai hat nicht das Potenzial zu einem Feiertag, weil er ein ambivalenter Tag ist. Für die KZ-Insassen ist er ein Tag der Befreiung gewesen. Aber es war auch ein Tag der absoluten Niederlage, ein Tag des Verlustes von großen Teilen Deutschlands und des Verlustes von Gestaltungsmöglichkeit“ … Der 8. Mai lasse sich nicht „zum Glückstag für Deutschland machen“. (vgl. https://www.tagesspiegel.de/politik/gauland-lehnt-dauerhaften-feiertag-ab-deutlicher-gegenwind-fuer-afd-fraktionschef-nach-kritik-am-8-mai/25805184.html)
Damit reagiert Gauland nicht nur auf den Vorschlag der Auschwitz-Überlebenden Esther Bejarano, den 8. Mai zum gesetzlichen Feiertag zu erklären. Gauland versucht unter Anwendung der sattsam bekannten Verharmlosungsstrategie der Rechtsextremisten, den Nationalsozialismus umzudeuten und damit anknüpfungs- und salonfähig zu machen. Nun könnte man die Sache abtun (und ein Teil der Medien scheint dem zu folgen): Die AfD befindet sich derzeit im Abwärtstrend. Gauland will seine Partei mit dieser Provokation wieder ins Gespräch bringen. Also am besten die Äußerungen ignorieren. Doch das entspringt in meinen Augen einer Fehleinschätzung. Derzeit bereitet sich die AfD intensiv auf ein Comeback im Herbst vor und nutzt Demonstrationen, zu denen ein „Widerstand 2020“ bzw. „LeipzigBewegung“ aufrufen, um Unzufriedenheit aufzugreifen, Ängste zu schüren, neue Anhänger zu gewinnen. Deren Frust über massive Einschränkungen im persönlichen Umfeld soll umgeleitet werden: Letztlich habt ihr alles der „Kanzlerdiktatorin“ (Gauland) Merkel zu verdanken, die autoritärer regiert als vor 1989 Honnecker oder Adolf Hitler, sekundiert von gekauften Wissenschaftlern und der Lügenpresse. Sinn und Zweck dieser geschichtsklitternden Strategie sind leicht durchschaubar: Es sollen die Grundwerte des Grundgesetzes dadurch ausgehöhlt werden, dass man ihre Wirksamkeit heute bestreitet und den gesellschaftlichen Zustand schlimmer einschätzt als tatsächliche Diktaturen und Terrorherrschaften. Damit werden gleichzeitig neue Anknüpfungsmöglichkeiten an den Nationalsozialismus geschaffen, nicht zuletzt durch einen unverhohlenen Antisemitismus.
Darum entwertet Gauland gezielt den 8. Mai, indem er ihn einen „ambivalenten Tag“ bezeichnet. Doch das gilt für jeden Feiertag: Was des einen Sieg, ist des anderen Niederlage. Darum kommt es darauf an, dass der Begriff Befreiung auf Opfer wie auf Täter angewandt wird. Konkret: Deutschland wurde durch die alliierten Streitkräfte von der Terrorherrschaft der Nazis befreit. Aber gleichzeitig konnten mit dem Aufbau eines demokratischen Rechtsstaates Bedingungen geschaffen werden, unter denen die Täter angeklagt und verurteilt wurden, ohne dass ihr Leben ausgelöscht bzw. ihre Taten beschönigt wurden – genau das, was Deutschland selbst durch die Siegermächte nach dem 8. Mai 1945 erfahren hat. Das entspricht auch der christlichen Überzeugung, dass durch den Tod Jesu am Kreuz nicht nur Solidarität mit den Leidenden ausgeübt, ihre Anliegen ins Recht gesetzt wurden. Die Täter wurden auch davon befreit, weiter wissentlich das Falsche zu tun, ihre Schuld zu leugnen und sich selbst in eine Opferrolle zu katapultieren.
