Pünktlich zum Jubiläum des Grundgesetzes plädiert der Ministerpräsident des Freistaates Thüringen, Bodo Ramelow (DIE LINKE), für eine neue Nationalhymne. Der Grund: „Ich singe die dritte Strophe unserer Nationalhymne mit, aber ich kann das Bild der Naziaufmärsche von 1933 bis 1945 nicht ausblenden. … Ich würde mir wünschen, dass wir eine wirklich gemeinsame Nationalhymne hätten.“ Unabhängig von der Tatsache, dass wir derzeit sicher wichtigere Probleme zu lösen haben: Ja, auch ich bin 1965 auf einer Wahlkundgebung der CDU mit Konrad Adenauer und Ludwig Erhard in Düsseldorf als 15-jähriger beim Singen der Nationalhymne bewusst sitzengeblieben und habe mir bei dieser Mutprobe die Schimpfkanonaden älterer Herrschaften anhören müssen, die sich kübelweise über mich ergossen. In meinen jungen Ohren klang da zu viel Nazi-Geist mit. Auch bei den Schulfeiern am Tag der deutschen Einheit, dem 17. Juni, haben wir nicht mitgesungen, weil uns diese Feiern damals unglaubwürdig und heuchlerisch vorkamen. Damals waren noch viel zu viele Alt-Nazis an entscheidenden Stellen tätig, um unbefangen die von den Nazis besudelte Hymne unbefangen mitsingen zu können. Erst später wurde mir bewusst, dass das „Lied der Deutschen“ von Henrich Hoffmann von Fallersleben 1922 durch Reichspräsident Friedrich Ebert zur Hymne gemacht wurde. Die Nazis haben sie beibehalten, allerdings nach der 1. Strophe immer das Horst-Wessel-Lied singen lassen.
Mein Verhältnis zur Nationalhymne änderte sich erst, als Gustav Heinemann (1899-1976) zum Bundespräsidenten (1969-1974) und Willy Brandt (1913-1992) zum Bundeskanzler (1969-1974) gewählt wurden – zwei überzeugte Gegner des Naziregimes. Beide Sozialdemokraten verstanden sich als Patrioten, obwohl ihnen jede Form von Deutschtümelei fernlag. Überzeugt hat mich schließlich die Rede, die Gustav Heinemann am 24. Mai 1974 beim Staatsakt der Bundesrepublik Deutschland zum 25-jährigen Jubiläum des Grundgesetzes im Deutschen Bundestag hielt. Die Rede endete mit folgenden Erwägungen zur Nationalhymne:
Ich schließe mit der Erinnerung daran, dass sich in diesem Jahr zum hundertsten Male der Todestag des Verfassers unserer Nationalhymne jährt. Heinrich Hoffmann von Fallersleben war ein politisch Verfolgter. Er wurde vor 1848 aus mehreren deutschen Bundesstaaten ausgewiesen und als Flüchtling von Land zu Land getrieben. Das Asylrecht in Artikel 16 unseres Grundgesetzes hätte ihm dieses Schicksal ersparen können. Hoffmann von Fallersleben hat manches zu Papier gebracht, in dem er sich als Kind seiner Zeit erweist. Dazu gehören auch Aussagen seines 1841 geschriebenen Gedichtes „Das Lied der Deutschen“. Dessen dritte Strophe aber, die wir bei festlicher Gelegenheit singen, spricht bündig aus, worauf es in der Bundesrepublik Deutschland ankommt: „Einigkeit und Recht und Freiheit für das deutsche Vaterland! Danach lasst uns alle streben Brüderlich mit Herz und Hand!“
In diesen wenigen Worten sind die vier Grundwerte unserer Verfassung genannt: Einigkeit unter uns und, darin eingeschlossen, die Einheit Deutschlands als Auftrag; Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte; freiheitliche demokratische Grundordnung; und als viertes die Brüderlichkeit oder Solidarität. Was das Grundgesetz als Bestimmung aufstellt, spricht das Lied der Deutschen als Bedingung der Gegenwart und als Wunsch für die Zukunft aus: „Einigkeit und Recht und Freiheit sind des Glückes Unterpfand: Blüh‘ im Glanze dieses Glückes, blühe, deutsches Vaterland!“ *
In dieser Interpretation kann ich die Nationalhymne heute aus voller Überzeugung singen – auch wenn sie auf so mancher Hetz- und Hasskundgebung der Rechtsnationalisten von Pegida/AfD von neuem besudelt wird. Doch das darf uns nicht hindern, die Traditionen zu pflegen, die eng verbunden sind mit der Demokratieentwicklung in Deutschland. Darum wollen wir auch am 23. Mai 2019 die National- und Europahymne, Schillers Ode an die Freude, singen – beim großen Geburtstagsfest „Leipzig feiert 70 Jahre Grundgesetz“, zu dem der „Aufruf 2019“ auf den Marktplatz einlädt https://aufruf2019.de/23-mai-2019-leipzig-feiert-70-jahre-grundgesetz/. Schluss und Höhepunkt wird ein Flashmob sein, zum gemeinsamen Singen der National- und Europahymne, beginnend mit dem Satz aus dem Kaiser-Quartett von Joseph Haydn, der der Hymne ihre Melodie gegeben hat.
