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Danach: Nichts darf aufgegeben werden

Montagabend, 19. Dezember: knapp 200 Menschen, darunter sehr viele Syrer/innen, versammeln sich auf dem Thomaskirchhof zur Kundgebung „Die Lähmung überwinden. Stoppt den Krieg in Syrien. Für Frieden im Nahen Osten“. Die Polizei kommt vorbei, fragt, ob es irgendwelche Probleme gibt, schätzt die Lage absolut friedlich ein und zieht weiter. Die Kundgebung verläuft ruhig und emotional. Vor allem die Rede einer jungen Syrerin, die als Geflüchtete derzeit ihr Abitur in Leipzig ablegt, bewegt die Menschen. Sie schildert dramatisch die verzweifelte Situation in Aleppo und den Terror, dem die Menschen ausgesetzt sind. Doch nicht nur das kommt zur Sprache. Pfarrer Enno Haaks schildert die Not, die armenische Christen in Aleppo zu erleiden haben, und spricht aus, was unbedingt bedacht werden muss: dass bald keine Christen mehr in Syrien leben. Nur wenige Minuten später wird in Berlin ein LKW bewusst auf den Weihnachtsmarkt an der Gedächtniskirche gesteuert und reißt 12 Menschen in den Tod. Als ich zu Hause von dem Terroranschlag erfahre, frage ich mich: Habe ich auf der Kundgebung etwas gesagt, was ich nun korrigieren muss? Ich kann es nicht erkennen. Weder die Forderung nach dem Stopp des Krieges, noch die nach einer menschenwürdigen Behandlung und Integration der Flüchtlinge in unserem Land, noch die nach Demokratie, Pluralität und sozialen Zusammenhalt sind falsch geworden. Im Gegenteil: Dieser Terroranschlag, von wem auch immer verübt, fordert unsere Wachsamkeit heraus – nicht um uns abzuschotten oder in jedem Flüchtling einen potentiellen Terroristen zu sehen, sondern um das gemeinsame Leben zu lernen und um die Ursachen des Terrors zu bekämpfen. Meine Rede endete:

Schließlich haben wir alles zu tun, damit der religiöse, kulturelle, weltanschauliche Pluralismus hier und weltweit gelebt wird und sich entfalten kann. Dieses geht nur unter den Bedingungen von Freiheit und Demokratie. Den Kampf dafür müssen wir hier und weltweit führen. Doch ein Mittel ist in diesem Kampf ausgeschlossen: das Mittel des Terrors und des Krieges. (http://wolff-christian.de/veroeffentlichungen/)

Terror richtet sich immer gegen den Respekt und die Rücksichtnahme dem nahen und fernen Nächsten gegenüber. Terror will Freiheit und Demokratie zerstören. Terror will Menschen gegeneinander aufbringen und sie mit Hass und Angst lähmen und gefügig machen. Darum gilt als erstes: Wer den Terror bekämpfen will, der muss vor allem an dem festhalten, was der Terror ausschalten will – und das sind all die Werte, die wir dem Weihnachtsgeschehen, der Geburt Jesu, verdanken. Es sind die Werte, die nunmehr von den Rechtspopulisten in aller Welt ad acta gelegt werden: interkulturelles und interreligiöses Zusammenleben, freiheitliche Demokratie, die Presse- und Meinungsfreiheit, soziale Gerechtigkeit.

Es hat nur wenige Stunden gedauert, da fühlten sich die Rechtspopulisten ermächtigt, ihren Kampf gegen Pluralität unter Missbrauch des Terroranschlags zu befeuern. Die AfD erklärt die in Berlin Ermordeten unisono zu „Merkels Toten“. In unzähligen Hassmails werden diejenigen, die sich vor Ort für Integration bemühen, quasi zu Mittätern erklärt: „Diese Menschen könnten noch leben wenn eine Kaste von idiotischen Gutmenschen an Europa vorbei ihren moralischen Imperativ für sich behalten hätten.“ schrieb mir der angebliche Kulturbeauftragte der AfD Matthias Moosdorf, Cellist des „Leipziger Streichquartetts“, in einer nächtlichen Mail. In schlechtester AfD-Manier erklärt der Chef des Bundes Deutscher Kriminalbeamter (BDK) André Schulz: „Ich bin weit weg von Rechtspopulisten: Es ist aber nicht zu bestreiten, dass wir einen Kontrollverlust hatten und haben, und diesen nicht erst seit der Flüchtlingszuwanderung der letzten Jahre.“ Wie bitte? Kontrollverlust? Dass Menschen zu Straftätern werden, dass Terroristen ihr Zerstörungswerk in Deutschland fortsetzen, hat doch nichts mit „Kontrollverlust“ zu tun. Wenn aber dennoch dieser Begriff eingesetzt wird, dann hat das nur einen Grund: Den Bürger/innen soll suggeriert werden, die staatlichen Organe seien nicht mehr handlungsfähig. Das aber ist das Szenario, das Rechtspopulisten brauchen, um sich dem „Volk“ als Retter anzudienen. Genauso absurd ist es, wenn der derzeitige Vorsitzende der Innenministerkonferenz Klaus Bouillon (CDU) verlauten lässt: „Wir müssen konstatieren, wir sind in einem Kriegszustand, obwohl das einige Leute, die immer nur das Gute sehen, nicht sehen möchten.“ Nein, wir befinden uns nicht im Kriegszustand und stehen auch nicht vor einer Mobilmachung. Wer so spricht, der will offensichtlich ein Klima erzeugen, in dem die Bereitschaft wächst, sich von den Grundwerten unserer Verfassung zu verabschieden.

Statt billig rechtspopulistische Propaganda zu betreiben, sind jetzt drei Dinge nötig: Zum einen gilt es, den Opfern des Anschlags zu gedenken, den Angehörigen Zeit und Raum für die Trauer zu geben und uns selbst am Innehalten zu beteiligen. Zum andern sollten wir Weihnachten so feiern, wie es vor 2000 Jahren gemeint war und von den Engeln angekündigt wurde: Gott die Ehre, der Erde Frieden, den Menschen Gerechtigkeit. Von dieser guten Nachricht ist kein Mensch ausgenommen. Diese Botschaft bleibt wahr – völlig unabhängig davon, was sich in den nächsten Tagen ergibt an Hintergründen dieses und anderer Terroranschläge. Schließlich sollten wir nicht vergessen, dass die Geburt Jesu begleitet war von einem ungeheuren terroristischen Massaker: dem Kindermord in Bethlehem. Mit diesem versuchte Herodes seine Macht zu sichern. Dieser Terror konnte aber nicht verhindern, dass Jesus mit der Botschaft in dieser Welt wirkte, auf die wir heute angewiesen sind: die Gewaltlosigkeit, die Barmherzigkeit, die Ehrfurcht vor dem Leben. Sie den Menschen als Orientierung anzubieten und von ihr keinen Millimeter abzurücken – das ist unsere Aufgabe und Möglichkeit. Nicht umsonst lässt Johann Sebastian Bach die sechste Kantate aus dem Weihnachtsoratorium mit folgenden Worten enden: „Tod, Teufel, Sünd und Hölle sind ganz und gar geschwächt; bei Gott hat seine Stelle das menschliche Geschlecht.“

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