Genau Letzteres aber macht Gauland, indem den 8. Mai 1945 zum „Tag der absoluten Niederlage, ein Tag des Verlustes von großen Teilen Deutschlands und des Verlustes von Gestaltungsmöglichkeiten“ erklärt. Die erzwungene, bedingungslose Kapitulation wird nicht als Befreiung aus selbstverschuldeter Gewaltherrschaft begriffen, sondern als Schmach – und schon sind die Täter die neuen Opfer, und der Weg zur widerlichen Rede vom „Kriegsschuldkult“ ist frei. Doch wenn es ein Datum „absoluter Niederlage“ des deutschen Volkes gibt, dann ist es der 30. Januar 1933, der Beginn der Hitler-Diktatur. Davon können Gauland und seinesgleichen aber nicht reden, weil sie sich die politische Option des Nationalsozialismus offen halten wollen. Ganz nebenbei hält Gauland dann noch eine Option aufrecht: die eines Deutschland in den Grenzen von 1937, indem er vom Verlust „von großen Teilen Deutschlands“ spricht. Zusätzlich schreibt er die Geschichte mit der Behauptung um, mit dem 8. Mai 1945 habe Deutschland die „Gestaltungsmöglichkeiten“ verloren. Wahr ist, dass Deutschland mit diesem Tag, mit dem Aufbau eines demokratischen Staatswesens, mit der in der Präambel des Grundgesetzes (am 8. Mai 1949 verabschiedet, am 23. Mai 1949 inkraft getreten)verankerten europäischen Vereinigung und dem Auftrag, „dem Frieden der Welt zu dienen“, weitreichende Gestaltungsmöglichkeiten eröffnet wurden. Doch davon wollen ein Alexander Gauland und eine AfD, die seit der „Auflösung“ des sog. Flügels fest in der Hand der Rechtsextremisten um Höcke und Kalbitz ist, nichts wissen. Ihnen kommt es darauf an, die heutige gesellschaftliche Entwicklung als morbide darzustellen, eine Folge der „nach 1945 begonnenen systematischen Umerziehung“ (Björn Höcke), ausgehend vom 8. Mai 1945. Damit sollte angeblich nichts anderes bezweckt worden sein, als „uns mit Stumpf und Stiel (zu) vernichten, … unsere Wurzeln (zu) roden“ (so Björn Höcke).
Auf diesem Hintergrund wird deutlich, worum es Gauland eigentlich geht: die Geschichte Deutschlands nach dem 8. Mai 1945 als ein großes Versagen, als ein Unglück darzustellen, von dem das deutsche Volk nunmehr „befreit“ werden muss. Um es klar zu sagen: Nach Gauland und der AfD wurden am 8. Mai 1945 zwar KZ-Häftlinge „befreit“, doch das deutsche Volk wurde in eine neue Knechtschaft geführt. Mit dieser perfiden Geschichtsverfälschung versuchen die AfD und die Rechtsnationalisten, heute ihren Vorteil aus der Coronakrise zu ziehen. Denn in dieser wird angeblich wieder eine „Knechtschaft“ exekutiert, die ihren Ausgang vor 75 Jahren genommen hat. Solch eine Perfidie dürfen wir niemandem durchgehen lassen. Hier ist unbedingte und tatkräftige Aufmerksamkeit der Demokraten vonnöten.
8 Antworten
Ich stimme Christian Wolffs Position zu. Der 8. Mai soll als Tag der Befreiung zum bundesweiten Feiertag werden. Für mich ist er das schon.
Die Lektüre Ides von Ihnen, Herr Plätzsch, verlinkten Textes von Hubertus Knabe, hat mich in dieser Haltung bestärkt. Der ist gegen den Feiertag und behauptet als Grund, die „die Deutschen hätte sich damit von der Täter- auf die Opferseite der Geschichte geschummelt“.
Schon im nächsten Absatz offenbart sich aber Knabes wirkliches Anliegen. Ihm geht es einzig und allein darum, den Menschen in der ehemaligen Sowjetunion unter keinen Umständen den Status der Befreier zuzugestehen, ihnen den Respekt zu verweigern!
Diese Haltung finde ich beschämend. Mein zugegeben emotionale Haltung hat damit zu tun, dass ich mit den „Soffjets“ als Feindbild aufgewachsen bin, dies war bis 1968 in Westdeutschland praktisch unhinterfragt, da war ich aber erst 10 Jahre alt. Etwa 5 Jahre später hört ich im DDR-Radio das Lied „Soldat vom Don“. Der Text hat mich erst befremdet. Dann habe ich mich dafür geschämt, sein Anliegen nicht gleich begriffen zu haben. Der Soldat vom Don wurde für mich vom Feind zum jungen Menschen, wie ich einer war. Ich hatte eine Zukunft, für die er gestorben war. Die bedingungslose Kapitulation wurde zur Befreiung. Meine Zukunft hatte ich den Befreiern zu verdanken, und die Erkenntnis, dass dies vor allem die „Soffjets“ waren, einem schlichten Lied. Seitdem ist der 8. Mai für mich der wichtigste Feiertag.