* Gustav Heinemann, Der gute Staat braucht wachsame Bürger. Ansprache zum Staatsakt im Bundestag am 24.5.1974, in: ders., Unser Grundgesetz ist ein großes Angebot. Rechtspolitische Schriften, hrsg. Von J. Schmude, München 1989, S. 25
By Konrad Schwarz 10. Mai 2019 - 12:20
Ich halte „Das Lied der Deutschen“ als Nationalhymne für ambivalent und würde mir wünschen, wir hätten eine bessere. Das liegt für mich aber weniger daran, dass die Nazis das Lied – wie vieles andere – missbraucht haben. Das Grundproblem liegt für mich vielmehr in der selektiven Verwendung der dritten Strophe des Liedes (die wiederum historische Ursachen hat). Ich kenne kein anderes dichterisches Werk von ähnlicher Prominenz, bei dem man versucht, einen Teil herauszuschneiden und den Rest auszublenden. Dabei ist ja die dritte Strophe das Finale, das auf dem Fundament der vorhergehenden Strophen beruht. Für mich ist deshalb die dritte Strophe nicht zu haben, ohne dass man die ersten beiden mit bedenkt. Wenn man diese Strophen aber nicht nur im historischen Kontext ihrer Entstehung betrachtet (wo sie ihren guten Platz hatten), sondern in der Gegenwart liest, sind sie sehr missverständlich oder sogar anstößig: angefangen bei dem „Deutschland über alles“, über die beschriebenen Grenzen („Von der Maas bis an die Memel, Von der Etsch bis an den Belt“) bis hin zum androzentrischen Frauenbild, das in der zweiten Strophe Pate gestanden hat (Frauen neben Treue, Wein und Gesang; das anschließende „uns“ bezieht sich deshalb vor allem auf die deutschen Männer). Für mich sind das Aspekte, die man Hoffmann von Fallersleben kaum zum Vorwurf machen kann, weil er in einer anderen Zeit lebte. Aber eine Nationalhymne sollte auch in der Gegenwart verständlich sein und nicht zu Missverständnissen führen. Es dürfte zwar schwer werden, dass wir eine andere, bessere Hymne finden und uns darauf einigen. Aber die dritte Strophe dieses Liedes als Nationalhymne ist für mich bestenfalls eine Notlösung.
By Jost F. Noller 11. Mai 2019 - 18:47
Die Antwort von Herrn Konrad Schwarz ist meines Ermessens nicht schlüssig. Wir haben in der Bundesrepublik bewusst die ersten beiden Strophen gestrichen. Sie sind damit nicht mehr Teil der Hymne. Die dritte Strophe indessen ist absolut zeitgemäß und bezieht sich auf unsere demokratischen Grundwerte. In meinem Wohnort Schopfheim in Südbaden hat ein Sozialdemokrat die Fahne der Ortsgruppe des Reichsbanners Schwarz-Rot-Gold aus dem Jahre 1925 über die Nazizeit hinweg gerettet. Das Reichsbanner war bekanntlich eine Kampforganisation in der Weimarer Republik zur Verteidigung der Republik wie der Demokratie gegen SA und Rotfront. Und auf der Rückseite dieser schwarz-rot-goldenen Reichsbannerfahne steht neben der Jahreszahl 1925 groß „Einigkeit und Recht und Freiheit“. Also schon damals bezogen sich die Verteidiger der Demokratie in Deutschland auf den Text der dritten Strophe des Deutschlandlieds. Es gibt deshalb keinen Grund heute davon abzuweichen.
By Rolf Rennert 10. Mai 2019 - 10:11
Das ist ein persönliches „Problem“ von Herrn Ramelow, ich bin 16 Jahre älter als er, und mir kommen alle möglichen Bilder in den Sinn, aber keine Nazihorden. Meine älteste Erinnerung ist der Bombenangriff auf Leipzig im Dezember 1943. Da verloren wir unsere Wohnung in der Thomasisus-Strasse.Mit der Nationalhymne kam ich erst 1955 in „Berührung“, als meine Eltern mit mir, Leipzig gen Westen verließen. Da war vom „Nazi-Ungeist“ unter den Leuten, noch ausreichend vorhanden. Aber das „assoziierte“ ich nicht mit der Nationalhymne.
By Klaus Plätzsch 10. Mai 2019 - 9:36
Herr Ramelow befürchtet mit Recht, in Kürze seinen Posten als MP in Thüringen zu verlieren. Deshalb versucht er, sich ins Gespräch zu bringen. Wen juckt’s?
By Axel Denecke 9. Mai 2019 - 23:01
Lieber Herr Wolff, ich lese Ihre frechen und pointierte Kommentare immer mit großer Lust und meistens mit Zustimmung. Diesmal kann ich ohne jede Einschränkung zustimmen. Herr Ramelow hat sachlich, aber nicht emotional recht. Singen wir die 3. Strophe trotz Mißbrauch von anderen mutig weiter. Es wird sich zeigen, wer am Ende die größeren Batallione hat.
Axel Denecke