„Wahr ist, dass Deutschland mit diesem Tag, mit dem Aufbau eines demokratischen Staatswesens, mit der in der Präambel des Grundgesetzes (am 8. Mai 1949 verabschiedet, am 23. Mai 1949 inkraft getreten)verankerten europäischen Vereinigung und dem Auftrag, „dem Frieden der Welt zu dienen“, weitreichende Gestaltungsmöglichkeiten eröffnet wurden.“
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Mit „Deutschland“ meinen Sie die Bundesrepublik. Bitte vergessen Sie nie, dass den Deutschen im anderen Teil eine stalinistische Diktatur aufgezwungen wurde.
Nein, mit Deutschland meine ich zunächst das Deutschland nach dem 8. Mai 1945. Es gab in der Folgezeit zwei Versuche, Konsequenzen aus dem Nazi-Deutschland zu ziehen. Einer ist 1989/90 u.a. am Stalinismus gescheitert. Jedoch hat der in sich widersprüchliche Prozess in Mitteleuropa dazu geführt, dass die europäische Einigung auch heute noch als Friedensprojekt gelten kann. Auch das ist eine Folge des 8. Mai 1945 – und die „Gestaltungsmöglichkeiten“ sind noch lange nicht an ihr Ende gekommen.
Dann hätten Sie es anders formulieren müssen. Ihr „Deutschland“ beziehen Sie eindeutig auf das Grundgesetz und die europäische Einigung. Das ist typisch für einen westdeutschen Linksintellektuellen, den der Osten nie interessiert hat. Den Klassiker gab Otto Schily am Wahltag 1990 als er eine Banane in die Kamera hielt. Da lob‘ ich mir den alten Antikommunisten Knabe.
Auch nach dem gescheiterten Volksaufstand in der DDR am 17. Juni 1953 bestand das diktatorische SED-Regime noch 37 Jahre weiter, und es gab dennoch lange Jahre einen gesetzlichen Feiertag in der Bundesrepublik. Wozu hätte denn ein gelungener Umsturz vom 20. Juli 1944 führen können, wenn nicht zu einer Kapitulation und Besetzung Deutschlands durch die Alliierten? Dass der Umsturz leicht hätte scheitern können, auch wenn das Attentat auf Hitler erfolgreich gewesen wäre, meinten Sie vielleicht. Ja, das hätte gut sein können.
Weder die Russen, noch die Westalliierten hatten im übrigen vor, die Deutschen zu befreien. Dafür existieren genügend historische Quellen. Ich empfehle die Ausführungen des Historikers Dr. Hubertus Knabe.
https://hubertus-knabe.de/75-jahre-kriegsende/
Hubertus Knabe ist nun alles andere als ein „Gewährsmann“ in Sachen deutscher Geschichte. Und dass die Befreiten die neu gewonnenen Möglichkeiten weniger als Freiheit und eher als Last empfinden – das ist ein Konstante, die sich schon in der Bibel findet: die Sehnsucht nach den „Fleischtöpfen Ägyptens“. Ich bin froh und dankbar einen Vater gehabt zu haben, der uns am Familientisch immer wieder seine Überzeugung vermittelte, dass es angesichts der Verbrechen der Nazis zu der totalen Niederlage kommen musste, dass das die Schuld der Deutschen war (sich selber eingeschlossen) und dass es jetzt darauf ankomme, mit dem Angebot der Versöhnung (Befreiung) verantwortlich umzugehen. Eine irgendwie geartete Opferrolle Deutschlands lehnte er prinzipiell ab. Denn alles, was geschah, war Folge davon, dass das deutsche Volk sich den Nazis ausgeliefert hatte. Das sollte uns heute Warnung genug sein! Christian Wolff
V. Weizsäcker sagte: „Der 8. Mai ist für uns Deutsche kein Tag zum Feiern.“ Damit hatte er recht. Den 20. Juli 1944, den Tag des Anschlags auf Hitler, sollte man feiern, denn hier flackerte wenigstens ein Funken Widerstand gegen das Nazi-Regime auf.
Wenn der 8. Mai kein Feiertag sein soll, dann ist es der 20. Juli erst recht nicht. Denn nach dem Scheitern des Hitler-Attentats lief die Vernichtungsmaschinerie der Nazis auf Hochtouren. Ebenso ist es sehr fraglich, ob ein gelungener Umsturz damals wirklich zu einer Befreiung vom Nationalsozialismus geführt hätte. Insofern ist der 8. Mai 1945 der Tag, der einen Weg Deutschlands in das vereinte, demokratische Europa ermöglichte.